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Bluthochdruck-Empfehlungen
Ruhig Blut – oder runter auf 120?
Wenn es nach der großen „Sprint“-Studie aus den USA ginge, wäre zumindest für bestimmte Bluthochdruck-Patienten 120 das neue 140. Doch ist der niedrigere systolische Zielwert tatsächlich besser?
Seit der aufsehenerregenden Bluthochdruck-Empfehlung der amerikanischen National Institutes of Health strömen ratsuchende Patienten auch in deutsche Arztpraxen und Kliniken. „Viele fragen, wann sie nun auf 120 eingestellt werden“, sagt Yvonne Dörffel, Leiterin der Medizinischen Poliklinik der Charité in Berlin. Doch die deutschen Experten sind uneins, in welchem Maße das Ergebnis praxistauglich ist. „Ich sehe nicht, dass das überhaupt bei einer höheren Zahl von Hochdruckpatienten gemacht werden sollte“, meint Dörffel.
In Deutschland hat nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin fast jeder dritte Erwachsene Bluthochdruck. In der Altersgruppe der 70- bis 79-Jährigen sind es demnach sogar drei Viertel. Neben ungesunder Ernährung und erhöhtem Body-Mass-Index hat Hypertonie nach Schätzungen mit den höchsten Anteil an der gesamten Krankheitslast im Land: Erhöhter Blutdruck steigert das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Schlaganfall, koronare Herzerkrankung und Herzinsuffizienz, aber auch für chronische Niereninsuffizienz und Demenz.
Nicht alles über einen Kamm scheren
Blutdrucksenkende Medikamente sollten bei allen Patienten mit hohem Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko eingesetzt werden – unabhängig von ihrem Blutdruck, forderten Mediziner kürzlich in der Fachzeitschrift „The Lancet“. Der Grenzwert von 140 für die Behandlung mit Tabletten sei zu hoch. Die Wissenschaftler hatten 123 Studien von 1966 bis 2015 ausgewertet, an denen insgesamt mehr als 600 000 Menschen beteiligt waren. Einschränkend merken sie unter anderem an, dass die Studien teils nur bedingt vergleichbar waren.
Sehr skeptisch äußerte sich der Leiter des Hypertoniezentrums München, Martin Middeke, über die Meta-Analyse: „Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. Die Behandlung des Blutdrucks ist immer eine individuelle Therapie.“ So müssten etwa auch Vorerkrankungen beachtet werden.
Die Behandlung mit Blutdrucksenkern vermindere das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erheblich, schreiben Kazem Rahimi vom George Institute for Global Health an der britischen Universität Oxford und sein Team in „The Lancet“. Werde der systolische Blutdruck um 10 Punkte gesenkt, verringere sich das Risiko für größere kardiovaskuläre Ereignisse um ein Fünftel, für Schlaganfälle und Herzversagen um ein Viertel und das Sterberisiko um 13 Prozent. Und zwar auch dann, wenn der Blutdruck der Patienten vor Beginn der Behandlung unter 130 gelegen habe.
Blutdruck ändern – oder Lebensweise
„Die Ergebnisse sprechen sehr dafür, den systolischen Blutdruck unter 130 zu senken“, zitiert das Fachmagazin den Studienleiter Rahimi. Zudem sollten alle Risikopatienten mit Blutdrucksenkern behandelt werden, egal was der Grund für ihr erhöhtes Risiko sei. So könnten Millionen Leben gerettet werden. Derzeit liegt der Richtwert für die medikamentöse Behandlung bei etwa 140/90. Patienten mit erhöhtem Blutdruck unter diesem Wert wird eher eine Änderung der Lebensweise nahegelegt – wie zum Beispiel Sporttreiben und Abnehmen.
Dass ein Blutdruck ab etwa 120/80 mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht, sei aus großen Studien schon lange bekannt, erklärt Bernd Sanner, Chefarzt am Agaplesion Bethesda Krankenhaus Wuppertal. „Umgekehrt hat man sich dann gefragt: Wenn man versucht, einen überhöhten Blutdruck zu senken, welcher Zielwert ist dann gesundheitlich sinnvoll?“ Eine erste größere Studie zu stärkerer Blutdrucksenkung bei Diabetikern – „Accord“ genannt – kam 2010 zum Ergebnis, dass das Risiko schwerer Herz-Kreislauf-Ereignisse nicht deutlich gesenkt wurde.
