Dies ist ein Auszug aus dem Artikel „Gefährliche Verwürfe – Wie eine Gesetzeslücke bei Zytostatika-Zubereitungen ahnungslose Patienten gefährden kann“, der in voller Länge in DAZ 2015, Nr. 39 erschienen ist.
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Zytostatika-Zubereitung
Gefährliche Verwürfe und die Rolle der Industrie
Bei der Zubereitung applikationsfertiger Zytostatika gibt es viele Regeln zum Schutz der Patienten. Doch bei den Haltbarkeiten einzelner Lösungen besteht eine Diskrepanz zwischen den Angaben des Herstellers, der Hilfstaxe und einer Vielzahl von Publikationen. Wie sicher kann diese Praxis sein? Ein Gastbeitrag von Dr. Franz Stadler, Teil 2.
Die zentrale Frage lautet: Warum gibt es bei den Haltbarkeiten der Stammlösungen die beschriebene Diskrepanz zwischen den Angaben des Pharmazeutischen Unternehmers, der Hilfstaxe und einer Vielzahl an Publikationen?
Die Angaben der Hilfstaxe sind, wie schon erwähnt, das Ergebnis der Verhandlungen zwischen GKV-Spitzenverband und DAV. Sie stellen in der Regel eine sicherheitsorientierte Pauschalierung (24 Stunden) dar und fußen auf den einzigen, rechtlich relevanten Datengrundlagen, die GKV und DAV zur Verfügung stehen: den Fachinformationen. Nur für die darin enthaltenen Angaben übernehmen die Hersteller die Haftung. Keiner der Verhandlungspartner ist verständlicherweise bereit, auf Grundlage anderer publizierter Daten die Haftung über Zeiträume jenseits der Angaben der Hersteller zu übernehmen.
Abbauprodukte dem Hersteller bekannt
Die Hilfstaxe ist also ein korrektes und praktikables, aber kaum ressourcenschonendes Verhandlungsergebnis angesichts einer fehlenden, zuverlässigen und rechtlich verbindlichen Datenquelle.
Im besten Fall wäre diese Datenquelle das pharmazeutische Unternehmen, das den Wirkstoff zugelassen und in den Markt gebracht hat und ihn deshalb mit allen seinen Eigenschaften auch am besten kennt. Der Hersteller weiß um mögliche Abbauprodukte seines Wirkstoffes und kann die Gefahren von sich z.B. bildenden Mikroaggregationen oder von Wirkverlusten wegen Strukturänderungen von Proteinen (Antikörpern) beurteilen. Für alle anderen Marktteilnehmer ist der Aufwand zur verbindlichen Ermittlung entsprechender Daten ungleich größer und würde zu einer Verschiebung der Haftung führen.
Allerdings ist das zulassende pharmazeutische Unternehmen rechtlich nicht verpflichtet, adäquate Haltbarkeiten von Stammlösungen anzugeben. Die Interessenslage der Industrie zum Thema ist ambivalent und hängt sehr vom Markt ab.
Originalhersteller, die patentierte Wirkstoffe meist allein vermarkten und konkurrenzlos sind, haben keine Motivation Haltbarkeiten für Stammlösungen anzugeben. Neben den (wahrscheinlich vertretbaren) Kosten für die zusätzlichen Untersuchungen sind weniger Verwürfe gleichbedeutend mit weniger Umsatz, und zwar dauerhaft. Die Angaben in den Fachinformationen sind daher oft deutlich kürzer als die Angaben in der Sekundärliteratur (siehe Tabelle 1 mit 3 Beispielen).
Ein besonders drastisches Beispiel für das Verhalten von Originalherstellern ist das bereits erwähnte Bortezomib (Velcade® von Janssen Cilag). Obwohl die durchschnittliche Dosis pro Patient bei ca. 2,4 Milligramm Bortezomib liegt, ist seit dem 21.11.2011 nur eine 3,5 Milligramm Packung Velcade® im Markt verfügbar. An diesem Tag wurde die 1mg Packungsgröße von Janssen Cilag aus dem Vertrieb genommen und trotz bestehender Zulassung bislang nicht wieder eingeführt.
