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Gastbeitrag Florian Schulze, VdPP
Das alte Leidbild des Apothekers
Ureigenste Aufgaben, etwa in der evidenzbasierten Beratung, würden durch die Apothekerschaft immer noch mit großer Nachlässigkeit behandelt, sagt Florian Schulze vom Vorstand des Vereins demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP). Die Apotheker müssten sich nicht wundern, dass sie beim Medikationsplan leider praktisch nicht vorkommen.
Was klang das schön, als im Jahr 2013 nicht weniger als die Konzeption eines neuen Leitbilds des Apothekerberufs ausgerufen wurde. Schnell zeigte sich zwar, dass „der Apotheker“ nicht in einer Krankenhausapotheke, einer Krankenkasse oder der Wissenschaft arbeitet und nicht angestellt, sondern Inhaber einer öffentlichen Apotheke ist. Doch auch bei Apothekeninhabern gibt es viel zu tun und so beobachteten wir den Diskussionsprozess mit Spannung. In dessen Verlauf wurde das große neue Berufsbild allerdings auf ein Perspektivpapier namens „Apotheke 2030“ zusammengestaucht, dessen Beschluss zudem kaum Verbindlichkeiten nach sich zieht. Trotzdem, gut wenn sich die Apothekerschaft zu neuen Ufern aufmacht.
Bewusste Entscheidung?
Wie sieht sie aus, die 15-jährige Wunschperspektive des Berufsstandes? Als zentrale Botschaft wird formuliert: „Apotheker wollen sich als die Experten für Arzneimittel auf ihr heilberufliches Profil konzentrieren – bei aller Anerkenntnis der ökonomischen Erfordernisse des Apothekenbetriebs. Der Patient und seine evidenzbasierte Beratung zum Arzneimittel sollen im Mittelpunkt der Arbeit in der Apotheke stehen.“ Mehrfach heißt es aber auch, man wolle die „Bedürfnisse“ der Patientinnen und Patienten erfüllen. Nun trägt die Debatte um den Unterschied zwischen Bedürfnis und Bedarf im Gesundheitssystem schon einen langen weißen Bart. Ist sie nicht in der Apothekerschaft angekommen oder hat man sich bewusst für das „Bedürfnis“ entschieden? Die bewusste Verwendung hieße schließlich nichts weniger als eine Priorisierung für die kaufmännische und gegen die heilberufliche Seite des Offizin-Berufs. Jeder kann ihn anhand eines chronischen Nasenspray-Konsumenten schnell ausmachen. Während die „Bedürfnisse“ der Patientinnen und Patienten fünfmal genannt werden, kommt der „Bedarf“ nur einmal vor: bei der Rezepturherstellung.
Wir setzen also lieber auf „nicht angekommen“ und schöpfen Hoffnung aus der grundsätzlich evidenzbasierten Beratung, die den Mittelpunkt der Offizin-Tätigkeit bilden soll. Eine feine Sache, denkt sich der VdPP, da machen wir mit.
Keine Leitlinien für die OTC-Beratung
Während Ärztinnen und Ärzten evidenzbasierte Behandlungshilfen etwa in Form von Leitlinien zur Verfügung stehen, sieht es bei der OTC-Beratung, einer der wichtigsten heilberuflichen Aufgaben der Offizinapotheke, sehr mau aus. Weder die Kammern oder die Bundesapothekerkammer, noch die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft (DPhG), noch die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) sehen sich zuständig. Es ist im Offizinalltag kaum möglich, eine systematische Literaturrecherche durchzuführen, gute und wertlose Studien zu trennen und ein „Homemade-Review“ anzufertigen. Das wird weder von Ärztinnen und Ärzten, noch von Apothekerinnen und Apothekern in der Praxis erwartet. Allerdings wird vollkommen zu Recht von den Patientinnen und Patienten und vom Gesetz erwartet, dass sie in ihrer heilberuflichen Tätigkeit den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zugrunde legen. Praxistaugliche Hilfestellungen, die schnell und unbürokratisch abrufbar sind, sind daher kein Sahnehäubchen, sondern das Fundament der heilberuflichen Arbeit. Sie bedeuten keine Entmündigung, sondern sollen im Gegenteil befähigen, im Einzelfall eine fundierte Empfehlung zu geben.