Frühzeitiges Studienende
Bei der großen „Sprint“-Studie wurden mit anderem Probandenkreis erneut zwei Behandlungsansätze verglichen: Ein Teil der Patienten erhielt eine intensive, im Mittel knapp drei Medikamente beinhaltende Therapie mit einem systolischen Blutdruck unter 120 als Ziel. Der andere Teil bekam die Standardtherapie, die einen Wert von 140 anstrebt und mit durchschnittlich zwei Medikamenten auskommt. Mehr als 9300 Menschen wurden einbezogen.
Die auf fünf Jahre angelegte Studie wurde im August 2015 nach gut drei Jahren frühzeitig abgebrochen – wegen der überwältigend positiven Ergebnisse, wie es hieß. Erst zum Ende des Jahres hin allerdings wurden die gesamten Daten vorgestellt und im „New England Journal of Medicine“ publiziert.
Das Gesamtergebnis liest sich durchaus beeindruckend: Gut ein Viertel weniger Todesfälle gab es demnach bei intensiver Therapie und ein Drittel weniger kardiovaskuläre Ereignisse, also Herzinfarkt, Koronarsyndrom, Schlaganfall oder Herzinsuffizienz. Beeindruckend ist allerdings auch die Liste der Einschränkungen – und die der Nebenwirkungen. „Es wird schwierig, überhaupt noch Patienten zu finden, für die die Intensivtherapie sinnvoll sein könnte“, lautet darum Dörffels Fazit.
Stress und Salz
Ausgeschlossen wurden Diabetiker, Menschen, die bereits einen Schlaganfall hatten, und solche mit symptomatischen Herzkrankheiten, Eiweißausscheidungen oder sekundärer Hypertonie, listet Dörffel auf. Das sind Patienten, deren Bluthochdruck auf einer konkreten Krankheit wie Schlafapnoe oder einem Nierenleiden beruht. „Die primäre Hypertonie, die etwa 90 Prozent der Fälle ausmacht, geht auf genetische Komponenten und vor allem Lebensstilfaktoren zurück.“ Stress und überhöhter Salzkonsum zählten dazu, Übergewicht, Bewegungsmangel und eine fettreiche Ernährung.
Kritisch sieht die Medizinerin auch, dass der Einstiegs-Wert bei den im Mittel 68 Jahre alten Patienten bei 139 lag. „Nur ein Drittel waren überhaupt Menschen mit systolischem Bluthochdruck, die übrigen hatten gar keine deutlich überhöhten Ausgangswerte.“ 80 Prozent hatten demnach zudem keine Herz-Kreislauf-Krankheiten – anders als viele Patienten in der Praxis. Von der intensiven Therapie profitiert hätten zudem letztlich vor allem Patienten mit einem ohnehin niedrigen Ausgangswert unter 132 . „Die darüber lagen, hatten kaum oder gar keinen Nutzen.“ Wenig Effekt habe der Ansatz auch bei Patienten mit bereits bestehender Nierenschwäche gehabt.
Auswirkungen auf Herzschwäche-Zahlen
Die verbreitete Ansicht zu den Studienergebnissen sei, dass sich das Drittel weniger kardiovaskulärer Ereignisse vor allem auf Schlaganfälle und Herzinfarkte beziehe, erklärt Dörffel weiter. „Das ist falsch, dabei gibt es keinen deutlichen Unterschied.“ Einen Rückgang gebe es vielmehr vor allem bei den Herzschwäche-Zahlen. Genau das sei der entscheidende Punkt, die Falle im gesamten Konstrukt, erklärt Dörffel. Es sei sehr überraschend, dass sich eine drastische Senkung nicht auf die Schlaganfall- und Herzinfarkt-Zahl auswirkte, betont auch Middeke vom HZM.
„Herzschwäche ist in der getesteten Altersgruppe generell eine der Haupttodesursachen – und die Mehrzahl der verwendeten Medikamente sind genau solche, wie man sie auch bei Herzinsuffizienz verwendet“, erklärt Dörffel ihre Theorie dazu. Der Schluss liege daher nahe, dass mit der intensiven Therapie sehr gut drohende Herzinsuffizienzen verhindert wurden – die Blutdruckeinstellung hingegen für die verminderte Todesrate eine geringe Rolle spielte. „Diese Details sind leider in den 37 Seiten Anhang mit den genauen Daten versteckt“, sagt die Medizinerin.
