DAZ: Und wie steht es um die Selbstverwaltung?
Kirchhof: Das deutsche Modell einer funktionellen Selbstverwaltung in der Gesundheitsversorgung ist sicher ein erfolgreiches Vorgehen, das sich historisch bewährt hat. Es bedarf allerdings parlamentarisch-gesetzlicher Grundentscheidungen wegen des Charakters der Krankenversicherung als Pflichtversicherung und wegen ihrer bedeutenden Aufgaben für unser Gemeinwesen. Die Zuweisung der Details des Leistungsrechts an die Autonomie der jeweiligen Versichertengemeinschaft fördert zweifellos sachnahe und akzeptierbare Leistungsregeln, denn sie beruhen auf der Partizipation ihrer Mitglieder. Probleme bereiten jedoch verbindliche Regeln über Beiträge, Leistungen und Leistungserbringer, die von Gremien und Verbänden außerhalb der Versichertengemeinschaft gebildet werden, damit die Partizipationslegitimation der Regeln verlassen und zur Fremdbestimmung über dritte Personen führen. Hier weisen Kassenverbände und Gemeinsamer Bundesausschuss ein Defizit auf, das noch nicht hinreichend diskutiert und gerichtlich bewertet wurde.
DAZ: Kürzlich hat Ihr Senat eine Verfassungsbeschwerde verworfen, in der es um die Erstattung eines Medizinproduktes ging, das der Gemeinsame Bundesausschuss nicht als erstattungsfähig einordnen wollte. Sie stützte sich unter anderem auf eine fehlende demokratische Legitimation des Gremiums. Ihr Senat befand die Beschwerde schon aus formalen Gründen für unzulässig. Doch er lässt anklingen, dass die vorgebrachten Zweifel „durchaus gewichtig“ seien…
Kirchhof: Die Entscheidung weist auf die oben geschilderten Bedenken zu einer in der Demokratie unzulässigen Fremdbestimmung hin, erklärt aber nicht das Regelungssystem für unzulässig. Die rechtswissenschaftliche Literatur wird hier deutlicher und kritisiert grundsätzlich, dass solchen Gremien die demokratische Legitimation zum Erlass von Leistungs- und Berufsregeln ohne Beteiligung der betroffenen Versicherten und Leistungserbringer fehlt.
DAZ: Wie könnten die Zweifel an der demokratischen Legitimation ausgeräumt werden?
Kirchhof: Am Anfang der Erwägungen sollte stehen, dass die Stärke des Gemeinsamen Bundesausschusses in seiner unbestrittenen, bedeutenden und bewährten fachlichen Kompetenz besteht. Auf sie sollten wir keinesfalls verzichten. Seinem demokratischen Defizit könnte man mit geringen Eingriffen in das bestehende Regelungssystem abhelfen, ohne seinen fachlichen Einfluss zurückzudrängen. Man könnte ihn zum Beispiel mit allen betroffenen Berufsgruppen besetzen, sodass dem Selbstverwaltungsgedanken wieder genügt würde. Es wäre auch möglich, ihn organisatorisch als eine Bundesoberbehörde unter der fachlichen Aufsicht des Gesundheitsministeriums zu organisieren, das dann die demokratische Verantwortung für seine Regeln trüge. Auch wäre zu erwägen, ob er seine Richtlinien als Vorschlag an das Ministerium richtet, welches sie dann in eigener demokratischer Verantwortung als Rechtsverordnung erlässt. Man könnte ihm auch eine eigene Befugnis zum Erlass solcher Rechtsverordnungen unter Aufsicht und mit Rückrufrecht des Ministeriums verleihen. Es gibt viele Möglichkeiten zur „minimalinvasiven“ Vermeidung undemokratischer Regelsetzung ohne Rücksicht auf Versicherte und Leistungserbringer. Wir sollten diese Frage aber in nächster Zukunft klären, damit auch im Gesundheitswesen die Bedenken hinsichtlich des Demokratieprinzips ausgeräumt werden und die Betroffenen autonom über ihre eigenen Angelegenheiten entscheiden können.
DAZ: Was halten Sie von der Idee, dass auch Apotheker einen Platz im Gemeinsamen Bundesausschuss wollen?
Kirchhof: Selbstverwaltung heißt Entscheidung der Betroffenen über ihre eigenen Angelegenheiten und schließt Fremdbestimmung aus. Wenn berufsrelevante Regeln erlassen werden, kann das nur durch das allgemein demokratisch legitimierte Parlament oder durch ein Gremium unter Beteiligung der betroffenen Berufsgruppe geschehen.
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