Krankenhaus-Report 2016

Kein Schutz vor zu viel oder falscher Medizin 

Berlin - 04.03.2016, 08:30 Uhr

Krankenhäuser im Wido-Check:  „Hinter dieser Vielfalt steckt kein rationales Ordnungsprinzip". (Foto sudok1 / Fotolia)

Krankenhäuser im Wido-Check: „Hinter dieser Vielfalt steckt kein rationales Ordnungsprinzip". (Foto sudok1 / Fotolia)


Immer häufiger werden in deutschen Krankenhäusern Patienten ambulant behandelt, ohne dass sie über Nacht bleiben. Bei der Vorstellung des Krankenhaus-Reports 2016 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) in Berlin übten Experten heftige Kritik an dem „Wildwuchs“, der dadurch entstanden ist. 

In den letzten drei Jahrzehnten sollen rund zwanzig verschiedene ambulante Versorgungsformen entstanden sein, die im Krankenhaus durchgeführt werden. Darauf wurde bei der Präsentation des Krankenhausreports 2016 in der Hauptstadt verwiesen: von Hochschul- und Notfallambulanzen über Ambulantes Operieren im Krankenhaus bis hin zur Ambulanten Spezialfachärztlichen Versorgung (ASV). Hieraus resultieren in der Praxis hohe Reibungsverluste, reklamierten die Versorgungsexperten.

Drunter und drüber auf allen Ebenen

„Hinter dieser Vielfalt steckt kein rationales Ordnungsprinzip", bemängelte Jürgen Wasem, Mitherausgeber des Krankenhaus-Reports 2016. De facto werden hier identische Leistungen in verschiedene Rechtsformen verpackt und dann auch noch unterschiedlich vergütet.“ Ähnliche Unterschiede gebe es auch bei der Bedarfsplanung, bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen oder den Zugangsregeln zu Innovationen.

Wasem, Inhaber des Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftungslehrstuhls für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen, forderte deshalb endlich einheitliche Spielregeln an der Schnittstelle zwischen ambulanten und stationären Leistungen für alle und einen neuen Ordnungsrahmen. Diesen müsse die Politik vorgeben. Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen könne dann der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) übernehmen.

v.: Prof. Dr. Jürgen Wasem, Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Martin Litsch (Foto: AOK)

Mangelnde Verzahnung als Kostentreiber

Auch Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, kritisierte die Strukturprobleme zwischen den Sektoren. Er betonte, dass das Fehlen einheitlicher Spielregeln vielfach zu konträren Interessen führe. Eine echte Zusammenarbeit, etwa zwischen niedergelassenen und stationär tätigen Kardiologen, sei weder vorgesehen noch möglich. Gerlach befürchtet überdies, dass es durch diese mangelnde Verzahnung zu Informationsbrüchen, Missverständnissen, Behandlungsfehlern, Mehrfachdiagnostik, vermeidbaren hohen Arztkontakten und Mengenausweitungen kommt.

„Kaum einer übernimmt für Patienten mit mehreren Krankheiten, die gleichzeitig von verschiedenen Ärzten und Kliniken behandelt werden, die Gesamtverantwortung und schützt sie vor zu viel oder falscher Medizin.“ konstatierte er. Hausärzte seien für diese Lotsenfunktion zwar prädestiniert, befänden sich aber innerhalb des Gesundheitssystems in einer geschwächten Position.

Nur Patchwork

Der Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes Martin Litsch rief die Beteiligten zur Kooperationsbereitschaft auf: „Was ich mir wünsche, ist mehr Miteinander statt dieses andauernde Jeder-gegen-Jeden mit Sonderinteressen und Systemegoismen. Die Leistungserbringer müssen sich darauf einlassen, gemeinsame Qualitäts-, Verwaltungs- und Finanzierungsstandards zu entwickeln, sonst kommen wir nicht weiter.“ Auf Schnittstellenprobleme habe die Politik mit bereits zahlreichen Einzellösungen reagiert. Die bisherigen Modelle seien sicher gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Vielmehr führe der Status quo seit Jahren nur zu Patchwork und den altbekannten rituellen Verteilungskämpfen zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern. „Das kann so nicht bleiben,“ meinte Litsch, „da muss der Gesetzgeber noch mal neu ansetzen.“

Zu oft vorschnell operiert?

Nach dem Krankenhausreport 2016 hätten 3,7 Millionen der bundesweit 18,6 Millionen Krankenhausfälle 2012 vermieden werden können, wenn der ambulante Sektor in der Lage gewesen wäre, Patienten mit chronischen Erkrankungen oder Akuterkrankungen vernünftig zu behandeln. Bei Rückenschmerzen oder Hals-Nasen-Ohren-Infektionen seien mehr als 80 Prozent der Klinikaufenthalte vermeidbar, glauben die Experten.

Aber es gibt auch eine Kehrseite: Zwar schienen die Kliniken in Bereichen wie der Notfallversorgung von Patienten besser aufgestellt als die Praxen niedergelassener Ärzte, andererseits werde dort eventuell vorschnell operiert, ohne vorher ambulante Möglichkeiten auszuschöpfen.  


Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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