Neurologie des Hungers

Cannabis macht hungrig – und trickst sogar eine Appetitbremse aus

Stuttgart - 20.02.2015, 08:40 Uhr


Cannabis ist nicht nur eine bekannte Rauschdroge, sondern auch eine der am besten erforschten Arzneidrogen. Die Pharmakologie seiner Wirkstoffe gibt noch immer Rätsel auf. Jetzt fanden Forscher in den USA ein Paradoxon, das sie elegant auflösten.

Der Hauptwirkstoff der Hanfpflanze (Cannabis sativa) ist das Tetrahydrocannabinol (THC). Es ist eines von mehreren Cannabinoiden, die zum Beispiel beim Rauchen von Cannabis in den Blutkreislauf aufgenommen werden und danach an die Cannabinoidrezeptoren (CB) binden können, die sich auf den Immunzellen und Nervenzellen eines jeden Menschen befinden. Die zahlreichen CB-Subtypen und die Wirkungen, die ihre natürlichen und synthetischen Liganden hervorrufen, sind recht gut erforscht. Dass das umfangreiche therapeutische Potenzial, das sich hier bietet, erst zu einem kleinen Teil genutzt wird, liegt hauptsächlich daran, dass Cannabis leider auch ein sehr großes Missbrauchspotenzial besitzt – unter den Bezeichnungen Haschisch und Marihuana ist es neben Opium und Cocain eine der drei klassischen illegalen Rauschdrogen mit globaler Verbreitung.

Appetithemmer zur Behandlung von Adipositas

Wirkstoffmoleküle, die sich im Gehirn an den Rezeptor CB1 von Nervenzellen binden, wirken appetitanregend. Diese Erkenntnis hatte man genutzt, indem man einen CB1-Blocker als Appetithemmer zur Behandlung von Patienten mit Adipositas entwickelt hat (Rimonabant; wegen Nebenwirkungen ruht die Zulassung). Zudem hat man beobachtet, dass Krebspatienten, die Cannabis rauchten oder das THC-Präparat Dronabinol einnahmen, ihre Gewichtsabnahme stoppen und das Zytostatika-induzierte Erbrechen überwinden konnten. Allerdings scheint Cannabis bei diesen Indikationen dem Metoclopramid und modernen Antiemetika unterlegen zu sein.

Eine aktuelle Studie, die in der Zeitschrift „Nature“ publiziert wurde, wollte der Genese des Hunger- bzw. Sättigungsgefühls weiter auf die Spur kommen und hat die Geschehnisse am CB1 jeweils im Zusammenhang mit den POMC-Neuronen im Hypothalamus beobachtet, die das Proopiomelanocortin (POMC) synthetisieren und bei Stimulation (z.B. durch Nicotin) dessen Metaboliten Melanocortin freisetzen. Melanocortin erzeugt ein starkes Sättigungsgefühl. Fütterungsversuche an Mäusen sollten die Hypothese bestätigen, dass die Mäuse nach einer Aktivierung von CB1 zu fressen beginnen und dass bei ihnen nach einer Mahlzeit eine vermehrte Sekretion von Melanocortin folgt, sodass sie aufhören zu fressen.

Mäuse-Appetit nimmt im Versuch zu

Doch der zweite Teil der Rechnung ging nicht auf: Statt Melanocortin sezernierten die POMC-Neuronen der Mäuse vermehrt das körpereigene Opioid β-Endorphin, das ebenfalls ein Abbauprodukt des POMC ist. β-Endorphin ist ein Glückshormon, das die Stimmung hebt. Insofern kann es zwar auch den Hunger dämpfen, aber im geschilderten Versuch nahm der Appetit der Mäuse sogar noch zu. Erst die Gabe des Opioidrezeptor-Antagonisten Naloxon bremste ihren Appetit wieder. Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Aktivierung eines einzelnen Gens (in diesem Fall POMC) zur Sekretion verschiedener Proteine führen kann, die entgegengesetzte Wirkungen haben können. Ob durch diese Studie der CB1 als Target für potenzielle Arzneistoffe gegen Kachexie wieder interessanter wird, muss sich noch zeigen.

Weitere Informationen zur Studie finden Sie hier.


Dr. Wolfgang Caesar