Diese überdimensionierte Packungsgröße führt im Zusammenspiel mit der kurzen Haltbarkeitsangabe für die Stammlösung (8 Stunden laut Fachinformation) zu einem durchschnittlichen möglichen Verwurf von ca. 30 Prozent des Inhaltes. Laut einem Schreiben von Janssen-Cilag seien wegen der vom Hersteller selbst vorgesehen Bestimmung zur Einmalentnahme auch keine weiteren Stabilitätsuntersuchungen jenseits der 8 Stunden notwendig.
Da sich der Arzneimittelpreis zudem auf eine Packung beziehe, entstünden für Janssen-Cilag durch die Verwurfsabrechnung auch keine weiteren Gewinne. Es gäbe ja nur die 3,5 Milligramm-Packung! Rechnet man allerdings die vorgelegten bayerischen Zahlen hoch, dürfte der bundesweite (Mehr-) Umsatz von Janssen Cilag allein durch den abgerechneten Verwurf der Jahre 2013 und 2014 bei deutlich über 20 Millionen Euro brutto liegen.
Sobald der Wirkstoff patentfrei wird, ändert sich die grundsätzliche Einstellung der Industrie zu diesem Thema. Natürlich bleibt die Umsatz- und Gewinnorientierung bestehen, aber nun kann es aus Marketinggründen von Vorteil sein, längere Haltbarkeiten für zubereitete Stammlösungen anzugeben. Deshalb geben Generika- oder Biosimilarfirmen oft deutlich längere Haltbarkeiten an als sie ursprünglich, vor Patentablauf, waren.
Ein gutes Beispiel hierfür liefert der Wirkstoff Infliximab:
Das Original, Remicade®, stammt von der Firma MSD. Seine Fachinformation gibt 24 Stunden als Haltbarkeit für die zubereitete Stammlösung an – ein Wert, der damit exakt der Hilfstaxenpauschale entspricht.
Seit Kurzem gibt es dazu im Markt zwei Biosimilars, die zwar ebenfalls Infliximab enthalten, aber nicht gänzlich identisch sind, sondern aus einer anderen Zelllinie biotechnologisch hergestellt werden: Remsima® von Mundipharma und Inflectra® von Hospira.
Die Anwendungen und praktisch die gesamte Fachinformation sind identisch. Sie werden auch vom selben koreanischen Hersteller (Celltrion) produziert und sind deshalb wirkstoffgleich. Trotzdem hat nur der Hersteller Hospira auf Nachfrage schriftlich bestätigt, dass sein Wirkstoff über 21 Tage seine physikalisch-chemische Stabilität und seine biologische Aktivität behält. Diese Information ist allerdings nicht in der Fachinformation enthalten, dient aber bereits jetzt als Verkaufsargument gegenüber den Mitbewerbern. Deshalb verbleibt natürlich die Haftung für die verlängerte Haltbarkeit bei der herstellenden Apotheke.
Ebenso verhält es sich mit vielen anderen generischen Wirkstoffen (siehe Tabelle 2 mit 3 Beispielen).
So bestätigen die drei großen Generikahersteller, Puren (früher: Actavis), Teva und Hexal für den Wirkstoff Docetaxel übereinstimmend 28 Tage Haltbarkeit für angebrochene Stammlösungen. Leider finden sich diese Angaben zurzeit nicht in den Fachinformationen wieder und damit auch nicht in der für die zubereitenden Apotheken verbindlichen Hilfstaxe. Docetaxel beispielsweise fällt in der Hilfstaxe noch immer unter die 24 Stunden-Regelung.
Bei der Datenlage in der Sekundärliteratur ist es verständlich, dass die Krankenkassen drängen, längere Haltbarkeiten bei der täglichen Arbeit zugrunde zu legen. Schließlich bezahlen sie im Auftrag der Versicherten den unvermeidlichen Verwurf und haben deshalb, wie oben beschrieben, ein vitales Interesse diesen Verwurf möglichst gering zu halten. Sie müssen sparen, aber natürlich wollen und dürfen sie keinesfalls die Gesundheit ihrer Mitglieder gefährden. Deshalb wird auch keine Krankenkasse schriftlich längere Haltbarkeiten festsetzen, da sie dann dafür die Haftung übernehmen müsste.
