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Pharmadavos 2018
Ginkgo bei Ohrgeräuschen: Nicht besser als ein „gut verträgliches Placebo“?
Pfeifen, Rauschen, Hämmern – jeder vierte Erwachsene empfindet Ohrgeräusche, ohne dass ein akustischer oder elektrischer Reiz vorliegt. Tinnitus ist in der Bevölkerung weit verbreitet und längst kein „Alters-Wehwehchen“ mehr. Immer häufiger klagen auch jüngere Menschen über auditorische Missempfindungen. Auf dem diesjährigen Pharmadavos-Kongress stellte HNO-Arzt Dr. Alexander Volck die Therapiemöglichkeiten vor.
Stress, Lärmbelästigung, Alter, chronische oder akute Mittelohrerkrankungen – die Risikofaktoren für Tinnitus sind genauso vielfältig wie er sich bei den Patienten letztendlich bemerkbar macht. Selten lassen sich die Ursachen auf anatomische oder pathophysiologische Veränderungen zurückführen, in mehr als 90 Prozent der Fälle handelt es sich um subjektive Wahrnehmungen, hervorgerufen durch eine vorübergehende oder dauerhafte Dysfunktion der Haarzellen.
Dr. Alexander Volck studierte Humanmedizin an der Universität Tübingen und ist derzeit als Facharztanwärter für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Kantonsspital St. Gallen tätig. Den knapp 700 Kongressbesuchern im Schweizerischen Davos stellte er seine klinische Erfahrung vor. So seien Störungen, die das Ohr betreffen, zwar nicht selten, doch werden sie längst nicht von allen Betroffenen als eine Krankheit angesehen. Andererseits gebe es immer wieder Fälle, bei denen ein unbehandeltes Pfeifen im Ohr zu Selbstmorden geführt hat. Als häufigste Begleiterkrankungen beobachtet man Depressionen, Angst- und Schlafstörungen. Daher sei es wichtig, dass Tinnitus-Patienten eine Zuwendung oder Therapie erhalten, die ihrem Leidensdruck entspricht und schnell Abhilfe schafft. Doch was ist das beste Mittel?
Analogie zu chronischen Schmerzsyndromen
Früher hätte man in besonders schweren Fällen den Hörnerv einfach chirurgisch durchtrennt, erklärt Volck. Dies sei in vielerlei Hinsicht problematisch: Die Operation ist aufwendig, irreversibel, äußerst invasiv und nicht immer von Erfolg gekrönt. In vielen Fällen blieben – wie bei einem Phantomschmerz – trotz des Eingriffs Beschwerden oder das ursprüngliche Ohrgeräusch zurück und die Operierten hätten ihr Hörvermögen für immer verloren. Überhaupt sehen die HNO-Ärzte viele Parallelen zwischen Tinnitus- und Schmerzpatienten – die Krankheitsbilder hätten beispielsweise gemeinsam, dass es unbehandelt schnell zu einer emotionalen Überlagerung kommen würde. Ein leises hoch- oder niederfrequentes Geräusch durch geschädigte äußere Haarzellen wird durch die natürlichen Verstärkungsmechanismen der Hörbahn schnell dominant und für die Betroffenen allgegenwärtig. Nach einem Disko-Besuch halten die Beschwerden meistens nur mehrere Stunden oder höchstens einen Tag an. Bei einer längeren Dauer, meist über drei Monate, kommt es jedoch zu einer maladaptiven kortikalen Reorganisation und der Gefahr einer Chronifizierung.
Akuter vs. chronischer Tinnitus
Von einem akuten Tinnitus spricht man, wenn die Beschwerden erst in den letzten drei Monaten aufgetreten sind. Als Ursachen werden zum Beispiel festgestellt: Cerumen obturans („Ohrenschmalz“), akute Otitis media (Mittelohrentzündung), Tubenmittelohrkatarrh, Trommelfellperforation, Hörsturz, Lärm- bzw. Knalltrauma, Beschwerden in Folge eines Tauchunfalls oder Schädeltraumas.
