Demenz-Forschung

SPD sucht Kompromiss für Ethik-Streit

Stuttgart - 15.06.2016, 19:00 Uhr

Stark umstritten: Inwieweit dürfen nicht-einwilligungsfähige Menschen bei Forschungsprojekten einbezogen werden? (Foto: Klaus Eppele / Fotolia)

Stark umstritten: Inwieweit dürfen nicht-einwilligungsfähige Menschen bei Forschungsprojekten einbezogen werden? (Foto: Klaus Eppele / Fotolia)


Darf in bestimmten Fällen an Patienten mit geistigen Beeinträchtigungen geforscht werden, ohne dass dies ihnen selber nützt? Pläne der Bundesregierung sind stark umstritten – und halten derzeit die AMG-Novelle auf. Die Große Koalition ist auf der Suche nach Alternativen.

Umstrittene Einführung bisher ohne ausreichende Debatte

Die Bundesregierung will im Rahmen der AMG-Novelle Forschung an Erwachsenen in bestimmten Situationen erlauben, auch wenn sie selber nicht mehr einwilligen können – und selber keinen Nutzen davon haben. Dies wurde von Ethikern, Patientenschützern und Kirchen als Verstoß gegen die Menschenwürde hingestellt – und auch innerhalb der Koalition ist der Schritt stark umstritten. So stoppte Fraktionschef Volker Kauder die Verabschiedung der laufenden AMG-Novelle: Beim Lebensschutz dürfe man „keinen Zentimeter zurückweichen“.

Dabei haben Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und Bundesforschungsministerin Johanna Wanka durchaus einige Hürden ins Gesetz eingebaut: Die Forschung soll nur erlaubt werden, wenn sie die Krankheiten der Probanden betrifft – und wenn diese vorab per Patientenverfügung eingewilligt haben, später an Studien teilzunehmen, wenn sie beispielsweise an einer Demenz erkranken. Ziel ist es, mehr Arzneimittelstudien zu neuen Wirkstoffen zu ermöglichen, die im Spätstadium einer Demenz oder bei Stoffwechselerkrankungen helfen, die zu geistigen Beeinträchtigungen führen.

Ein falscher Weg

„Ich halte es für falsch, die gruppennützige Forschung auf diesem Weg einzuführen“, sagt hingegen SPD-Gesundheitspolitiker Dirk Heidenblut gegenüber DAZ.online. Einerseits würden ihn persönlich die Argumente nicht überzeugen, dass es tatsächlich Bedarf gibt: So erklärt beispielsweise der Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (vfa), dass auch klinische Studien mit Placebo-Gruppe so konzipiert werden könnten, dass sie allen Teilnehmern einen individuellen Nutzen bringen.

Andererseits ist Heidenblut erstaunt, auf welchem Weg gruppennützige Forschung erlaubt werden sollte: Während der Referentenentwurf diese bei Erwachsenen noch gänzlich ausschloss, ist in der Begründung des Regierungsentwurfs des Gesetzes nicht erklärt, warum dieser heikle Punkt nun geändert werden soll. Es wird nur darauf verwiesen, dass die neue EU-Verordnung nationalen Regierungen einen Regulierungsspielraum einräumt. Auch sollte die AMG-Novelle – mit anderen gleichfalls umstrittenen Änderungen bei Ethik-Anforderungen – abends und nur für eine halbe Stunde im Bundestag beraten werden.

Dies ist nun erstmal abgeblasen. Derzeit diskutiert die Große Koalition Alternativen zu dem bisherigen Entwurf. So hat SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach einen Vorschlag vorgelegt. „Wir wollen die offenen Fragen und ethischen Bedenken jetzt ohne Zeitdruck klären, damit wir zu einer gereiften und guten Entscheidung kommen können“, schreibt Lauterbach an die Genossen seiner Fraktion. Viel Zeit bleibt jedoch nicht, denn die AMG-Novelle soll eigentlich noch vor der Sommerpause beschlossen werden. Der aktuelle Plan sieht vor, dass der Gesetzesentwurf mit Änderungsanträgen in der ersten Juliwoche sowohl vom Gesundheitsausschuss als auch dem Bundestag verabschiedet werden soll.

Kein ausreichender Schutz

„Unsere Position bleibt es, die gruppennützige Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen grundsätzlich zu verbieten und nur ausnahmsweise unter strengsten Schutzvorgaben neue klinische Prüfungen zu ermöglichen“, schreibt Lauterbach. So sollen Millionen demenzerkrankter Menschen am medizinischen Fortschritt teilhaben und eine Chance auf Heilung bekommen. Doch der Gesetzentwurf des Kabinetts schütze Demenzkranke aus seiner Sicht nicht ausreichend. Der SPD-Politiker macht sich dafür stark, dass bei jeder Studie eine Ethik-Kommission prüfen muss, ob die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden.