In einer ähnlichen Situation befinden sich die zubereitenden Apotheken. Sie müssten sich aus den genau gleichen Haftungsgründen eigentlich an die Vorgaben der Hilfstaxe halten. Verlängern sie auf Druck einzelner Krankenkassen und oder auf Basis rechtlich unverbindlicher Publikationen/Messungen die Haltbarkeiten der Stammlösungen, gefährden sie zum einen möglicherweise die Gesundheit der Patienten und stehen zum anderen im Falle eines Falles vermutlich allein in der Haftung.
Das Haftungsproblem ist also der zentrale Punkt, um den alles kreist. Weder die Krankenkassen und der GKV-Spitzenverband noch die herstellenden Apotheken und der DAV verfügen über die Mittel, das Know-how und den Willen derartige Untersuchungen durchzuführen oder Publikationen zum Thema verbindlich zu bewerten. Und deutlich gesagt: es ist auch nicht ihre Aufgabe.
Die Industrie auf der anderen Seite erklärt sich primär für nicht zuständig und handelt vorrangig nach Marketinggesichtspunkten. Sie ducken sich im Fall der Originalhersteller unter der Last ihrer Gewinne weg und konkurrieren als Generikahersteller andererseits mit deutlich längeren Haltbarkeiten, die allerdings im Unverbindlichen verbleiben.
Was aber sind die möglichen Folgen für den Patienten? Wie steht er zu der ganzen Sache?
Der Patient als unwissender Verbraucher
Stabilitätsfragen bei der Zubereitung parenteraler Infusionslösungen sind eigentlich nicht die Sache des Patienten. Aber als Betroffener, als Verbraucher hat er ein hohes Interesse an einem korrekten Umgang mit den Wirkstoffen, die er verabreicht bekommt. Bisher vertraut er dem Gesundheitssystem und seinen Kontrollmechanismen. Er wird aber nicht so informiert, dass er sich selbst ein korrektes Bild machen könnte und ist daher völlig ahnungslos.
Der Patient kann nicht wissen, dass sich hier ein Modus Vivendi herausgebildet hat, der sich stillschweigend als unkontrollierter Graubereich etabliert hat und das eigentliche Risiko bei ihm belässt:
Die Industrie verweist in allen Stabilitätsfragen auf ihre Fachinformationen und entzieht sich elegant jeder Diskussion, aber auch ihrer Verantwortung.
Die Verhandlungspartner, GKV-Spitzenverband und DAV, können eine praktikable, wenn auch kostspielige Lösung vorweisen, an die sich auf finanziellen Druck der Krankenkassen aber viele zubereitende Apotheken nicht halten, eine Tatsache, die wiederum in der Verhandlungsrunde sehenden Auges ignoriert wird. Es fehle an Durchgriffsmöglichkeiten, so die resignierende Aussage.
Den zubereitenden Apotheken ihrerseits geht es vorrangig um die Bezahlung der eingesetzten Arzneimittel, wobei es ihnen letztlich egal ist, ob diese als unvermeidlicher Verwurf abgerechnet oder für die Zubereitung der nächsten Infusion verwendet werden.
Die Krankenkassen klammern die Haftungsfrage aus und sind über jede Einsparung froh. Und jeder für sich hofft, dass nichts passiert und kein Patient gesundheitlichen Schaden davon trägt.
Wäre der Patient über die Situation besser aufgeklärt, ließe sich seine Haltung zum Thema ziemlich sicher vorhersagen: Welcher Patient wäre beispielsweise mit der Applikation einer nach Herstellerangaben acht Stunden haltbaren Infusion einverstanden, wenn er wüsste, dass die Stammlösung bereits vor 21 Tagen zubereitet wurde? Dabei ist kaum anzunehmen, dass ihn Hinweise auf Publikationen anderer Institutionen mit längeren Haltbarkeiten umstimmen würden.