Bei einem Tinnitus, der schon mehrere Monate oder Jahre vorliegt, werden häufig Beeinträchtigungen des Hörvermögens oder Störungen des Gleichgewichtsinns beobachtet, wie Innenohrschwerhörigkeit, Morbus Menière oder Otosklerose. Auch Tumore können die Ursache für (einseitige) Ohrgeräusche oder Schwerhörigkeit sein. Beim Vestibularisschwannom handelt es sich um ein aus Binde- und Nervengewebsfasern bestehenden gutartigen Tumor im Bereich des Hör- und Gleichgewichtsnervs.
Umstritten ist hingegen, ob Tinnitus durch Beschwerden der Halswirbelsäule, Nacken-Hals-Muskulatur, Kiefergelenks oder durch Zähneknirschen hervorgerufen wird.
Wie wird behandelt?
Neben einer umfangreichen Anamnese und Diagnostik, ggf. mit bildgebenden Verfahren, stehen für die Tinnitus-Behandlung viele medikamentöse Therapien bereit, für die sich auch zum Teil Untersuchungen in der wissenschaftlichen Literatur finden. Aber Dr. Alexander Volck stellt in seinem Vortrag unmissverständlich klar: Viele Arzneimittelgruppen haben sich als wirkungslos oder sogar gefährlich entpuppt und würden die Ohrgeräusche in Häufigkeit und Intensität nicht unbedingt bessern. So gebe es für Antiemetika, Muskelrelaxantien, Antikonvulsiva und Benzodiazepine entweder keine hochwertigen Studien oder es hätten sich keine positiven Effekte auf Tinnitus gezeigt. Die Anwendung von Benzodiazepinen sei auch wegen des Abhängigkeitpotenzials und der ausgeprägten Sedierung grundsätzlich für diese Indikation abzulehnen. Mit Antidepressiva vom Typ SRI (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) oder TZA (Trizyklisches Antidepressiva) seien höchstens die Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen beim chronischen Tinnitus therapierbar. Eine koreanische randomisierte kontrollierte Studie konnte zeigen, dass eine intratympanale Kortikoidtherapie, also die gezielte Infusion von Glucocorticoiden durch das Trommelfell in die Paukenhöhle, die Tinnitusbelastung um 30 Prozent verbessert – ähnliche Werte wurden jedoch auch in der Placebo-Gruppe erreicht.
Ginkgo – mehr Placebo als gedacht?
Dr. Volck geht in seiner Präsentation auch auf das wohl bekannteste pflanzliche Arzneimittel gegen Ohrgeräusche ein. Ginkgo biloba hätte sich jedoch in den großen Studien und Meta-Analysen der letzten Jahre – Volck zeigt die Ergebnisse des Cochrane Reviews aus 2012 bzw. 2013 – als nicht wirksam herausgestellt. Es sei jedoch sehr gut verträglich und würde immerhin die Beschwerden nicht verschlechtern. Sind Gingko-Präparate daher nur „gut verträgliche Placebos“? Der HNO-Arzt weist daraufhin, dass genau diese Untersuchung fehlt. Niemand hätte bisher untersucht, ob die Gabe von Ginkgo bei Patienten die Beschwerden bessere im Vergleich zu Tinnitus-Betroffenen, die gar keine Therapie erhalten. Der Placebo-Effekt sei bei der Phytotherapie nicht zu unterschätzen und daher hätten Apotheker und Ärzte durch Ihre Zuwendung und das Vertrauen einen immensen Einfluss auf den Therapieerfolg.
Genauso sei Akupunktur als eine Behandlungsalternative anzusehen, die aufgrund fehlender Nebenwirkungen und einem nachweislich beruhigenden Effekt durchaus probiert werden könnte. Auch Verfahren wie die akustische Neurostimulation oder die aktive und passive Musik- und Gesangstherapie wären bisher nur unzureichend untersucht, könnten aber eine zusätzliche Option darstellen.
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