Kossendeys Gegengewicht

Wer hat an der Uhr gedreht?

Stuttgart - 16.03.2016, 14:40 Uhr


Zuerst bist du niedlich. Du wirst gebadet, gehegt und gepflegt, jeder Wunsch wird dir von den Lippen abgelesen. Bist du alt, ist das meist komplett vorbei. Du nervst, wirst deinem Umfeld zur Last. Warum das so ist und was Ann-Katrin Kossendey-Koch bei der Erstellung eines Medikationsplanes noch so durch den Kopf ging, lesen Sie hier. 

Sie war eine selbstständige, lebensfrohe ältere Dame, die sich komplett selbst versorgt hat. Zeit ihres Lebens hat sie viel gearbeitet, brauchte selten Hilfe. Und dann, nach dem Schlaganfall und der wochenlangen Reha, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Aufmerksam wurde ich, als ich von einer der Töchter gefragt wurde, ob man der Mutter noch mehr Beruhigungsmittel geben könne. 

Von null auf zehn Arzneimittel

Da ich gerade meine ATHINA-Weiterbildung begonnen hatte, bat ich die Tochter, doch mal alle Medikamente mitzubringen, um einen Überblick zu bekommen. Zehn verschiedene Arzneimittel brachte die Tochter mit, alle einer Frau verordnet, die bis vor Kurzem noch gar keine Arzneimittel nehmen musste. Laut Anweisung in der Reha sollte die alte Dame bereits morgens sechs Tabletten bekommen, allerdings alle auf einmal und gemörsert. Wie gut das funktioniert, vor allem wenn noch Metoprololsuccinat-Retardtabletten dabei sind, weiß wohl jeder von uns. 

Neben all den üblichen Herz-Kreislaufmitteln bekam die Mutter auch Melperon-Saft. Die Tochter wollte wissen, warum der verordnet worden sei. Zumal die Mutter doch noch Bromazepam nehme. Sie sei aber auch sehr träge geworden und müde, sehr müde. Dafür war sie morgens immer schon um 6 Uhr wach, was unpraktisch sei, fand auch die polnische Pflegekraft. Nach fast schon detektivischem Nachfragen stellte sich raus, dass die Mutter das Melperon und das Bromazepam schon um 18 Uhr bekam, damit sie dann spätestens um 19 Uhr auch schläft, dass sie dann natürlich am frühen Morgen aufwacht, erschien leider nur mir logisch. 

(Foto: privat)
Ann-Katrin Kossendey-Koch

Miese Lebensqualität für Senioren

Der Grund für die Melperon-Gabe war, dass die Mutter teilweise auf die ihr angebotene Hilfe aggressiv reagierte. Eine Frau, die von heute auf morgen ihre Selbstbestimmung verliert und ab da fremdgesteuert leben muss, reagiert zornig. Da war mir eher unverständlich, warum sie nicht immer aggressiv war.

Nach ein paar Tagen Melperon, welches nun auch tagsüber gegeben wurde, war die Mutter den Kindern zu lethargisch. Ob ich nicht was zum Aufputschen hätte, schließlich sei Mutti früher so fit gewesen und nun sei sie so teilnahmslos. Ohne ATHINA und die Erstellung eines Medikationsplanes bleiben solche Einnahmefehler oder Neben- und Wechselwirkungen häufig unentdeckt, was die ohnehin schon miese Lebensqualität mancher Senioren noch verschlechtert.

Ich ordnete also den Medikamentenplan, telefonierte mit dem behandelnden Arzt, führte immer wieder lange Gespräche mit den Angehörigen, um die Einnahme der Arzneimittel zu erklären und um Verständnis für die alte Dame zu werben - mehr konnte ich nicht tun. 

Das Thema beschäftigt mich immer wieder, ganz aktuell haben wir einen Fall in der Apotheke, wo der Enkelsohn die Rechnungen für seine im Heim lebende Großmutter nicht zahlen will. Er ist der Vormund, verwaltet die Konten und die Rente seiner Oma, aber verantwortlich damit umgehen, das tut er nicht. Auch die Rechnungen vom Heim bleiben offen. Wenn die alte Dame wüsste, dass sie bei der Apotheke und beim Heim in der Kreide steht, sie würde sich abgrundtief schämen.

Weniger Recht als ein Baby

Warum mangelt es so vielen an Empathie und Feingefühl im Umgang mit den eigenen Verwandten? Die Missstände in der Pflege will ich hier gar nicht ansprechen, das würde den Umfang dieser Kolumne sprengen, auch da herrscht das gleiche Politikversagen wie in unserem Stand.

