Interview Dr. Ulrich Schleicher (Mannschaftsarzt Hertha BSC)

Nehmen Profifußballer exzessiv Schmerzmittel ein?

Berlin - 20.03.2017, 11:45 Uhr

Schmerzmittel sind Ultima Ratio: Dr. Ulrich Schleicher, Mannschaftsarzt des Fußball-Bundesligisten Hertha BSC meint, dass in den meisten Vereinen so viele Kontrollmechanismen installiert sind, dass ein Schmerzmittel-Missbrauch bei Spielern schnell bemerkt werden könnte. (Foto: dpa)

Schmerzmittel sind Ultima Ratio: Dr. Ulrich Schleicher, Mannschaftsarzt des Fußball-Bundesligisten Hertha BSC meint, dass in den meisten Vereinen so viele Kontrollmechanismen installiert sind, dass ein Schmerzmittel-Missbrauch bei Spielern schnell bemerkt werden könnte. (Foto: dpa)


Über die Verwendung von Schmerzmitteln im Profifußball wird viel spekuliert: Werden Spieler regelmäßig „fitgespritzt“? Nehmen Fußballer vor Spielen prophylaktisch Analgetika zu sich, um auch mit leichten Verletzungen weiterspielen zu können? DAZ.online hat sich bei einem Mannschaftsarzt aus der Bundesliga, Dr. Ulrich Schleicher (Hertha BSC), über das Thema informiert. Schleicher meint: Seit einem tragischen Zwischenfall hat sich in der Liga einiges geändert.

Der Körper eines Spitzen-Fußballers muss teilweise bis zu 20 Jahren „funktionieren“: Ein bis zwei Mal die Woche treten die Sportler an, dazwischen gibt es zahlreiche Trainingseinheiten. Immer wieder kommt es zu schweren Verletzungen wie etwa Kreuzbandrissen oder Frakturen. Die Spieler leiden regelmäßig unter Schmerzen, die auch durch leichtere Blessuren wie Prellungen oder Verstauchungen entstehen.

Dass Profisportler häufig Schmerzmittel zu sich nehmen, um einsatzbereit zu sein, ist kein Geheimnis. Der exzessive Gebrauch von Schmerzmitteln insbesondere im Profifußball wurde aber durch einen dramatischen Fall vor etwa neun Jahren erstmals diskutiert. Bei Ivan Klasnic, damals Stürmer bei Werder Bremen, stellten Ärzte im Jahr 2007 bei einer Blinddarm-OP schlechte Nierenwerte fest. Die Situation verschlimmerte sich, Klasnic litt unter einer Niereninsuffizienz, er erhielt eine Spenderniere, die sein Körper abstieß. Erst die zweite Spenderniere seines Vaters akzeptierte sein Körper. Nachdem er wieder gesund war, gab Klasnic einen jahrelangen, exzessiven Schmerzmittel-Missbrauch zu. Der Trainer von Eintracht Frankfurt, Niko Kovac, brachte das Thema jüngst wieder auf die Tagesordnung, indem er sagte, dass Spieler ohne Analgetika gar nicht spielen könnten.

DAZ.online sprach mit Dr. Ulrich Schleicher, Mannschaftsarzt bei Hertha BSC, über die Anwendung von Schmerzmitteln in der Fußball-Bundesliga. Schleicher gibt offen zu, dass auch in Berlin Spieler „fitgespritzt“ werden und auch gelegentlich prophylaktisch Ibuprofen vor den Spielen einnehmen. Allerdings gebe es inzwischen so engmaschige Gesundheitskontrollen, dass ein Arzneimittel-Missbrauch (auch im Bereich der Selbstmedikation) seiner Meinung nach schnell erkannt werden könnte.

DAZ.online: Lieber Hr. Dr. Schleicher, ist es wirklich so, dass Fußballprofis ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, weil sie sich dauerhaft mit Schmerzmitteln zuschütten?

Schleicher: Ich weiß nicht, wie der Fall „Klasnic“ aus medizinscher Sicht genau abgelaufen ist. Diese dramatische Geschichte scheint mir aber doch ein Einzelfall zu sein. Ich habe das in diesem Ausmaß noch nicht wieder beobachtet.

