- DAZ.online
- News
- Pharmazie
- Hat recht, wer heilt
Wer heilt, hat recht. Gegner der evidenzbasierten Pharmazie nutzen diese Aussage gerne als vermeintlich ultimatives Totschlagargument. Denn wenn es dem Patienten nach der Behandlung besser geht, muss das Mittel doch wirksam sein. Hinter dieser Annahme steckt aber ein logischer Fehlschluss.
Auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause steht ein kleines Mädchen an der Fußgängerampel. Es hat schon vor einer ganzen Weile den Knopf gedrückt, aber es wird und wird nicht grün. Das Mädchen verliert langsam die Geduld und greift zu einem Mittel, das es von seinen Kinder-Hörspielen kennt: „Hex hex, werde grün“. Die Umstehenden lachen zwar, aber die Ampel springt um. Das Mädchen wiederholt den Zauberspruch daraufhin jeden Tag – und es funktioniert zuverlässig immer wieder.
Dass das kleine Mädchen über magische Fähigkeiten verfügt, wird vermutlich keiner glauben. Die Geschichte illustriert aber sehr anschaulich die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung: Wenn zwei Ereignisse zeitlich kurz nacheinander passieren, neigen wir zu der Annahme, dass auch ein kausaler Zusammenhang besteht. Ein Beispiel: Ein Patient nimmt ein Mittel ein und kurze Zeit später verbessert sich der Gesundheitszustand. Hier drängt sich der Verdacht auf, dass die Ursache dafür in der Einnahme des Arzneimittels liegt. Das muss allerdings nicht unbedingt stimmen, denn es gibt noch eine ganze Reihe von alternativen Erklärungen.
Unspezifische Effekte
In der Selbstmedikation suchen Patienten häufig dann Rat und Hilfe in der Apotheke, wenn die Beschwerden am schlimmsten sind. In den meisten Fällen ist zu erwarten, dass sich die Symptome aber auch ohne Intervention zeitnah verbessern würden, wenn es sich um selbstlimitierende Erkrankungen handelt. Nimmt der Patient zu diesem Zeitpunkt ein Arzneimittel ein, lässt sich nur durch die Beobachtung allein nicht sicher unterscheiden, welcher Teil der verbesserten Symptome durch das eingenommene Mittel und welcher Teil durch den natürlichen Krankheitsverlauf entsteht.
Ähnliche Phänomene gibt es auch bei chronischen
Erkrankungen, bei denen der Schweregrad der Beschwerden häufig schwanken kann.
Besonders deutlich wird das bei chronischen Erkrankungen, die schubweise
verlaufen: Auf Krankheitsphasen mit hoher Intensität folgen Zeitabschnitte mit
eher milden Beschwerden. Nimmt der Patient in den Phasen mit hoher
Krankheitsaktivität ein Mittel ein, überschneidet sich dessen Wirkung mit dem
natürlichen Rückgang der Symptome („Regression zur Mitte“).
Eine Messung der Symptome vor und nach der Behandlung beinhaltet dann immer
zusätzlich diese Schwankungen, die nicht auf das eingenommene Medikament zurückgehen.
Daneben gibt es auch eine Reihe von Therapieeffekten, die nicht auf den eigentlichen Wirkstoff, sondern den Prozess der Behandlung zurückzuführen sind – hier spricht man von sogenannten „unspezifischen Therapieeffekten“. Dazu gehört zum Beispiel der „Hawthorne Effekt“: Er entsteht dadurch, dass Patienten Zuwendung durch Apotheker, PTA, Arzt oder Krankenschwester erhalten und sie das Gefühl haben, dass etwas gegen die Erkrankung unternommen wird. Bei medizinischen Interventionen kommt außerdem der hinlänglich bekannte Placebo-Effekt hinzu, bei dem die Erwartunghaltung der Patienten eine wichtige Rolle spielt – und die lässt sich auch auf Dritte übertragen („Placebo by Proxy“).
Kontrolle ist besser
Wie lassen sich jetzt spezifische Therapieeffekte und andere Ursachen unterscheiden? Um das quantitativ abschätzen zu können, sind klinische Studien und eine ganze Reihe von Vorkehrungen nötig: Die wichtigste ist eine Kontrollgruppe, in der die Patienten sich möglichst wenig von denen in der Behandlungsgruppe unterscheiden. Bis auf das zu untersuchende Arzneimittel müssen die Patienten in den beiden Gruppen die gleiche Behandlung und Zuwendung erhalten, etwa gleich häufige Untersuchungen oder die gleichen begleitenden Maßnahmen. Um den Einfluss der Erwartungshaltung weitestgehend zu eliminieren, dürfen weder Ärzte noch Pflegepersonal noch die Auswerter noch die Patienten selbst wissen, zu welcher Gruppe sie gehören (Verblindung).
Wenn auf diese Weise etwa eine Gruppe ein neues Arzneimittel und die andere Placebo erhält, lässt sich sehr gut erkennen, welcher Anteil der beobachteten Wirkung tatsächlich ein spezifischer Therapieeffekt ist und welcher Anteil durch unspezifische Effekte oder den natürlichen Krankheitsverlauf entsteht. Und je nach Krankheitsbild können diese beiden letzten Aspekte einen beträchtlichen Teil des Gesamteffekts ausmachen.
Vorsicht vor Trugschlüssen
Zeitlicher Zusammenhang bedeutet nicht immer einen kausale Beziehung. Die Wirkungen, die sich nach der Einnahme eines Arzneimittels beobachten lassen, setzen sich zusammen aus natürlichem Krankheitsverlauf, den unspezifischen und den spezifischen Therapieeffekten. Bei reinen Vorher-Nachher-Beobachtungen lässt sich deshalb nicht sicher sagen, ob es dem Patienten wegen oder trotz des Arzneimittels besser geht. Wer heilt, hat also nicht immer recht. Manchmal hat er auch nur Glück gehabt.
3 Kommentare
Wer NACHWEISLICH heilt, hat Recht...
von Julius Senegal am 14.11.2019 um 18:49 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten
So schlecht ist die Aussage doch gar nicht...
von Philipp Flüs am 08.06.2016 um 12:52 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort
AW: Der hat recht.
von ÜberFall am 08.06.2016 um 23:15 Uhr
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.