Die SPD will auch das Instrument der Patientenverfügung nicht für diese Zwecke nutzen – für Heidenblut ist es falsch, beides zu verbinden. Von vielen Seiten wird inzwischen nämlich gefordert, dass eine verpflichtende Aufklärung nötig sein soll, um an gruppennütziger Forschung teilzunehmen. Dies erschwere die weitere Verbreitung von Patientenverfügungen unnötig, befürchtet Heidenblut. So sieht auch der Lauterbach-Vorschlag vor, dass die Einwilligung in einem gesonderten Dokument festgehalten werden soll – beispielsweise in einer Vorsorgevollmacht oder Betreuungsverfügung.

Ist der umstrittene Schritt überhaupt nötig?

Umstritten bleibt weiterhin, ob es überhaupt Bedarf für die aktuell diskutierte Lockerung gibt. Gegenüber DAZ.online sagte der Psychiater Wolfgang Maier, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Bonn, dass einige wichtige Arzneimittelstudien aktuell in Deutschland nicht durchgeführt werden können. Dies betrifft solche, bei denen beispielsweise Wirkstoffe für leichte Demenzformen auch für Patienten mit schwerer Demenz erforscht werden sollen – die aber von der Studie selber nicht unbedingt profitieren, so dass nur ein Gruppennutzen vorhanden ist. „Der potenzielle, individuelle Nutzen reicht nicht aus – der spezifische individuelle Nutzen muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erreichbar sein“, sagte Maier. Insbesondere für Patienten, die im Rahmen einer Placebo-Studie nur ein Scheinmedikament bekommen, sei dies nicht gegeben.

„Wenn Placebo in Demenzstudien unserer Firmen vorkommen, dann nicht so, dass einigen Patienten eine Behandlung vorenthalten würde“, erklärt hingegen der vfa. Vielmehr erhielten alle Patienten die gleiche Grundbehandlung, die dem aktuellen medizinischen Stand entspräche – eine Gruppe zusätzlich das neue Medikament, die andere ein Placebo. Dazu käme, dass alle Teilnehmer vor, während und nach der Studie umfassender untersucht und intensiver betreut werden, als das in der Routineversorgung möglich ist. „Deshalb können unsere Firmen klinische Studien mit Demenzpatienten so konzipieren, dass sie allen Teilnehmern einen individuellen Nutzen bringen“, schreibt der vfa auf Nachfrage. 

Das Forschungsministerium sieht keinen individuellen Nutzen

Wenn für die Zulassung eines neuen Wirkstoffs die Dosis und Stoffwechselwege untersucht werden, hätten die Probanden keinen individuellen Nutzen von den Studien, schreibt hingegen das Bundesforschungsministerium auf Nachfrage. Auch sei im Einzelfall nicht immer klar, ob Placebo-kontrollierte Studien tatsächlich für alle Teilnehmer einen Eigennutzen haben. Das Ministerium verweist darauf, dass es Unterschiede zwischen kommerziell ausgerichteter und akademischer Forschung gäbe – letztere beurteile den Forschungsbedarf stärker aus der Behandlungssituation. „Es geht nicht vorrangig um neue Medikamente, es geht um Therapiesicherheit und Wirksamkeit für die spezielle vulnerable Gruppe“, erklärt das Ministerium. 

Keine einfachen Antworten

Auch die Juristin Scarlett Jansen sagt, dass es umstritten sei, ob bei Placebo-Studie ein individueller Nutzen besteht. „Jedenfalls ist es denkbar, dass die Krankheit so weit fortgeschritten ist, dass die Person keinen Nutzen mehr aus der Studie ziehen kann, etwa weil sie vorher verstirbt“, erklärt Jansen gegenüber DAZ.online – sie hat zum Thema gruppennütziger Forschung promoviert. Ihrer Einschätzung nach ist fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen – bei ausreichenden Schutzmaßnahmen – nicht zwingend ein Tabu.

„Darauf gibt es auch keine einfache Antwort im Sinne eines richtig oder falsch“, antwortet der Medizinrechtler Sebastian von Kielmansegg auf die Frage, ob es in Placebo-kontrollierten Studien einen individuellen Nutzen gäbe. Die beteiligten Kommentatoren hätten unterschiedliche Vorstellungen davon, wann noch ein Eigennutzen vorliegt und wann schon nicht mehr. Es sei möglich, im Rahmen der neuen EU-Verordnung für klinische Studien den Eigennutzen weiter zu verstehen als nach bisherigem Recht. Dann sei die Option des Gruppennutzens für die Forschung etwas weniger wichtig. „Aber das ist alles noch nicht ausgelotet“, erklärt von Kielmansegg.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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