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Recht

Apotheker als Notretter

Unerlaubte Arzneimittelabgabe oder unterlassene Hilfeleistung? Eine juristische Zwickmühle

Was darf und muss der Apotheker im Notfall unternehmen? Diese Frage wird für die Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel ohne ärztliche Verschreibung jedenfalls von den Gerichten überwiegend restriktiv beantwortet. Die Probleme in der (Not-)Versorgungsrealität werden auf diese Weise allerdings nicht gelöst. | Von Dr. Dr. Dennis A. Effertz 

Geht es um die Notversorgung von Patienten, denkt man schnell an den Apothekennotdienst oder an die Sonderregelungen für dringende Arzneimittelabgaben gemäß § 17 des Rahmenvertrages über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V). Gedanken über „echte“ Notfälle macht man sich oftmals lediglich im Rahmen von Erste-Hilfe-Kursen. Ein wenig anders verhält es sich zumeist bei Pharmazeuten im Praktikum. Diese werden in Vorbereitung auf die „Rechtsprüfung“ des Dritten Staatsexamens regelmäßig auf das Spannungsfeld zwischen unerlaubter Arzneimittelabgabe ohne Verschreibung/Ausübung der Heilkunde und der Pflicht zur Nothilfe hingewiesen – teils inklusive kurioser Lösungsvorschläge („Ich würde das Asthmaspray auf den Tresen stellen und wegsehen.“). Wenig hilfreich bis gefährlich scheinen solche gut gemeinten Ratschläge.

Grundsatz: Keine Abgabe von Rx-Arzneimitteln ohne ordnungsgemäße Verschreibung

Das Grundproblem in diesem Themenkomplex ist schnell umrissen. Gemäß § 1 Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) i. V. m. § 48 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) ist grundsätzlich die Vorlage einer ordnungsgemäßen – die Vorgaben des § 2 Abs. 1 AMVV einhaltenden – Verschreibung erforderlich. Apotheker sehen sich allerdings seit jeher patientenseitigen Forderungen nach der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel ausgesetzt, obwohl es an der diese legitimierenden Verschreibung fehlt. Abhängig von der Reaktion hierauf drohen wettbewerbsrechtliche Auseinandersetzungen bei Beanstandungen durch einen Konkurrenten oder Wettbewerbsverband oder gar strafrechtliche Ermittlungen (§ 295 Nr. 4, § 96 Ziff. 13a AMG, § 87 Abs. 1 Ziff. 4 i. V. m. § 42 TAMG). Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs blieb in diesem Zusammenhang seit jeher restriktiv; ebenso besteht die Gefahr einer berufsgerichtlichen Ahndung. Darüber hinaus droht der Vorwurf der unerlaubten Ausübung der Heilkunde (vgl. § 5 Heilpraktikergesetz), falls ein Arzneimittel basierend auf einer apothekerlichen (Not-)Diagnose eingesetzt würde.

Unterlassene Hilfeleistung?

Dies ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Eine ausnahmslose Ablehnung einer Arzneimittelabgabe ohne Verschreibung – oder deren Anwendung – wäre vor dem Hintergrund von § 323c Strafgesetzbuch (StGB) („unterlassene Hilfeleistung“) ebenfalls problematisch. Denn eine besondere Sachkunde und „ein ganzes Arsenal“ an potenziell lebensrettenden Heilmitteln stünden dem mit einem tatsächlichen Notfall konfrontierten Apotheker zweifelsfrei zur Verfügung. Ebendies dürfte dem approbierten Pharmazeuten im Schadensfall ex post für diejenigen Situationen zur Last gelegt werden, in denen er sich gegen über die Erste Hilfe hinausgehende (Notfall-)Maßnahmen entschieden hätte. Dies gilt umso mehr im Rahmen der Schutzimpfungen in öffentlichen Apotheken, bei denen – teils konkludent, teils explizit – davon ausgegangen wird, dass Apotheker Epinephrin im Notfall verabreichen dürften. Dass § 323c StGB dann als verwirklicht gilt, wenn eine zur Hilfeleistung verpflichtete Person hinter dem zurückbleibt, was ihr individuell möglich und zumutbar ist – die Anforderungen also je nach Qualifikation, Erfahrung, Persönlichkeit variieren –, verdeutlicht das sich hieraus ergebende Problem. Da zumindest impfende Apotheker nun auch nachweislich nicht länger die Indikationsstellung und Anwendung entsprechender Notfalltherapeutika nur theoretisch beherrschen, haben sich Fähigkeiten und Möglichkeiten des Hilfspflichtigen verbessert [4] und damit auch das Maß der rechtlich relevanten, sogenannten bestmöglichen Hilfe [5].