DAZ.online: Also gehen Sie davon aus, dass der Einsatz von Schmerzmitteln im Profifußball eigentlich gar kein Problem ist?

Schleicher: Nein, auch für uns ist das natürlich ein bedeutendes Thema, das wir als Verein ständig im Blick haben. Der Fall „Klasnic“ hat allerdings dazu beigetragen, die Problematik stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Grundsätzlich haben die Vereine starke Kontrollmechanismen in der Anwendung von Schmerzmitteln installiert und denken darüber nach, wie und in welchen Situationen Schmerzmittel überhaupt nötig sind.

„Schmerzmittel sind die Ultima Ratio“

DAZ.online: Warum sind Analgetika im Fußball denn überhaupt ein Thema? Hat Niko Kovac wirklich Recht, wenn er sagt, dass Spieler ständig unter Schmerzen spielen müssten, wenn sie nicht regelmäßig Arzneimittel einnähmen?

Schleicher: Ich kann das natürlich nur für meinen Verein beantworten. Aber die körperliche Belastung der Spieler durch die Summe der Spiele ist schon hoch. Insbesondere in englischen Wochen kommt es dazu, dass die Spieler beispielsweise eine Prellung bis zum nächsten Spiel gar nicht auskurieren können. Da hat der Fußball aber kein Alleinstellungsmerkmal. Denken Sie an Sportarten wie Eishockey oder Handball, da ist die Spielfrequenz noch viel höher.

DAZ.online: Und wenn ein Spieler nach einem Samstagsspiel mit Schmerzen zu Ihnen kommt, bekommt er dann grundsätzlich Schmerzmittel, damit er am Mittwoch wieder spielbereit ist?

Schleicher: Nein, grundsätzlich ist es unser Ziel, die Spieler ohne Schmerzmittel zu kurieren. Es hat sich in den vergangenen Jahren auch unheimlich viel getan im Profifußball. Es wird viel mehr Wert auf Regeneration gelegt, die Medikation ist Ultima Ratio.

Hertha-Mannschaftsarzt Ulrich Schleicher hier bei der Behandlung von Salomon Kalout. (Foto: dpa)

DAZ.online: Welche Maßnahmen kommen denn vor der Medikation?

Schleicher: Wir haben bei Hertha BSC mehrere Mitarbeiter, die sich intensiv mit der Regeneration der Spieler beschäftigen. Dazu gehören drei Physiotherapeuten und zwei Sporttherapeuten. Die Spieler erhalten Massagen, sie erhalten regelmäßige Entmüdungsbäder. Außerdem werden zur muskulären Regeneration Fahrradfahren und leichtes Laufen angeboten. Dazu nehmen wir regelmäßig Blut bei den Spielern ab, um beispielsweise anhand der Kreatinkinase zu messen, ob zum Beispiel eine Überbelastung vorliegt. Die Vereine stecken einfach mehr Geld in die Vor- und Nachsorge von Verletzungen. Grundsätzlich wird bei jeder Verletzung eine gründliche Untersuchung einschließlich Röntgen und Kernspintomografie durchgeführt, um wesentliche Verletzungen festzustellen, die sonst durch die einfache Gabe von Schmerzmitteln verdeckt werden könnten.

Diagnostik - Reha - Schmerzmittel

DAZ.online: Das heißt: Erst dem Problem der Schmerzen auf den Grund gehen, dann gibt es ein Rezept?

Schleicher: Ganz genau. Erst setzt die Diagnostik ein. Liegen keine schwerwiegenden Verletzungen vor, gehen die Spieler in die Rehabilitation. Wenn keine größeren Verletzungen vorliegen, folgen beispielsweise physiotherapeutische oder ergotherapeutische Verfahren. Unser Ziel ist es, den Einsatz von Arzneimitteln zurückzuschrauben. Wir wollen unsere Spieler nicht betäuben. Das heißt aber nicht, dass es bei uns gar keine Schmerzmittel gibt.

DAZ.online: Hört sich aber ganz so an, als ob bei Hertha BSC niemand „fitgespritzt“ wird.

