Pharmazie

Im Mittelpunkt steht immer der Patient

Tübingen / Stuttgart - 20.09.2016, 13:00 Uhr

Alles vorbereitet für den aktuellen Kurs „clinical pharmacy" in Tübingen – 23 Apotheker erhielten einen Platz. (Foto: cel / DAZ.online)

Alles vorbereitet für den aktuellen Kurs „clinical pharmacy" in Tübingen – 23 Apotheker erhielten einen Platz. (Foto: cel / DAZ.online)


Was sind Möglichkeiten und Grenzen der Klinischen Pharmazie bei onkologischen und geriatrischen Patienten und bei der Umsetzung antiinfektiver Leitlinien? Dieser Frage widmete sich das Symposium „Klinische Pharmazie“, das am vergangenen Wochenende erstmalig in Tübingen stattfand. 

Am vergangenen Montag startete der 20. Kurs Clinical Pharmacy in Tübingen – Anlass für die Landesapothekerkammer Baden-Württemberg und die Uni Tübingen zum ersten Symposium „Klinische Pharmazie“ einzuladen.

Im Mittelpunkt der klinisch-pharmazeutischen Betreuung steht der Patient. Welche Fragen beschäftigen Patienten? Nicht immer sind es dieselben, die auch Apothekern und Ärzten spannend erscheinen. Was ist für einen Krebspatienten wichtig? Professor Hans-Peter Lipp aus Tübingen stellte eben diese Frage den rund 180 Besuchern des Symposiums „Klinische Pharmazie“ zu Beginn seines Vortrags „Der Krebspatient in der Apotheke – Möglichkeiten und Grenzen der klinisch-pharmazeutischen Betreuung?“ am Samstag an der Hochschule Tübingen. Einen Patienten quälten seiner Erfahrung nach weniger die genauen Wirkmechanismen seiner Therapien, sondern zunächst einmal die existenzielle Frage: „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“ Lipp mahnte, dass es auch Aufgabe der Apotheker sei, diesen Fragen zu begegnen – und sie diese nicht allein dem behandelten Arzt zuweisen dürften.

Daneben beobachtet der Chefapotheker des Uniklinikums Tübingen zunehmend eine Entwicklung zu einem äußerst mündigen und informierten Patienten – dank „Dr. Google“. So seien auch in der Offizin tätige Apotheker verstärkt mit detaillierten Patientenfragen zu Therapieschemata konfrontiert: Wie wird zum Beispiel ein tripelnegatives Mammakarzinom optimal therapiert? Bei derart komplexen Fragen könnten Apotheker sich zunächst an die Regionalen Arzneimittelinformationszentren (RAIZ) wenden, empfiehlt der Klinikapotheker.

Professor Hans-Peter Lipp, Chefapotheker Uniklinik Tübingen

Keine Wirkung ohne Nebenwirkung?

Auch verunsicherten die neuen Therapieoptionen mit Antikörpern die Patienten von Zeit zu Zeit. Antikörper-basierte Therapien gehen nicht unbedingt mit den typischerweise assoziierten Nebenwirkungen einer klassischen zytostatischen Therapie wie starkes Erbrechen oder Haarausfall einher. Kann eine Chemo dann überhaupt wirken? Wirkt Bortezomib auch, wenn es lediglich unter die Haut gespritzt und nicht wie früher intravenös verabreicht wird? Das seien Fragen, die an ihn herangetragen würden. Hier sei die Kompetenz des Apothekers gefragt, den Patienten – im Fall von Bortezomib – zu beruhigen und ihm die Korrektheit der Therapie zu versichern.

Eine gute Betreuung onkologischer Patienten endet nach Ansicht Lipps nicht mit der alleinigen Therapie des Tumors – auch ein sorgfältiges Management der Wechsel- und Nebenwirkungen gehört dazu. So benötige Erlotinib einen sauren Magen-pH für eine zuverlässige Resorption, was letztendlich Voraussetzung für die Wirksamkeit des Tyrosinkinaseinhibitors ist, führt der Klinikapotheker beispielhaft auf. In dem Zusammenhang bewertet Lipp insbesondere die der Selbstmedikation zugänglichen Protonenpumpenhemmer (PPI) kritisch. 20 bis 30 Prozent der Tyrosinkinaseinhibitoren im Arzneimittelmarkt interagierten mit PPIs – ein Umstand dem Zulassungsbehörden durch das Einfordern von Studiendaten bereits vor Zulassung begegnen müssten. Beim Handling der Nebenwirkungen sieht der Klinikapotheker gerade bei der antiemetischen Begleitmedikation enormen Beratungsbedarf. Die Antiemese sei häufig schlecht umgesetzt und nicht als Prophylaxe verstanden – obwohl gute Leitlinien und gute Arzneimittel gegen Übelkeit und Erbrechen bei Chemo- oder Strahlentherapie existierten.