Florian Schulze vom Vorstand des VdPP (Foto: F. Schulze)
Angewiesen auf unabhängige Fachzeitschrift
Hier stand ich zumindest in der Apotheke selbst bei einfachsten Fragen vor Problemen. Wie ist die aktuelle vergleichende Studienlage zu gastrointestinalen UAW bei NSAR? Ist Zink geeignet zur Prophylaxe eines grippalen Infekts? Wann helfen Probiotika wirklich? Sind Kombinations-Analgetika nun mehr oder weniger sicher im Vergleich zu Monopräparaten?
De facto war ich darauf angewiesen, zufällig in einer unabhängigen Fachzeitschrift eine entsprechende Übersichtsarbeit zu finden. Dass Herstellerinformationen bestenfalls unvollständig, meist aber vollkommen irreführend und als Desinformation anzusehen sind, sollte inzwischen Allgemeingut sein.
Antrag in den Ausschuss verwiesen
Wie wäre es, wenn sich über die ABDA-Datenbank solche Informationen abrufen ließen: unabhängig, übersichtlich, praxistauglich, von Apothekern für Apotheker? Das wäre ein echter Schritt nach vorn, etwas womit das Selbstbekenntnis zur evidenzbasierten Arzneimittelberatung mit Leben gefüllt werden könnte. Also entwarfen wir einen Antrag für den Apothekertag 2014 und fanden in der Berliner Delegierten Dr. Kerstin Kemmritz und der Allianz Aller Apotheker (AAA) schnell engagierte Unterstützer, die den Antrag – im positiven Sinne – zu ihrer Sache machten, einbrachten und verteidigten. Nach kontroverser Diskussion wurde der Antrag vom Apothekertag angenommen. Also nicht zur Prüfung in einen Ausschuss überwiesen oder zur Wiedervorlage auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Sondern eine Mehrheit der Delegierten sprach sich dafür aus, „dass für die in der Selbstmedikation am häufigsten abgegebenen OTC-Arzneimittel die Evidenz zu Nutzen und Schaden aufgearbeitet wird und die Ergebnisse in geeigneter, praxistauglicher Form der Apothekerschaft zur Verfügung gestellt werden“ – ein unmissverständlicher Auftrag an die ABDA.
Über ein Jahr später ist klar: Auf absehbare Zeit wird es wohl keine wirkliche Hilfe geben. Statt einer Implementierung in die Datenbank soll nun geprüft werden, ob der GOVI-Verlag nicht einen Newsletter mit evidenzbasierten Informationen herausgeben könnte. Es wurde weder mit dem VdPP noch mit den Einbringenden beim Apothekertag über eine praxistaugliche Umsetzung gesprochen. Im Gegenteil: Alle Angebote zur gemeinsamen Umsetzung des DAT-Beschlusses blieben unbeantwortet.
Die Forderung im Antragstext, die AMK zu beauftragen, wurde ebenso schnell verworfen wie die in der Begründung genannte wünschenswerte „Integration der Ergebnisse in die ABDA-Datenbank“. Stattdessen soll es ausgerechnet einen Newsletter geben, wo jeder heute mit Newslettern zugeschüttet wird. So würde man wie eh und je darauf angewiesen sein, sich seine eigene kleine Datenbank mit mehr oder weniger zuverlässigen Informationen einzurichten und im Ernstfall zu hoffen, dass sie dann spontan verfügbar und die Informationen noch halbwegs aktuell sind. Nein, das ist nicht wirklich ein Quantensprung, sondern ein Trippelschritt auf dem langen Weg, den die Ärzteschaft bereits seit mehr als zwanzig Jahren geht.
Anachronistisches Verhalten
Aber es geht noch absurder: Es soll außerdem geprüft werden, ob eine Datenbank zu Beratungseinzelfällen eingerichtet werden soll, die von den Nutzern selbst bestückt werden kann. Das würde „den interkollegialen Lern- und Austauschprozess fördern“. Den interkollegialen Austausch zu fördern mag gut sein, aber ich möchte in diesem Zusammenhang nicht wissen, mit welchen Argumenten die Nachbarapotheke ihre Ware an den Mann bringt. Diese „Kasuistik-Datenbank“ ist das Gegenteil von Wissenschaftlichkeit und der Vorschlag lässt nur zwei Rückschlüsse zu: Die evidenzbasierte Pharmazie und der Beschluss der Apothekerschaft wurde auf Entscheiderebene überhaupt nicht verstanden oder sie werden bewusst ins Gegenteil verkehrt. Ich weiß nicht, welche Option gruseliger ist.
