Mögliche Unterdosierungen

Zyto-Apotheker Peter S. laut Gutachter schuldfähig

Essen - 14.06.2018, 10:05 Uhr

Der angeklagte Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. (hier mit seinen Abwälten) ist laut einem Gutachten voll schuldfähig. (Foto: hfd)

Der angeklagte Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. (hier mit seinen Abwälten) ist laut einem Gutachten voll schuldfähig. (Foto: hfd)


Im Prozess gegen den Zyto-Apotheker Peter S. steht nun fest, dass der Pharmazeut voll schuldfähig ist. Zwar hatte der Bottroper Apotheker vor knapp zehn Jahren eine schwerere Hirnverletzung, doch laut einem Gutachter hatte dies keine größeren Auswirkungen auf seine Leistungs- und Schuldfähigkeit. Offenbar schummelte der Apotheker bei psychologischen Tests. Ein frühes Gutachten zog der Sachverständige in Zweifel.

Im Prozess gegen den Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. um womöglich tausende unterdosierte Krebsmittel geht es seit Wochen auch um die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten. Die Verteidigung hatte die Einschätzung eines psychiatrischen Gutachters vorgebracht, aufgrund einer Hirnverletzung habe er vielleicht teils die Folgen seiner Handlungen nicht abschätzen können. Das Landgericht Essen hatte den Psychologen Boris Schiffer, Leiter der Abteilung für forensische Psychiatrie des Uniklinikums Bochum, beauftragt, ein Gutachten zur Schuldfähigkeit zu erstellen. Schiffer befragte und untersuchte den inhaftierten Angeklagten im April hierzu über insgesamt rund 16 Stunden – sowie mehrere frühere Kollegen, Freunde und Bekannte des Apothekers.

Nachdem das Gutachten vergangene Woche vorab schriftlich den Prozessbeteiligten zugänglich gemacht wurde, hatte die Verteidigung eine dreiwöchige Unterbrechung des Prozesses beantragt – da es einem von den Verteidigern beim Psychiater Pedro Faustmann beauftragen Gutachtens widerspricht und es das „Kernthema“ der Verteidigung betreffe. Am Mittwoch wies die Kammer den Antrag zurück, so dass der Psychologe sein Gutachten vorstellen konnte.

Psychologe: Peter S. sieht Zeit im Gefängnis als Erholung

Schiffer beschrieb zunächst, dass der in Untersuchungshaft sitzende Apotheker eine „etwas melancholische“ Grundstimmung habe, der die Zeit im Gefängnis aber auch als „gewisse Erholung“ ansehe. Das offenbar durch einen Sturz ausgelöste schwere Schädel-Hirn-Trauma habe im November 2008 zu teils schweren Verletzungen mit Einblutungen an der Vor- und Rückseite des Gehirns geführt, so zu einer augapfelgroßen Frontalhirnschädigung – auch kam es zu einem Ausfall von Geruchs- und Geschmackssinn.

Nachdem Ärzte zuvor ein hirnorganisches Psychosyndrom diagnostiziert und Faustmann „exekutive Funktionsstörungen“ festgestellt hatten, ordnete Schiffer die Symptome anders ein. Schon die Dauer des Gedächtnisausfalls nach dem Unfall von nur einer Woche sah er als positiv an. Anderthalb Jahre später hätten Ärzte festgestellt, S. sei klinisch-neurologisch „wieder vollständig hergestellt“. Ferner hatten Zeugen zwar geschildert, S. habe über Kopfschmerzen geklagt und sich zwischendurch ausgeruht, sei aber allgemein einsatzfähig gewesen.

Hat Peter S. bei den psychologischen Tests geschummelt?

Bis auf zwei Tests fielen laut Schiffer alle psychologischen Untersuchungen auffällig aus – doch er sieht sehr deutliche Hinweise auf ein verzerrtes Antwortverhalten. Selbst bei einem sehr einfachen Test zur Reaktionsgeschwindigkeit habe S. sehr langsam agiert, demnach müsste der gesamte Denkprozess auch im Alltag erheblich verlangsamt sein. „Auch die Gedächtnisleistung bewegte sich auf einem Niveau, wie man sie von Patienten mit Demenz vom Alzheimer-Typ erwarten würde“, sagte Schiffer. Insgesamt ist seiner Einschätzung nach die Fähigkeit zum logischen, kritischen und abstrakten Denken „völlig intakt“. „Ich gehe davon aus, dass er sich bei keinem dieser anderen Tests so präsentiert hat, wie er es hätte können“, sagte der Gutachter. Der Angeklagte folgte seinen Ausführungen mit konzentriertem und etwas betretenem Blick.

Zur Vorbereitung für das Gutachten hospitierte der Gutachter in einer Zyto-Apotheke, um die Abläufe kennenzulernen – zu denen er S. befragte, welcher freiwillig Angaben machte. Schiffer ließ keinen Zweifel daran, dass S. sich etwa Wirkstoffmengen merken konnte: Einschränkungen würden nicht die Rate von Fehlern erwarten lassen, die am Tag der Razzia sichergestellte Zytostatika aufwiesen. Auch gebe es seiner Einschätzung nach keine Anhaltspunkte für unbemerkte Fehlleistungen: Es seien keine schwerwiegenderen psychischen Störungen feststellbar. Schiffer sagte, er habe weder Zweifel, dass der Apotheker sich der Strafbarkeit von Unterdosierungen bewusst war – noch, dass er über Jahre unkontrolliert gehandelt hätte. „Das wäre auch mit einer hirnorganischen Störung kausal nicht in Zusammenhang zu bringen“, sagte Schiffer. Insgesamt sah er keine Hinweise auf eine Beeinträchtigung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit.