Grenzen der Leitlinien beim Patienten 

Somit kann trotz guter Leitlinien eine Therapie nicht optimal für den Patienten sein. Insbesondere bei multimorbiden geriatrischen Patienten ist es schwierig, die Empfehlungen der Leitlinien stets adäquat umzusetzen. Das machte Prof. Dr. Katja Taxis von der Universität im niederländischen Groningen mit ihrem Thema „Arzneimitteltherapie im Alter“ deutlich. Eine leitliniengerechte Therapie umfasse in der Regel lediglich eine Indikation. Eine Voraussetzung, die bei vielen älteren Patienten nicht vorliegt. Berücksichtige man bei multimorbiden Patienten alle leitlinienkonformen Therapien, hätte der Patient rasch 15 Arzneimittel gleichzeitig einzunehmen – und hierzu fehlten die Studien.

In diesem Zusammenhang stellt Taxis das Holmes-Modell vor. Dieses Modell wägt die individuelle Lebenserwartung des Patienten, die Therapieziele, den Arzneimittelnutzen und das Arzneimittelbehandlungsziel gegeneinander ab. Es bildet die Basis für eine Therapieentscheidung, welche Arzneimittel dem Patienten in seiner Lebenslage gerecht werden. Nicht ungeachtet lassen dürfe man den jeweiligen individuellen Wunsch des Patienten, betont die Professorin für Arzneimitteltherapie und Klinische Pharmazie. Die Kunst bestehe wohl letztendlich darin, diese Faktoren zusammenzuführen und möglichst optimal in der Pharmakotherapie zu realisieren. 

„Leitlinien sind keine Leidlinien“

Auch Christiane Querbach, Apothekerin am Klinikum rechts der Isar in München, zeigte die Grenzen eines wünschenswerten „Leitliniengerechten Antibiotikaeinsatzes“ auf – und zwar noch auf einer Ebene, bevor die Therapie den Weg zum Patienten findet. Das könne damit beginnen, dass für manche Indikationen schlichtweg keine Leitlinien existierten, wie für Infektionen in der Schwangerschaft oder komplizierte Harnwegsinfektionen. Andere Guidelines seien seit Jahren abgelaufen oder derzeit in der Aktualisierung. Verantwortlich hierfür könnten mangelnde personelle und finanzielle Ressourcen sein, erklärt die ABS-Expertin (Antibiotic Stewardship) mögliche Ursachen.

Nicht abschließend geklärt sei auch die Frage, ob die Übertragung internationaler antiinfektiver Leitlinien so einfach möglich ist und lokalen Gegebenheiten gerecht würden. Als Herausforderung sieht die Apothekerin außerdem, Updates bei Leitlinien zeitnah und interdisziplinär zu kommunizieren und tatsächlich umzusetzen.

Dennoch ist das Resumée der Klinikapothekerin „Infektiologische Leitlinien sind keine Leidlinien“. Trotz bestehender Lücken im Leitliniensystem sieht Querbach in den Leitlinienempfehlungen ein wichtiges Instrument für die Qualität im Gesundheitssystem,

Zertifikatskurs Clinical Pharmacy in Tübingen

Seit 20 Jahren bietet die Universität Tübingen klinisch-pharmazeutisch interessierten Apothekern die Möglichkeit, sich in diesem Bereich zu spezialisieren. Initiiert wurde die Weiterbildung bereits 1996 von Prof. Lutz Heide, der den Lehrstuhl für Pharmazeutische Biologie in Tübingen innehat. Die Landesapothekerkammer fördert die Weiterbildung bereits von Beginn an. Als Weiterbildungsbeauftragter der LAK sicherte Patrick Schäfer auch für zukünftige Kurse der Clinical Pharmacy die finanzielle Unterstützung der Kammer zu. Der Kurs Clinical Pharmacy findet einmal jährlich im Herbst statt. 60 Anmeldungen hatte Dr. Kerstin Seeger, die organisatorische Hand hinter der Klinischen Pharmazie, für den aktuellen Kurs – 23 Apotheker erhielten einen Platz. 



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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