Große Unterschiede habe es zudem zwischen Männern und Frauen gegeben, ergänzt Middeke. Bei Männern habe das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bei intensiver Therapie 28 Prozent niedriger gelegen, bei Frauen hingegen nur 16 Prozent. „Insofern muss man genau gucken, wer letzten Endes tatsächlich profitieren kann von einer intensiven Therapie“, lautet Middekes Fazit. „Man kann das Ergebnis nicht verallgemeinern.“
Ohnmacht und Nierenversagen als Nebenwirkungen
Nach Dörffels Einschätzung sollten die angestrebten Werte für die meisten Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko unverändert bleiben – zumal beim Ziel 120 ein Absacken auf gefährlich niedrige Werte drohe. „Das kam hochsignifikant häufiger vor“, erklärt Dörffel. Die intensiv therapierten Patienten seien häufiger ohnmächtig geworden, ihr Elektrolythaushalt sei öfter gestört gewesen, es habe mehr Fälle von Nierenversagen gegeben. „Das ist lebensgefährlich“, erklärt die Medizinerin. „Die Patienten müssen darum strengstens überwacht werden.“
Bisher schauen Blutdruckpatienten in Deutschland alle drei bis sechs Monate beim Arzt vorbei und nehmen nach kurzem Beratungsgespräch ein neues Rezept mit. „Mit einem Ziel von 120 werden monatliche Kontrollen nötig, weil die Nebenwirkungen größer sind“, sagt Sanner. Für die ohnehin schon vollen Praxen sei das eine große Herausforderung. „Dieser Einsatz lohnt aber“, ist er überzeugt.
Einschluss von Risikopatienten ist sinnvoll
Die Studie habe eine hohe wissenschaftliche Qualität und sei im Auftrag des nationalen US-Gesundheitsinstituts NIH, also unabhängig von Pharmaunternehmen, entstanden. Auch die Patientenauswahl hält Sanner für sinnvoll. „Bei jungen Menschen mit nur leichtem Bluthochdruck ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass gar nichts passiert“, erklärt er. „Wenn man wirklich einen Unterschied sehen will, muss man Leute nehmen, bei denen das Risiko generell hoch ist.“ Die Zunahme der Nebenwirkungen bei intensiver Therapie sei bei allem Nutzen allerdings tatsächlich erheblich.
Für sinnvoll hält er eine Anpassung auf einen Zielwert von 120 bei einem Teil der über 75 Jahre alten Blutdruckpatienten und bei Menschen über 50 mit kardiovaskulären Risiken. „Das ist schon ein relevanter Teil, bestimmt 30 bis 40 Prozent aller Patienten.“ Allerdings müsse jeder Fall einzeln betrachtet und entschieden werden. „Da muss man pragmatisch sein: Es ist nicht sinnvoll, jemanden partout auf 120 einzustellen, wenn er dann umfällt oder nicht mehr leistungsfähig ist.“
Auch mit solchen Ausnahmen werde es ein weiter Weg sein, das neue Ziel bei all denjenigen zu erreichen, für die es sinnvoll sei. „Derzeit sind nur gut 50 Prozent der Bluthochdruckpatienten in Deutschland überhaupt schon auf 140 eingestellt.“ Im europaweiten Vergleich sei das allerdings bereits ein sehr guter Wert. „Noch vor zehn Jahren hat in Deutschland nur jeder Zehnte den Zielwert erreicht.“ Auch das Wissen um den eigenen Wert sei nach einer Auswertung des RKI inzwischen weitaus besser. „80 Prozent der Menschen mit erhöhtem Blutdruck wissen darum.“
Unzufriedenheit kann hilfreich sein
Vor allem bedeute das Studienergebnis einen Paradigmenwechsel, ist Sanner überzeugt. „Zielwerte sind ja immer eine willkürliche Festlegung – wie sollte ein Wert von 139 noch gut sein und einer von 141 schlecht?“ Das neue Ziel von systolischen 120 bedeute schlichtweg, dass man sich bei der Blutdruckreduktion nicht zu schnell zufrieden geben sollte. „Es wird eine Anpassung der Behandlungsleitlinien geben“, ist auch Middeke überzeugt.
In der Praxis gelte es dabei, ein weiteres entscheidendes Detail der Studie zu beachten: „Der Blutdruck wurde jeweils automatisiert mit einem speziellen Gerät gemessen, die Patienten saßen dabei in einem ruhigen Raum“, erklärt Middeke. Damit falle der Arzt-Effekt weg, der den Blutdruck bei vielen Menschen bei der Messung höhergehen lasse. „Das macht leicht mal 10 aus.“ Für den Arztbesuch bedeute das, dass schon ein Blutdruck von 125 bis 130 dem Zielwert der Studie entspreche.
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