Aufgrund der verwaltungs- bzw. strafrechtlichen Dominanz des Themas wird ein zivilrechtlicher Schadenersatzanspruch oft übersehen (vgl. § 823 BGB). Es ist daher Zeit für einen Orientierungsversuch: Wann ist der Apotheker als Heilberufler gegebenenfalls berechtigt oder gar verpflichtet, Arzneimittel ohne Verschreibung abzugeben oder bei in Not geratenen Patienten anzuwenden?

(Naiver) Patientenwunsch – ein „No-Go“

Oft ist der „naive“ Patientenwunsch einer Informationsasymmetrie zum Vertriebsstatus des konkreten Arzneimittels geschuldet, insbesondere wenn die Verschreibungspflicht bei wirkstoffidentischen Präparaten je nach Wirkstärke, Indikation oder Packungsgröße variiert. Allerdings hat man es in der Praxis auch mit Patienten zu tun, die den Gang zum (Not-)Arzt für die „unvorhersehbar“ ausgegangene Dauermedikation lediglich als lästige Formalie ansehen, welche jene auf mitleiderregende bis unfreundliche Art und Weise umgehen wollen.

Auch wenn es gerade bei Stammkunden schwerfällt, ist der Patient in diesen Fällen entsprechend aufzuklären und an den Arzt bzw. die Notfallambulanz zu verweisen; gegebenenfalls kann im Falle eines Dauerbehandlungsverhältnisses eine fernmündliche Verschreibung eingeholt werden (vgl. § 4 Abs. 1 AMVV).

Solch eine – die Vorablieferung legitimierende – Verschreibung kann via Telefon, Fax, Mail usw. durch den tatsächlich behandelnden Arzt des Patienten erfolgen, nicht aber durch einen beliebigen Arzt. Für Stammkunden kann daher ein Rezeptmanagement interessant sein, um solche Problemkonstellationen insbesondere an Feiertagen und Wochenenden im Vorfeld zu vermeiden. Denn hier bliebe bei der derzeitigen Rechtslage nur der Verweis an den ärztlichen Notdienst.

Arzneimittelabgabe bei Unglücksfällen – Einzelfallentscheidung

Abzugrenzen von diesen „banalen“ Problemen der Versorgungsrealität sind die tatsächlichen Unglücksfälle. Hierbei handelt es sich um plötzliche äußere Ereignisse, die eine erhebliche Gefahr für Personen mit sich bringen; auch Krankheiten können bei akuter oder bedrohlicher Verschlimmerung hierunter fallen. Allein auf die Angabe des Kunden/Patienten, dass ein Unglücksfall/Notfall vorliegt oder drohe, dürfen sich Apotheker allerdings nicht verlassen.