Zumindest müsste man den Patienten vor der Applikation solcher Lösungen korrekterweise darüber aufklären. Wer aber sollte das tun? Und kann man das überhaupt wollen? Nicht nur würde in einem solchen Fall das Vertrauen in die Behandlung massiv erschüttert, der Patient hat (als Beitragszahler und letztendlich als Kunde) auch einen Anspruch auf eine korrekt zu erbringende Leistung, die ja zudem voll bezahlt wird. Schließlich kann niemand eine mögliche Gesundheitsgefährdung durch inaktive Wirkstoffe oder beispielsweise toxische Abbauprodukte gänzlich ausschließen. Deshalb übernimmt, wie wir gesehen haben, auch niemand die Haftung für diese Angaben.
Alle diese Folgen können nicht im Interesse der Beteiligten sein. Sie müssen dringend im Sinne einer sicheren Arzneimitteltherapie geregelt werden. Wie groß das Ausmaß der Verwendung erweiterter Haltbarkeiten in der Praxis tatsächlich ist, kann man nur erahnen (siehe Abb. 3).
Eine im Jahr 2014 veröffentlichte Umfrage unter deutschen Krankenhausapotheken ergab ein ähnliches Bild: nur 8,3 Prozent der Teilnehmer gaben an, sich streng an die Fachinformationen der Hersteller zu halten – eine doch ziemlich bedenkliche Zahl[1]. Da aber eine freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie zur verbindlichen Angabe valider und ressourcenschonender Daten wohl nur Wunschdenken bleiben wird, ist der Gesetzgeber gefordert.
Ein Blick in die nicht allzu ferne Zukunft zeigt, dass die Zahl der Neueinführungen von zum Teil sehr teuren Medikamenten - wie Antikörpern, die ebenfalls nur sehr kurze Haltbarkeiten aufweisen oder/und nur für kleine Patientengruppen bestimmt sind – zunehmen wird. Auch hier wird es bei der aseptischen Zubereitung unmöglich sein, Verwürfe zu vermeiden. Der kostensparende Ausweg kann aber nicht sein, die Haltbarkeiten auf Grundlage nicht eindeutig fundierter Publikationen mehr oder weniger willkürlich zu verlängern.
Gelöst werden kann dieses Dilemma nur vom Gesetzgeber, der die pharmazeutischen Unternehmen zwingen kann, im Rahmen der Zulassung bei zubereitungspflichtigen Wirkstoffen Haltbarkeiten für die Stammlösungen bei korrekter aseptischer Zubereitung in den Fachinformationen anzugeben, die eine adäquate Durchführung der Therapie ermöglichen. Beispielsweise könnten Haltbarkeitsuntersuchungen über mindestens vier Wochen gefordert werden. In jedem Fall wäre die Haltbarkeit des zubereiteten Wirkstoffes in die Kosten-Nutzen-Bewertung des Arzneimittels und damit in die Preisfindung vor Zulassung im Markt einzubeziehen.
Diese Maßnahme allein reicht jedoch nicht aus. Es muss auch sichergestellt werden, dass die Angaben der Fachinformation, für die der Hersteller die Haftung übernimmt, möglichst schnell in die Systematik der Hilfstaxe übernommen werden. Letztere ist die einzige haftungsrelevante Angabe für die herstellende Apotheke.
Berücksichtigt man alle diese Punkte verbleiben zwei Kernforderungen:
- Die Hilfstaxe ist von den Sozialpartnern für die Fachinformationen der Hersteller zu öffnen und
- die Hersteller sind vom Gesetzgeber zur Angabe von relevanten Haltbarkeiten (beispielsweise: bis 97 Prozent des wirksamen Arzneistoffes oder mindestens vier Wochen) unter Anwendungsbedingungen in den Fachinformationen zu verpflichten.
Letzteres sollte bereits im Rahmen des Zulassungsprozesses erfolgen, da die Stichhaltigkeit der Angaben dann vom BfArM geprüft wird.
Teil 1: Gefährliche Verwürfe: Pooling praktisch unmöglich - und die Rolle der Sozialpartner.
[1] Rainer Trittler et al.: Umgang mit Stabilitätsdaten zur Zytostatikaproduktion in deutschen Krankenhausapotheken. Ergebnisse einer Umfrage. In: Krankenhauspharmazie 2014; 35: 148-150
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