Schleicher: Natürlich kommt das auch bei uns vor. Ich wäre unehrlich, wenn ich das ausschließen würde. Wenn sich die Situation ergibt, dass ein wichtiger Spieler vor einem wichtigen Spiel durch eine Schmerzspritze spielen könnte, wiege ich gemeinsam mit unserem Trainer Pal Dardai ab, ob das Sinn macht oder nicht. Der Verein übt dabei aber keinerlei Druck auf mich aus.

Was ist mit der Selbstmedikation?

DAZ.online: Sie sprachen vorhin von Kontrollmechanismen. Wie kommen denn die Spieler an ihre Arzneimittel?

Schleicher: Nur über uns. Wenn ein Spieler ein Schmerzmittel benötigt, erhält er das jeweilige Präparat – ob nun verschreibungspflichtig oder nicht – nur über die medizinische Abteilung. Außerdem müssen die Spieler uns bis ins letzte Detail mitteilen, welche Medikamente sie im Rahmen der Selbstmedikation zu Hause zu sich nehmen. Das ist schon alleine wegen der Doping-Vorschriften notwendig. Wir müssen gegenüber den Behörden für jeden Spieler ganz genau auflisten, welche Medikamente er einnimmt. Alleine deswegen ist ein Arzneimittelmissbrauch schon sehr schwierig.

DAZ.online: Trotzdem ist es möglich, dass Spieler Ihnen verheimlichen, dass sie nebenbei noch selbst Ibuprofen oder Diclofenac einschmeißen…

Schleicher: Das lässt sich niemals ausschließen. Allerdings messen wir regelmäßig bei jedem Spieler alle Nieren- und Leberwerte und würden es, so hoffe ich, schnell mitbekommen, wenn Analgetika in zu hohem Maße eingenommen werden.

Jeder Bundesliga-Arzt hat sein eigenes Rezept für Schmerzspritzen

DAZ.online: Wenn Sie dann doch mal ein Schmerzmittel verordnen, welche sind das denn?

Schleicher: In erster Linie die klassischen nicht-steroidalen Antirheumatika, die sowohl als Tablette als auch in Spritzen verabreicht werden. Zusätzlich kommen Spritzen mit homöopathischen Wirkstoffen zum Einsatz, die die Heilung der Verletzung an sich beschleunigen sollen. Kortison kommt aufgrund der Nebenwirkungen und der damit verbundenen Doping-Problematik (nur lokale Anwendung erlaubt) nur sehr selten zum Einsatz. Die genaue Zusammensetzung der Spritzen möchte ich aber nicht preisgeben, da hat jeder Arzt sein eigenes Vorgehen. Zu den moderneren Therapieverfahren gehört übrigens auch die Eigenbluttherapie.

DAZ.online: Ist es denn richtig, dass Spieler vor den Partien grundsätzlich Ibuprofen oder Diclofenac einnehmen, damit sie Schläge oder Tritte während des Spiels weniger spüren?

Schleicher: Auch da will ich nicht unehrlich sein. Natürlich kommt das vor. Aber auch das haben wir im Blick und kontrollieren das. Wobei ich glaube, dass das bei vielen Spielern auch eine psychologische Wirkung hat. Schließlich ist der Adrenalin-Ausstoß während eines Spieles so hoch, dass Schmerzen ohnehin weniger wahrgenommen werden als sonst.

DAZ.online: Verordnen Sie denn parallel zu den Analgetika auch gleichzeitig Pantoprazol oder Ähnliches?

Schleicher: Nur in den seltensten Fällen nehmen Spieler bei uns länger als ein paar Tage hintereinander Schmerzmittel ein. Wenn das aber der Fall ist, bekommen die natürlich gleichzeitig Protonenpumpenhemmer.

DAZ.online: Und wo bekommen Sie die Arzneimittel her?

Schleicher: Wir haben eine Kooperation mit einer Berliner Apotheke. Alle meine Verordnungen wandern da hin, wir beziehen auch Verbandsmaterialien und Tapes über diese Apotheke. Die Ware wird dann zu uns geliefert. Die Spritzen ziehe ich mir aber selbst auf und lasse sie mir nicht fertig anliefern.

3., vollständig überarbeitete Auflage 2017 – Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart – XVI, 255 S., 16 farb. Abb., 16 s/w Tab. Kartoniert – ISBN 978-3-8047-3277-3

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Benjamin Rohrer, Chefredakteur DAZ.online
brohrer@daz.online


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