Notwendig ist vielmehr eine akute gesundheitliche Gefährdung, bei der jede Verzögerung (z. B. Wegzeit zur Ambulanz) zu einer Verschlechterung oder erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigung führen würde. Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof bei der Frage, wann und ob Arzneimittel ohne Rezept ausnahmsweise abgegeben werden können, aufgestellt. Insofern haben Apotheker mithilfe ihres Fachwissens sorgsam abzuwägen, wann eine Verweisung an ein Krankenhaus, den ärztlichen Notdienst oder das Rufen des Rettungsdienstes ohne Verschlechterung des Gesundheitszustandes möglich ist. Erst, wenn dies der Fall wäre, kommt eine Abgabe von geeigneten Arzneimitteln ohne Verschreibung in Betracht. Die Abgabe von Kleinstmengen (Teilabgabe), die zur Abwendung des Notfalls tatsächlich erforderlich sind, dürfte angezeigt sein, um einem möglichen Vorwurf einer wettbewerblichen Motivation im Vorhinein abwenden zu können. Ebenso sollte parallel (ggf. durch Dritte) der Notarzt gerufen werden, spätestens aber im unmittelbaren Anschluss. Anderenfalls dürfte die Eigenschaft des Vorfalls als Notsituation retrospektiv zumindest im Zweifel stehen. Letztlich würde es in einem ggf. folgenden Ermittlungsverfahren darum gehen, möglichst objektivierbare Nachweise zu erbringen, die für die eigene Einschätzung sprechen. Denn den rechtlichen Rettungsanker bildet der sogenannte rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB).

Applikation von Arzneimitteln – Einzelfallentscheidung unter besonderer Vorsicht

Je eindeutiger ein Fall für § 34 StGB in Betracht kommt, desto eher stellt sich die Frage, ob eine Arzneimittelabgabe überhaupt zur Abwendung eines Notfalls geeignet wäre. Im prominenten Beispiel des anaphylaktischen Schocks etwa dürfte der Patient nicht in der Lage sein, einen an diesen abgegebenen Adrenalin-Pen einzusetzen. Aber darf ein Apotheker Arzneimittel im Notfall am Patienten anwenden?

Zunächst einmal stellt die Applikation eines Arzneimittels keine Abgabe im arzneimittelrechtlichen Sinne dar. Auf arzneimittelgestützte Notfallmaßnahmen kann diese Erkenntnis jedoch nicht unkritisch übernommen werden. Bedenkt man, dass nicht nur Arzneimittel in flüssigen Darreichungsformen verabreicht werden können, wird deutlich, dass es in Bezug auf die Auswahl der im Notfall infrage kommenden Heilmittel kaum eine (arzneimittelrechtliche) Grenze gäbe. Doch stellt das Verabreichen von Arzneimitteln grund­sätzlich eine heilkundliche bzw. behandlungsrechtliche Tätigkeit dar, welche dem Apotheker lediglich im gesetzlich zugelassenen Umfang offensteht (z. B. Grippe-/Corona­impfungen).

Wie „großzügig“ die Gerichte im Notfallkontext wären, ist unklar. Auch ist die Fehlerhaftigkeit einer gewählten Maßnahme ungleich größer. Verlangt ein Patient in Not ein bestimmtes Arzneimittel, erfordert dies keine (Verdachts-)Diagnostik des Apothekers. Bei einem nicht mehr ansprechbaren und womöglich unbekannten Patienten sieht dies anders aus.

Folglich hat auch der Arzneimittel anwendende Apotheker nicht nur ein ähnliches Thema wie bei der Abgabe von Tabletten zur Eigeneinnahme durch den Patienten, sondern ist zudem mit einer größeren Unsicherheit konfrontiert, ob er objektiv „richtig“ agieren kann. Oben genannte Kriterien zur Frage, wann ein Notfall vorliegt, gelten hier insofern gleichermaßen, und hiergegen gerichtete Maßnahmen müssen im Einklang mit dem individuellen Wissen und den Fähigkeiten stehen. Bei einem klassischen Notfall wie einer anaphylaktischen Reaktion wäre dies beim impfenden Apotheker gegeben und die Anwendung unter Arzneimittelabgabe-/Anwendungsgesichtspunkten jedenfalls unproblematisch. Vielmehr wäre dieser hierzu nicht nur berechtigt, sondern über § 323c StGB auch verpflichtet. Je weniger allerdings eine (Verdachts-)Diagnostik, aus der Maßnahmen abgeleitet werden könnten, erwartbar ist, desto eher ist Vorsicht geboten. Selbstüberschätzung ist weder verlangt noch angebracht.

