Real-World-Evidence

Arzneimittelforschung: In Zukunft mehr Daten aus der realen Welt

Remagen - 31.01.2019, 10:15 Uhr

Elektronische Gesundheitsakten liefern die Daten für Real-World-Evidence. (m / Foto: Rawpixel.com

/ stock.adobe.com)

Elektronische Gesundheitsakten liefern die Daten für Real-World-Evidence. (m / Foto: Rawpixel.com / stock.adobe.com)


Oft wird darüber geklagt, dass klinische Studien die reale Welt der Arzneimittelversorgung nicht abbilden, aber ohne sie geht es auch nicht. Der einzige Weg aus diesem Dilemma führt nach Meinung von Experten über die Nutzung von Daten aus der Gesundheits-versorgung, so genannten „Real-World-Data“, die massenweise vorhanden sind. Daraus jedoch „Real-World-Evidence“ zu machen, ist nicht ganz so einfach. Das Potenzial ist erkannt, aber der Weg dorthin ist lang und dornig.

Aktuell hat die Nachrichten-Plattform „PharmaBoardroom“ das Thema Real-World-Evidence (RWE) aufgegriffen. Autor Nawal Roy spricht diesbezüglich von einem „Game Changer for Pharma“. Was meint er damit? Eingangs bringt der Beitrag ein paar nackte Zahlen: Weltweit wurden im Jahr 2016 fast 160 Mrd. US-Dollar für pharmazeutische Forschung und Entwicklung ausgegeben. Bis 2022 könnten es über 180 Mrd. US-Dollar sein. Der Prozess der Medikamentenentdeckung bis zur Kommerzialisierung ist mühsam. Nach Schätzungen ist die erfolgreiche Markteinführung eines Arzneimittels mit direkten Kosten von bis zu 1,4 Mrd. US-Dollar verbunden, und die Entwicklung dauert etwa 10 Jahre. Die Erfolgswahrscheinlichkeit der klinischen Entwicklung liegt bei etwa 10 Prozent. Fazit für das bisherige „Game“: Immense Kosten, wenig Output.

USA machen den Weg für RWE in der Entwicklung und Zulassung frei

Das könnte sich durch eine vermehrte Nutzung von bereits vorhandenen Gesundheitsdaten ändern. In den USA wurde der Weg für die Nutzung von Real-World-Evidence (RWE) zur Modernisierung der Wirkstoffentwicklung und der Zulassung im Jahr 2016 durch eine Gesetzesänderung freigemacht. Die FDA sollte ein Programm entwickeln, um die Möglichkeiten hierfür auszuloten. Es wurde im Dezember letzten Jahres veröffentlicht.

RWE wird aus realen Daten (Real-World-Data, RWD) gewonnen, die in der klinischen Praxis außerhalb randomisierter kontrollierter klinischer Studien generiert wurden. Zu den Quellen zählen elektronische Patientenakten (eHealth Records, eHR), digitale Anwendungen, Beobachtungsstudien, Verordnungsdaten und so weiter. Nach Angaben von PharmaBoardroom machen RWD die überwiegende Mehrheit der Patientendaten aus: 95 Prozent im Vergleich zu nur 5 Prozent aus tatsächlichen klinischen Studien.

Vielerlei Anwendungen denkbar

Nach den Vorstellungen der FDA könnte RWE konkret für vielerlei Zwecke genutzt werden, so zum Beispiel für neue Indikationen mit wenigen oder gar keinen zusätzlichen klinischen Studien oder auch für die Zulassung neuer Formulierungen oder die Erweiterung der Patientengruppen für genehmigte Indikationen. Ein weiteres Einsatzgebiet könnte die Nachmarktbeobachtung im Bereich der Pharmakovigilanz sein. Hier macht sich die FDA Daten aus der realen Welt schon seit Langem über die Sentinel-Initiative zunutze. Weiterhin könnten RWD auch zur Verbesserung der Effizienz von klinischen Studien verwendet werden, zum Beispiel, um Hypothesen für Testungen zu generieren oder geeignete Biomarker als Entwicklungswerkzeuge zu identifizieren. Außerdem könnten sie dabei helfen, Ein-und Ausschlusskriterien für Studienpopulation festzulegen oder die geographische Verteilung möglicher Studien-Kohorten zu ermitteln. „Die FDA versucht zusammen mit ihren Stakeholdern herauszufinden, wie RWE am besten genutzt werden kann, zur Steigerung der Effizienz der klinischen Forschung und um Fragen zu beantworten, die in Zulassungsstudien nicht beantwortet wurden“, resümiert Janet Woodcock, Direktorin des Centers for Drug Evaluation and Research (CDER). 

Wie wird aus Real-World-Data Real-World-Evidence?

Das klingt alles sehr verlockend, aber einfach ist es sicher nicht, daraus eine tragfähige Evidenz abzuleiten, denn Daten aus der realen Welt sind häufig „unstrukturiert“ und deshalb schwer zu analysieren. Man denke hier nur an psychische Erkrankungen oder bestimmte chronische Krankheiten (Herz-Kreislauf-, Stoffwechselerkrankungen) inklusive Begleiterkrankungen oder Behandlungsschemata mit mehreren Arzneimitteln. Darüber hinaus ist das Fortschreiten dieser Krankheiten durch ein komplexes Netzwerk von Rückkopplungswegen gekennzeichnet. In diesen Situationen kann die RWD nach Meinung des PharmaBoardroom-Autors Roy von speziellen Analysewerkzeugen und maschinellen Lerntechniken profitieren. Die Verwendung der richtigen Analysemethoden ist für ihn der Schlüssel, um die richtigen Einblicke zu gewinnen und RWE zu generieren.

Elektronische Gesundheitsakten für lernende Gesundheitssysteme

Auch in der EU ist die Initiative, im Rahmen der Arzneimittelentwicklung mehr Real-World-Data zu nutzen, schon lange angekommen. In der Fachzeitschrift Clinical Pharmacology and Therapeutics haben sich unlängst der Direktor der Europäischen Arzneimittelagentur Guido Rasi und die Leiter dreier europäischer Arzneimittelagenturen, darunter auch BfArM-Präsident Karl Broich, sowie Vertreter von Universitäten und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)  damit auseinandergesetzt, wie elektronische Gesundheitsakten (eHRs) für lernende Gesundheitssysteme genutzt werden können. Auf dem Gebiet der Pharmakovigilanz haben Daten aus der realen Welt auch in Europa bereits ihren festen Platz. Dringend gebraucht werden sie nach Meinung der Experten aber gleichermaßen im Bereich der klinischen Bewertung von Arzneimitteln. „Ein wirklich lernendes Gesundheitssystem, das Real-World-Evidence nutzt, wird der einzige Weg zum kontinuierlichen Erfolg im Pharma-Ökosystem sein“, so ihre Überzeugung.

Hierfür braucht es aber nicht nur eine adäquate und qualitativ hochwertige Datenerfassung, sondern auch Vorschriften für die Gesundheitsdienstleister, die Datenbestände zu füttern und gemeinsam zu nutzen. Nach Erhebungen der OECD sind zwar diesbezüglich von 2012 bis 2016 in vielen Gesundheitssystemen erhebliche Fortschritte erzielt worden. Von dem Ideal-Ziel „Ein Patient, eine Akte“ sind die meisten aber offenbar noch weit entfernt. Als Länder mit einer hohen Abdeckung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen eHRs und Vorschriften für deren Nutzung werden Österreich, Dänemark, Estland, Finnland, Luxemburg, Polen und die Slowakei angeführt. 



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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