Das Berufsverständnis, das hinter einem solchen Umgang mit Wissenschaftlichkeit durchscheint, bleibt mir unverständlich. Ein Berufsstand, der zu jeder sich bietenden Gelegenheit die Augenhöhe mit der Ärzteschaft einfordert und sich gleichzeitig weigert, ein Minimum an klinischer Wissenschaftlichkeit in eine ihrer Kernaufgaben zu implementieren, sendet an Politik und Gesundheitssystem ausgesprochen inkohärente Botschaften. Mitglieder eines akademischen, naturwissenschaftlichen Berufs, die die Anwendung elementarer wissenschaftlicher Kriterien als Bedrohung der freien Berufsausübung empfinden, verhalten sich schlicht anachronistisch.
Wir müssen uns nicht wundern, dass die Apothekerschaft im E-Health-Gesetzentwurf beim Medikationsplan praktisch nicht vorkommt, wenn sie ihre ureigensten Aufgaben mit einer derartigen Nachlässigkeit angeht. Selbst wenn die gute Versorgung der Patientinnen und Patienten von der Standesvertretung nicht als Selbstzweck angesehen würde, so sollte doch jeder berufspolitisch denkende Mensch verstehen, dass sie im Eigeninteresse unabdingbar ist.
Und „gut“ kann heute nur heißen: auf Grundlage gesicherter Erkenntnisse für einen maximalen Nutzen für die Patientinnen und Patienten. Sicher kursieren noch immer unbegründete Vorbehalte gegen eine evidenzbasierte Beratung. So geht es gerade nicht darum, die Fachkraft in der Offizin auf die stupide Anwendung von Regeln zu deklassieren. Im Gegenteil: Einzuschätzen, inwieweit die Evidenzlage auf den konkreten und individuellen Fall anwendbar ist und welche Therapie unter Berücksichtigung der objektiven und subjektiven Besonderheiten der Patientin/des Patienten am geeignetsten erscheint, ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass es sich um eine Selbstmedikation und nicht um eine vom Apotheker verordnete Therapie handelt. Daher geht es auch nicht darum, jemandem seine Globuli oder auch sein Wick Medinait auszureden. Aber wenn die Einschätzung der „Experten für Arzneimittel“, wie es im Perspektivpapier heißt, gefragt ist, muss die Antwort Hand und Fuß haben oder sie ist überflüssig. Die Antwort muss auch widersprechen, wenn der Patient einem Irrtum aufgesessen ist, sie muss schädlichem Arzneimittelgebrauch entgegenwirken, selbst wenn das im konkreten Fall unbequem ist und sie muss die gesundheitlichen Bedarfe der Patienten den eigenen kurzfristigen finanziellen Interessen überordnen, wie wir das vom Arzt auch erwarten.
Wer ein Bedürfnis hat, geht zur Kosmetik; wer einen Bedarf hat, geht zum Arzt. Die Apothekerschaft sollte sich entscheiden, wo sie sich eher zugehörig fühlt. Nach dem Beschluss des Perspektivpapiers bin ich nicht wirklich schlauer. Ich hoffe, dass ich es bin, wenn das letzte Wort zur Umsetzung des DAT-Antrags gesprochen ist.
12 Kommentare
Leidbild
von Dr. Gebhard Reich am 15.12.2015 um 16:54 Uhr
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Chapeau!
von Holger Hennig am 15.12.2015 um 10:56 Uhr
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AW: Überzeugen?
von Kerstin Kemmritz am 15.12.2015 um 11:18 Uhr
Chance für die Aufwertung der Selbstmedikation erkennen und nutzen!
von Kerstin Kemmritz am 15.12.2015 um 9:25 Uhr
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Die Mahnung an die Entscheider...
von Reinhard Rodiger am 15.12.2015 um 0:12 Uhr
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AW: Was ich als Arzt nicht kenne oder gut finde, ist sowieso Quatsch
von Armin Spychalski am 15.12.2015 um 14:30 Uhr
Würde es nicht ganz so schlimm sehen!
von Dr. Kloebner am 14.12.2015 um 19:03 Uhr
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Danke
von Lutz Schneider am 14.12.2015 um 18:59 Uhr
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Große Zustimmung
von Monika Alter am 14.12.2015 um 18:49 Uhr
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Ein sehr guter Beitrag zu einem aktuellen Thema
von Philipp Jüttner am 14.12.2015 um 17:27 Uhr
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AW: Trifft insc Schwarze, aber
von Andreas Kronsbein am 14.12.2015 um 18:52 Uhr
AW: Fortbildungspflicht
von Christiane Patzelt am 14.12.2015 um 19:15 Uhr
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