Für alte Leute ist nicht wirklich Platz in unserer Gesellschaft. Ich habe gerade einen guten Vergleich in der eigenen Familie. Unsere Jüngste war ab dem ersten Lebenstag stolze Besitzerin eines eigenen Zimmers, liebevoll von uns gestaltet, immer darauf achtend, keine Giftstoffe beim Renovieren zu verwenden. Gewickelt wird natürlich, sobald sich nur ein Hauch von Geruch wahrnehmen lässt. Alle ihre Entwicklungsschritte werden bejubelt, und mit Engelsgeduld werden immer wieder Gegenstände vom Fußboden aufgehoben, die sie mit voller Absicht und mit großer Freude hinwirft. Baden und eincremen ist ein Wellness-Ritual, und kann sie mal nicht einschlafen, dann wird sie getröstet, gewiegt und bekuschelt. Warum hat ein alter Mensch, der sein Leben gelebt und seine Kinder und eventuell auch seine Enkelkinder groß gezogen hat, weniger Rechte als ein Baby? 

Das Ende des Lebens

Kommt man ins Pflegeheim, sind es häufig Mehrbettzimmer ohne jegliche Intimsphäre. Bei Inkontinenz wird gewickelt nach Krankenkassen-Vorgabe, und ins Bett geht es am frühen Abend, ob man müde ist, interessiert niemanden. Wird der alte Mensch tüdelig oder vergesslich, dann reagiert das Umfeld genervt. Sind dunkle Gedanken, ja vielleicht auch Aggression nicht angemessen, wenn man merkt, dass der Körper nicht mehr so mitmacht oder der Geist nachlässt?

Das Ende des Lebens kann Angst machen, nicht nur dem Betroffenen, sondern auch den Angehörigen. Und das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum Neugeborene so viel besser behandelt werden als die dazu gehörigen Großeltern. Ein Baby ist niedlich, riecht gut und ist so herrlich putzig. Ein alter Mensch hingegen, erinnert uns an unsere eigene Vergänglichkeit, und das schreckt ab. Dabei tut es jedem Menschen gut, getröstet zu werden - egal wie alt er ist. Warum sollte ein alter Mensch weniger Liebe und Körperlichkeit brauchen als ein kleiner?

Meine Eltern sind noch sehr selbstständig, aber mir ist bewusst, dass sich das jeden Tag ändern kann. Ob ich dann in der Lage wäre, sie zu Hause zu pflegen, kann ich nicht sagen, da das ja immer von vielen Umständen, nicht zuletzt auch von der Erkrankung selbst, abhängig ist. Aber ich hoffe, dass ich die gleiche Liebe und Geduld aufbringe, die meine Eltern mir immer entgegengebracht haben. Und ich bin froh, dass ich als Apothekerin in der Lage bin, die notwendige Medikation professionell zu begleiten.  


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6 Kommentare

Heilberuf

von Christian Giese am 17.03.2016 um 15:07 Uhr

Offensichtlich doch noch ein Heil-und Hilfsberuf.
Danke Frau Kossendey für diese Beschreibung unserer täglichen Arbeit und unseres täglichen Gegenübers!
Wer niemals hinterm Tresen stand, wird diese Rückspiegelungen nicht kennen und auch damit nicht argumentieren können.
Danke Frau Kossendey!

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Wer hat an der Unr gedreht...?

von Inge Deufert am 17.03.2016 um 14:38 Uhr

Vielen Dank für dies tollen Zeilen. Dieser Artikel sollte auch in der sogenannten Laienpresse veröffentlicht werden. Er gibt viel Stoff zum Nachdenken und hält uns allen einen Spiegel vor. Ich persönlich bemühe mich um Geduld und Zuwendung im Umgang mit alten Menschen beruflich und privat, es gelingt mal besser und mal schlechter.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Vielen Dank

von Beatrix Mayer am 17.03.2016 um 12:24 Uhr

Vielen Dank, Frau Kollegin. Genau diese Gedanken habe ich mir schon sehr oft gemacht in den letzten 20 Jahren. Bei meinen Eltern ließ leider auch Einiges nach, aber da wir uns gegenseitig sehr lieben (ich nehme bewußt die Gegenwart, obwohl beide gestorben sind), habe ich sie liebevoll begleitet. Gestresst war ich manchmal schon, aber das haben beide verstanden. Ihnen wünsche ich alles Gute, falls bei Ihren Eltern diese Begleitungszeit kommt; ich habe es bei meinen Eltern auch als eine sehr gute Zeit noch miteinander erlebt.
Viele Grüße Beatrix Mayer

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Ich danke Ihnen...

von Ann-Katrin Kossendey-Koch am 17.03.2016 um 14:24 Uhr

Liebe Frau Mayer,
danke für dieses positive Beispiel, das macht Mut! Es geht auch anders, wie wunderbar!

Wer hat an der Uhr gedreht...?

von Jens-Wilhelm Salchow am 16.03.2016 um 18:57 Uhr

Vielen Dank für diesen wunderbaren Kommentar!
Ihr
JWS

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: :)

von Ann-Katrin Kossendey-Koch am 17.03.2016 um 14:26 Uhr

Dankeschön, lieber Herr Salchow!

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