Fazit

Der primäre (Not-)Versorgungsauftrag liegt insbesondere bei Notfallambulanzen und dem Rettungswesen. In Not und Unglücksfällen sind Apotheker allerdings berechtigt und auch verpflichtet, ihre besonderen (individuellen) Kompetenzen einzusetzen. An sie werden höhere Anforderungen gestellt als an den „Normalbürger“. Zum einen verfügt der Apotheker über geeignete Lebensretter (Arzneimittel), und zum anderen weiß er, wie er diese anwenden kann.

Gleichwohl bedürfen Fälle im Spannungsfeld zwischen unterlassener Hilfeleistung und unerlaubter Arzneimittelgabe bzw. Applikation einer Würdigung des Einzelfalls. Diese verbleibende Rechtsunsicherheit kann man Apothekern leider nicht nehmen. Am Ende des Tages ist dieses Restrisiko nach Meinung des Autors auch zweitrangig. Quälender als ein ggf. zu überstehendes Ermittlungsverfahren dürfte es sein, das Gefühl zu haben, dass man einen Schaden für Leib und Leben eines Menschen hätte abwenden können. |

Hinweis: Die diesem Beitrag zugrunde liegende Original­arbeit wurde zusammen mit Rechtsanwalt Dr. Timo Kieser verfasst und ist 2022 in der Zeitschrift Arzneimittel & Recht erschienen (siehe Literaturhinweis 12).

Literatur

[1] BGH, Urt. v. 08.01.2015, Az. I ZR 123/13.

[2] ABDA. Curriculum „Durchführung von Schutzimpfungen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 durch Apothekerinnen und Apotheker“ Version 1.0 vom 6. Januar 2022.

[3] ABDA. Kommentar zur Leitlinie der Bundesapothekerkammer zur Qualitätssicherung Durchführung von COVID-19-Schutzimpfungen in öffentlichen Apotheken Stand: 25.01.2022.

[4] BGH, Urt. v. 26.10.1982, Az. 1 StR 413/82.

[5] BGH, Urt. v. 22.3.1966 – 1 StR 567/65 -, BGHSt 21, 50, 54.

[6] BGH, Urt. v. 10.03.1954 – GSSt 4/53.  

[7] BGH, Urt. 03.04.1985, Az.: 2 StR 63/85

[8] Brune S, Schürmann P, Kieser T. Notdienstretter. Kapitel 10/28/32. 1. Auflage Stuttgart 2021.

[9] BVerfG, Urt. v. 29.10.1969, PZ 1970, 576.

[10] Cyran W, Rotta C. Kommentar zur Apothekenbetriebsordnung. § 17, 5. Auflage inkl. 4. Akt.lgf. Stuttgart 2022.

[11] Effertz DA. Kurierverbot – Das große Missverständnis, Stuttgart 2023.

[12] Effertz DA, Kieser T. (Neue) Notfallkompetenzen des Apothekers, A&R 2022, 204-209.

[13] Erb J, Schäfer V (Hrsg.). Münchner Kommentar StGB. § 323c. 4. Auflage München 2020.

[14] Lackner K, Kühl K, Heger M. StGB: Kommentar. § 323c. 29. Auflage München 2018.

[15] Lennecke K. „Das bekomme ich doch regelmäßig!“. DAZ 2016; 56.

[16] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.11.1994, Az. 5 Ss 330/94, NJW, 1995, 799

[17] OLG Hamm, 06.09.1974, Az. 3 Ss 396/74.

[18] OLG Karlsruhe, Beschl. v. 10.08.1979, Az. 3 Ss 90/79.

[19] OLG Stuttgart, Urt. v. 06.07.1964, Az. 3 Ss 124/64.

[20] RG, Urt. v. 19.12.1940, Az. 2 D 445/40.

Autor

Dr. rer. medic. Dr. iur. Dennis A. Effertz ist Apotheker, Medizinwissenschaftler und Jurist. Er hat bereits in der Forschung, in Apotheken, für die Pharmaindustrie sowie aufseiten der Krankenkassen gearbeitet und ist inzwischen als selbstständiger Berater tätig.

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