EU-Gesundheitsbericht

In Deutschland gibt es keinen Grund zur Klage

Brüssel - 29.11.2016, 07:20 Uhr

Nach dem Bericht sterben in der EU jedes Jahr 550.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter an potenziell vermeidbaren Krankheiten. (Foto: Gerhard Seybert / Fotolia)

Nach dem Bericht sterben in der EU jedes Jahr 550.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter an potenziell vermeidbaren Krankheiten. (Foto: Gerhard Seybert / Fotolia)


Mehr als eine halbe Million Europäer unter 65 Jahren sterben jedes Jahr, weil sie Gesundheitsrisiken eingehen oder nicht gut behandelt werden. Die Gesundheitssysteme in der EU müssen effektiver, einfacher zugänglich und belastbarer werden. Dies ist das Hauptfazit des gemeinsamen Berichts der Europäischen Kommission und der OECD „Gesundheit auf einen Blick: Europa 2016“. 

Der alljährlich erscheinende Bericht „Gesundheit auf einen Blick“ ist ein wichtiger Gradmesser für die Leistungsfähigkeit der europäischen Gesundheitssysteme. Die Ausgabe „Health at a glance: Europe 2016“ gibt Auskunft über die jüngsten Entwicklungen in allen 28 EU-Mitgliedstaaten sowie von fünf Kandidatenländern und drei Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation. 

Lebenserwartung deutlich gestiegen

Nach dem neuen Bericht ist die Lebenserwartung in den EU-Ländern seit dem Jahr 1990 um mehr als sechs Jahre gestiegen, nämlich von knapp 75 auf fast 81 Jahre im Jahr 2014. Personen in den westeuropäischen Ländern mit der höchsten Lebenserwartung leben im Durchschnitt nach wie vor mehr als acht Jahre länger als Menschen in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Dies ist natürlich zu begrüßen, bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich.

Systeme müssen belastbarer werden

Der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahren in der gesamten EU ist zwischen 1960 und 2015 von unter 10 auf fast 20 Prozent angewachsen. 2060 könnte er bei 30 Prozent liegen. Schon jetzt leiden schätzungsweise rund 50 Millionen EU-Bürger an zwei oder mehr chronischen Erkrankungen. Die Gesundheitssysteme müssen deshalb belastbarer werden, fordert der Bericht. Als gangbare Optionen werden der Ausbau von E-Health-Angeboten, kürzere Krankenhausaufenthalte durch die Verbesserung der Primärversorgung sowie ein bedachterer Einsatz von Ressourcen für Arzneimittel angeführt.

Deutschland: Gesundheitsausgaben wachsen mit dem BIP

Auch finanziell wird mehr investiert werden müssen. In den letzten zehn Jahren hat der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in der EU28 von im Schnitt 8,7 Prozent auf 9,9 Prozent zugenommen (2015), und er dürfte nach Einschätzung der Experten des Berichts in den nächsten Jahren weiter wachsen. Deutschland rangiert derzeit gemeinsam mit Schweden in der EU am oberen Ende (11,1 Prozent), dicht gefolgt von Frankreich (11 Prozent) und den Niederlanden (10,8 Prozent), und Rumänien am unteren Ende (5 Prozent). Zwischen 2009 und 2015 sind die pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheit in Deutschland inflationsbereinigt um zwei Prozent pro Jahr angestiegen. Dies entspricht etwa dem BIP-Wachstum und liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt von jährlich 0,7 Prozent.

Jeder Sechste ist fettleibig

Eine weitere Kernbotschaft des Berichts ist, dass die Gesundheitssysteme in Zukunft effektiver werden müssen, um den aktuellen Entwicklungen wirksam gegensteuern zu können: Jeder sechste Erwachsene in der EU ist fettleibig (Stand 2014). Im Jahr 2000 war es „nur“ jeder neunte. Rund ein Fünftel der Bürger raucht nach wie vor. In Sachen Alkoholkonsum bei erwachsenen Personen liegt in Deutschland leicht über dem EU-Durchschnitt von zehn Litern reinem Alkohol pro Jahr, aber regelmäßiger exzessiver Alkoholkonsum in hierzulande weiter verbreitet als in den meisten anderen EU-Staaten. Diese und andere Risikofaktoren erhöhen die Risiken für nicht-übertragbare Krankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes und Krebs beträchtlich, und zwar nicht nur für Ältere.

Nach dem Bericht sterben in der EU jedes Jahr 550.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter an potenziell vermeidbaren Krankheiten. Daraus entstehen für die Volkswirtschaften jährliche Kosten von ca. 115 Milliarden Euro. 87.000 Todesfälle bzw. 21 Milliarden Euro entfallen hiervon auf Deutschland (2013). Das deutsche Präventionsgesetz wird angesichts dessen in dem Bericht als „Schritt in die richtige Richtung“ bezeichnet.

Zahl der Fachärzte nimmt schneller zu als die der Hausärzte

Außerdem müssen die Gesundheitssysteme einfacher zugänglich werden. Zwar werden die Kosten für eine Reihe grundlegender Versorgungsleistungen in den meisten Ländern von den Versicherungen getragen, aber die Bandbreite der Leistungen ist sehr unterschiedlich. Die Anzahl der Ärzte pro Kopf ist seit dem Jahr 2000 ist in fast allen EU-Ländern gestiegen, und zwar im Durchschnitt um 20 Prozent (von 2,9 Ärzten je 1000 Einwohner im Jahr 2000 auf 3,5 im Jahr 2014). Dabei hat die Anzahl der Fachärzte schneller zugenommen als die der Hausärzte. Heute kommen in allen EU-Ländern auf einen Allgemeinarzt mehr als zwei Fachärzte. Trotzdem werden Personen in ländlichen und abgelegenen Gebieten häufig nicht ausreichend medizinisch versorgt. 

Deutsche nutzen ihr Gesundheitssystem ausgiebig

Deutschland bescheinigt der Bericht diesbezüglich paradiesische Verhältnisse. Sowohl die Ärztedichte (4,1 je 1000 Einwohner) als auch die Zahl der Krankenhausbetten (8,2 je 1000 Einwohner) liegen deutlich über dem EU-Durchschnitt von 3,5 bzw. 5,2 pro Einwohner. Der problemlose Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung sorgt für hohe Nutzungsraten medizinischer Dienstleistungen. Es gibt in Deutschland vergleichsweise viele Krankenhausbehandlungen und eine hohe Anzahl chirurgischer Eingriffe. So werden hierzulande beispielsweise mit Abstand die meisten Erweiterungen der Herzkranzgefäße (453 je 100.000 Einwohner) durchgeführt.

EU-Gesundheitskommissar fordert mehr Prävention

Bei der Vorstellung des Berichts in Brüssel plädierten EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis und OECD-Generalsekretär Ángel Gurría für mehr Investitionen insbesondere in die Vorbeugung von Krankheiten. 

Andriukaitis erklärte: „Der Bericht verdeutlicht, dass in der EU jedes Jahr viele Menschen an potenziell vermeidbaren Krankheiten sterben, die mit Risikofaktoren wie Rauchen oder Fettleibigkeit verknüpft sind.“ Gurría sorgt sich auch um die ungleiche Verteilung: „Wir müssen noch mehr unternehmen, um die Ungleichheiten beim Zugang und bei der Qualität der Versorgung zu verringern. Außerdem müssen die Ressourcen in den europäischen Gesundheitssystemen effizienter dorthin gelenkt werden, wo sie am meisten für die Gesundheit bewirken. Dies schließt auch die Vorsorge mit ein.“



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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