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Arzneimittel und Therapie
Warum Crizanlizumab gehen muss
Therapeutikum für Sichelzellanämie wirkt nicht besser als Placebo
Die autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung Sichelzellanämie manifestiert sich meist ab dem sechsten Lebensmonat. In Deutschland sind etwa 5000 Patienten betroffen. Aufgrund der assoziierten Vasookklusionen bzw. Mikroinfarzierungen leiden die Betroffenen immer wieder unter teilweise über Wochen anhaltenden Schmerzen. Bereits in den ersten Lebensjahren sind zudem fortschreitende Organschädigungen feststellbar. Beispielsweise kann aufgrund akuter venöser Obstruktionen der Milz eine erhöhte Infektneigung bestehen. Die Verlegung retinaler Gefäße führt mitunter zu Hämorrhagien und proliferativen Retinopathien. Des Weiteren ist bei Patienten mit Sichelzellanämie mit Verhaltensänderungen aufgrund von Schädigungen des Zentralnervensystems, mit Nierenpapillen-Nekrosen bis hin zum Nierenversagen, Ischämien von Knochen und Gelenken, schmerzhaften Infarkten in den Fingern, Priapismus mit potenziell irreversibler Impotenz, chronischen Ulzerationen der Unterschenkel und mit weiteren Symptomen wie akuten Thoraxschmerzen, Tachypnoe, Fieber und Husten zu rechnen. Schon im Kindesalter besteht die Gefahr schwerer kardiovaskulärer Störungen mit Hypertonie, Cor pulmonale bis hin zu Schlaganfällen. Im Fall von akuten vasookklusiven Krisen erfolgt normalerweise die Gabe von Analgetika, Antibiotika und Flüssigkeit. Ebenso kommen Erythrozyten-Transfusionen und -Apheresen sowie symptomorientierte chirurgische Maßnahmen wie z. B. eine Splenektomie infrage. Schweren Lungenreaktionen kann durch die Applikation von Hydroxyharnstoff begegnet werden. Nur in seltenen Fällen ist es möglich, einen HLA-identischen Familienspender für eine allogene Knochenmarkstransplantation zu finden. Insgesamt besteht somit ein dringender therapeutischer Bedarf an kausalen Therapieoptionen für die sehr quälende und auch mit einer erhöhten Mortalität verbundene Erkrankung.
P-Selektin als neues Target
Ende 2020 ist mit dem Präparat Adakveo® der Firma Novartis erstmals ein Therapeutikum für Sichelzellanämie-Patienten zugelassen worden, das unmittelbar in die Pathogenese der Erkrankungs-assoziierten vasookklusiven Krisen eingreift. Bei den Betroffenen wird das auf der Oberfläche von aktivierten Endothelzellen und Thrombozyten lokalisierte und normalerweise für die Hämostase mitverantwortliche Zell-Adhäsionsmolekül P-Selektin überexprimiert. Somit kommt es immer wieder zu einem multizellulären Zusammenhaften von Endothelzellen, Thrombozyten, Erythrozyten und Leukozyten, was, wie bereits beschrieben, in praktisch allen Organen des Körpers zu Mikroinfarkten und damit verbundenen Schädigungen bis hin zu Nekrosen führt. Der Wirkstoff Crizanlizumab mit völlig innovativem Wirkmechanismus ist ein monoklonaler, humanisierter, rekombinanter IgG2-kappa-Antikörper, der selektiv gegen P-Selektin gerichtet ist und dessen Interaktion mit den zugehörigen Liganden unterbindet. Selbst bereits vorliegende P-Selektin-Liganden-Komplexe können durch Anwesenheit von Crizanlizumab wieder dissoziieren. Auf diese Weise werden die Interaktionen zwischen Endothelzellen, Thrombozyten, Erythrozyten und Leukozyten blockiert, was zur Verbesserung der Vasookklusion führen soll. Die empfohlene Dosierung von Crizanlizumab betrug 5 mg/kg. Die intravenöse Applikation erfolgte zunächst dreimal im Abstand von zwei Wochen und danach alle vier Wochen. Die Substanz konnte als Zusatztherapeutikum zu Hydroxycarbamid gegeben werden oder als Monotherapeutikum bei Patienten, bei denen die Anwendung von Hydroxycarbamid nicht geeignet oder unzureichend ist.
Daten der SUSTAIN-Studie zunächst ermutigend
Aufgrund der positiven Resultate der für die bedingte Zulassung relevanten Phase-II-Studie SUSTAIN mit 198 Teilnehmern war man zunächst von einem bedeutenden therapeutischen Fortschritt für die Sichelzellanämie-Patienten ausgegangen. Die Teilnehmer erhielten über ein Jahr hinweg alle zwei Wochen 2,5 bzw. 5 mg/kg Crizanlizumab oder eine Placeboinfusion. In der Verumgruppe mit der therapierelevanten höheren Dosierung kam es im Median zu 1,63 vasookklusiven Krisen pro Jahr. Der entsprechende Wert für die Placebogruppe lag bei 2,98 Krisen (p = 0,01), entsprechend einer 45,3%igen Risikoreduktion. Die mediane Zeit bis zum Eintreten der ersten Krise war unter 5 mg/kg Crizanlizumab mit 4,07 vs. 1,38 Monaten signifikant länger als unter Placebo (p = 0,001). Die jährliche Rate an Tagen im Krankenhaus lag bei Einsatz des Antikörpers median bei 4,00 im Vergleich zu 6,87 im Placeboarm und war somit zwar um 41,8%, aber nicht signifikant, geringer (p = 0,45). In den Verumgruppen kam es mindestens doppelt so häufig zu Arthralgien, Diarrhö, Pruritus, Erbrechen und Brustschmerzen als nach Placebogabe.