10 bis 20 Herstellungen in 45 Minuten

Während der angeklagte Apotheker bislang vor Gericht schweigt, machte er gegenüber Schiffer Angaben, über die der Gutachter vor Gericht als Zeuge berichtete. S. habe sich zur Schulzeit sehr wohl und aufgehoben gefühlt – innerhalb seiner Familie habe es eine „maximal geborgene Atmosphäre“ gegeben. Nach seinem Pharmaziestudium war er auch im Wehrdienst als Apotheker im Range eines Hauptmanns tätig – und habe sich dort beispielsweise über Personalverantwortung gefreut.

Das Schädel-Hirn-Trauma habe eine „Veränderung seines ganzen Lebens“ bewirkt, er denke jeden Tag daran. Normalerweise sei er in den letzten Jahren um fünf aufgestanden und hätte in der Früh gut eine Stunde im Zyto-Labor gearbeitet, danach habe er sich oft hinlegen müssen. Es sei oft „ein ganzer Batzen zu tun gewesen“, zitierte Schiffer den Apotheker: Innerhalb von 45 Minuten habe er 10 bis 20 Herstellungen übernommen. Anders als von Zeugen ausgesagt, hätten auch Mitarbeiter regelmäßig monoklonale Antikörper hergestellt. Die Arbeit sowie die besondere Ruhe im Labor habe ihm Freude gemacht, hätte S. auf die Frage geantwortet, warum er als Chef selber regelmäßig hergestellt hat.

Peter S. kann sich die fehlenden Wirkstoffmengen nicht erklären

Gegenüber dem Gutachter erklärte S., er sei am Tag vor der früh morgendlichen Razzia – als mit seinem Kürzel abgezeichnete, sichergestellte Zytostatika womöglich hergestellt worden – nicht in der Apotheke gewesen, oder höchstens vormittags. Auf die Frage, ob wahllos festgehalten wurde, wer hergestellt hat, habe S. nicht antworten wollen – sondern nur erklärt, die ganze Dokumentation sei sehr unterschiedlicher Qualität gewesen. Dem Vorhalt, er habe laut Zeugen nicht in Schutzkleidung gearbeitet, sei er ausgewichen. Fehlende Wirkstoffmengen könne er sich nicht erklären, Kritik von Ärzten habe es in diese Richtung nie gegeben – und generell sei dies selten gewesen. Das Vieraugenprinzip hätte gegolten, aber der Apotheker habe auch alleine produziert. „Das sei auch nichts Besonderes gewesen“, berichtet Schiffer aus dem Gespräch mit Peter S.

Laut dem Gutachter hat der Apotheker glaubhaft erklärt, es sei ihm nicht so wichtig gewesen, ob der Umsatz eine Million Euro mehr oder weniger betrage – er habe jährlich bei rund 40 Millionen gelegen, davon maximal ein Viertel aus der Zyto-Herstellung. „Das habe ich tatsächlich als authentisch empfunden“, sagte Schiffer.

Psychologe: Den Apotheker belasten die Diskussionen über ihn

Der Apotheker habe versichert, er würde nie etwas tun, was Menschen schädige – sein Beruf sei es, zu helfen. S. belaste derzeit das Bild, das in der Öffentlichkeit über ihn bestünde: Der Apotheker habe den Begriff „Monster“ benutzt. Er sehe wenig Möglichkeiten, das gerade zu rücken. Doch Schiffer erklärte, er habe S. auf die Möglichkeit hingewiesen, in der Hauptverhandlung des Prozesses auszusagen.

Auch einen erneuten Antrag der Verteidigung, das Verfahren um drei Wochen zu unterbrechen, um sich auf die Befragung Schiffers zu Widersprüchen zum früheren psychiatrischen Gutachten Faustmanns vorzubereiten, wies das Gericht ab. Obwohl laut dem Staatsanwalt der Vorschlag, Schiffer als Gutachter zu beauftragen, von der Verteidigung kam, zeigte sie sich überrascht, dass es sich um einen Psychologen handelt – und keinen Mediziner. Verteidiger befragten den Gutachter zur Medikation von S. mit Schmerzmitteln, welche laut Schiffer jedoch keine Auswirkungen auf die Tests haben sollten. Er erklärte außerdem, er habe den Apotheker vor der Befragung ausführlich aufgeklärt.

Nebenkläger und andere an dem Skandal Interessierte trafen sich am Mittwochabend zur vorerst letzten der monatlichen Demonstrationen, mit denen sie auf die ihrer Ansicht nach mangelhafte Aufklärung des Falls aufmerksam machten. Am heutigen Donnerstag wird der Prozess fortgesetzt, es sind jedoch keine weiteren Zeugen geladen.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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