Sinneszellen

Mutationen im Kaliumkanal

Berlin - 18.12.2011, 10:00 Uhr


Menschen mit einer bestimmten Form der erblichen Schwerhörigkeit nehmen Vibrationen in ihren Fingern empfindlicher wahr als andere Menschen. Das haben jetzt Berliner Wissenschaftler herausgefunden.

Die Angehörigen der spanischen und niederländischen Familien staunten nicht schlecht, als die Berliner Forscher mit ihren Apparaturen auftauchten. Viele von ihnen leiden an der erblich bedingten Schwerhörigkeit vom Typ DFNA2, doch die Wissenschaftler interessierten sich weniger für ihr Hörvermögen als für ihren Tastsinn. Bei den Schwerhörigen ist durch eine Mutation die Funktion mancher Haarzellen im Ohr gestört. Diese Mutation, so vermuteten die Forscher, könnte sich auch auf den Tastsinn auswirken.

In unserem Ohr schwingen feinste Härchen im Rhythmus der Schallwellen. Die Schwingungen bewirken einen Einstrom positiv geladener Kaliumionen in die Haarzellen. Dieser elektrische Strom erzeugt ein Nervensignal, das zum Gehirn weitergeleitet wird – wir hören. Die Kaliumionen fließen durch einen Kanal in der Zellmembran wieder aus den Haarzellen hinaus. Und eben dieser Kaliumkanal, ein Eiweißmolekül namens KCNQ4, ist durch die Mutation bei den Schwerhörigen zerstört. Die Sinneszellen sterben nach und nach durch Überlastung ab. Die Forscher haben aber herausgefunden, dass KCNQ4 nicht nur im Ohr vorkommt, sondern auch in bestimmten Sinneszellen der Haut. Deshalb untersuchten sie, ob sich die Mutation auch auf den Tastsinn auswirken könnte.

Zunächst untersuchten sie eine als Taubheitsmodell hergestellte Mauslinie, die exakt die gleiche Mutation im Kaliumkanal trägt wie ein Patient mit dieser Form der Taubheit. Die Tastrezeptoren in der Haut, die den KCNQ4-Kaliumkanal besitzen, sterben durch den defekten Kanal nicht ab, wie im Ohr, zeigen aber eine veränderte elektrische Antwort auf mechanische Reize in der mutierten Maus. Sie reagieren viel empfindlicher auf Vibrationsreize mit niedrigen Frequenzen. Das Auslassventil für Kaliumionen scheint hier normalerweise als eine Art Filter zu funktionieren, der die Erregbarkeit der Zellen dämpft. Durch die Dämpfung nehmen wir mit diesen Sinneszellen an dieser Stelle nur schnellere Vibrationen wahr, unser Fühlen wird gleichsam auf höhere Frequenzen „gestimmt“.

Die untersuchten tauben Patienten mit Mutationen in dem Kaliumkanal zeigten genau den gleichen Effekt. Sie konnten auch sehr langsame Vibrationen empfinden, die ihre gesunden Geschwister noch gar nicht wahrnehmen. Durch eine Mutation im Dämpfer ist das Fein-Tuning des Tastsinns verändert. Der Tastsinn ist ohnehin sehr unterschiedlich ausgeprägt – manche Menschen sind viel berührungsempfindlicher als andere. Die DFNA2-Patienten sind eine Art Super-Fühler in Sachen Vibration. Die Haut hat mehrere unterschiedliche Typen von Mechanorezeptoren, die auf verschiedene Reizqualitäten ansprechen, insbesondere auch auf verschiedene Frequenzbereiche. Das Zusammenspiel verschiedener Rezeptorklassen ist für den Tastsinn wichtig. Obwohl die untersuchten Rezeptoren durch Verlust des Kaliumkanals insgesamt empfindlicher werden, überwiegt möglicherweise der Nachteil der falschen „Stimmung“ auf andere Frequenzen. Mit KCNQ4 wurde zum ersten Mal ein menschliches Gen identifiziert, das die Eigenschaften des Tastsinns verändert.

Literatur: Heidenreich, M., et al.: Nature Neuroscience 2011, Online-Vorabpublikation: http://dx.doi.org/10.1038/nn.2985.


Dr. Bettina Hellwig


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