STAND-Studie führt zur Ernüchterung
Auch im Rahmen der Phase-III-Studie STAND mit 252 Teilnehmern zum Auswertungszeitpunkt wurden zwei Crizanlizumab-Dosierungen mit einer Placebogabe verglichen. Im Verumarm mit der therapierelevanten Dosierung von 5 mg/kg lag die jährliche Rate vasookklusiver Krisen, die zu einem Arztbesuch führten, bei 2,49. Der entsprechende Wert im Placeboarm betrug allerdings 2,30, sodass keine statistisch signifikante Überlegenheit von Crizanlizumab gezeigt werden konnte. Die mittels negativer binomialer Regression geschätzten Jahresraten für vasookklusive Krisen, die zu einem Arztbesuch führten oder auch zu Hause behandelt werden konnten, wurden mit 4,70 unter Crizanlizumab-Therapie und 3,87 unter Placebogabe ermittelt. Auch bei diesem Parameter wurde damit im Placeboarm ein sogar geringfügig besserer Wert erzielt. Obwohl im Vergleich zur SUSTAIN-Studie keine neuen Sicherheitsbedenken festgestellt wurden, war die Rate an schweren und schwerwiegenden behandlungsbedingten unerwünschten Ereignissen nach der Anwendung von Crizanlizumab höher als unter Placebo. Insgesamt gelten damit die vielversprechenden Resultate der Phase-II-Untersuchung SUSTAIN als widerlegt.
Aufgrund der Erkenntnisse aus der STAND-Studie hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) Ende Mai 2023 den Widerruf der bedingten Zulassung für den monoklonalen Antikörper Crizanlizumab (Adakveo®) empfohlen. Am 15. Juni 2023 erschien ein aktualisierter Rote-Hand-Brief, in dem schließlich der Widerruf der EU-Zulassung bekannt gegeben wurde. Demnach sollen in der EU keine neuen Patienten mehr mit Adakveo® therapiert werden, und Patienten, die bereits Adakveo® erhalten, sollen von ihrem behandelnden Arzt informiert und zu Alternativen beraten werden.
Perspektive für die Patienten
Patienten mit Sichelzellanämie, bei denen keine Stammzelltransplantation durchgeführt werden kann, müssen sich somit vorerst mit symptomatischen Behandlungsansätzen begnügen. Allerdings besteht Hoffnung, dass in den nächsten Jahren eine kausale Gentherapie zur Verfügung stehen könnte. Aus allerersten klinischen Untersuchungen liegen vielversprechende Resultate vor. Mithilfe einer CRISPR/Cas9-Gentherapie soll bei den Patienten die normalerweise nach der Geburt unterdrückte Bildung von fetalem Hämoglobin reaktiviert werden. Hierzu werden den Patienten Blutstammzellen entnommen, ex vivo mit der Genschere modifiziert und wieder replantiert. Bis eine Zulassung ins Auge gefasst werden kann, ist es allerdings noch ein weiter Weg. Möglicherweise kann diese Aussicht jedoch die Enttäuschung über die Crizanlizumab-Therapie etwas abmildern. |
Literatur
[1] Fachinformation zu Adakveo®, Stand September 2022
[2] Ataga KI, Kutlar A, Kanter J et al. Crizanlizumab for the prevention of pain crises in sickle cell disease. N Engl J Med 2017;376(5):429-439, doi: 10.1056/NEJMoa1611770
[3] EPAR summary for the public. Adakveo® Crizanlizumab. Informationen der Europäischen Arzneimittel-Agentur, EMA/446082/2020
[4] Abboud MR, Howard J, Cançado R et al. Crizanlizumab Versus Placebo, with or without Hydroxyurea/Hydroxycarbamide, in Adolescent and Adult Patients with Sickle Cell Disease and Vaso-Occlusive Crises: A Randomized, Double-Blind, Phase III Study (STAND). Blood 2019;134(Supplement_1):998, doi: 10.1182/blood-2019-125775
[5] Adakveo® (Crizanlizumab): Phase-III-Studie (CSEG101A2301) zeigt keine Überlegenheit für Crizanlizumab gegenüber Placebo. Roter-Hand-Brief, 14. Februar 2023
[6] EMA recommends revocation of authorisation for sickle cell disease medicine Adakveo. Nachricht der Europäischen Arzneimittel-Agentur, 26. Mai 2023
[7] CRISPR/Cas9-Gentherapie: Sehr gute Behandlungsergebnisse mit Sichelzellkrankheit und Beta-Thalassämie. Pressemeldung des Universitätsklinikums Regensburg, 4. November 2021
[8] ADAKVEO® (Crizanlizumab): Widerruf der EU-Zulassung aufgrund fehlender therapeutischer Wirksamkeit. Roter-Hand-Brief, 15. Juni 2023
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