WIdO-Studie (AOK)

Ärzte verordnen zu viele Fluorchinolone

Berlin / Stuttgart - 24.05.2019, 13:45 Uhr

Nach wie vor verordnen Ärzte Fluorchinolone zu häufig und längst nicht nur als Reserveantibiotika. Das fand eine Studie des Wissenschaftlichen Institutes der AOK (WIdO) heraus. ( r / Foto: imago images / Science Photo Library)

Nach wie vor verordnen Ärzte Fluorchinolone zu häufig und längst nicht nur als Reserveantibiotika. Das fand eine Studie des Wissenschaftlichen Institutes der AOK (WIdO) heraus. ( r / Foto: imago images / Science Photo Library)


140 vermeidbare Todesfälle und 40.000 zusätzliche Nebenwirkungen gingen 2018 auf das Konto einer unkritischen ärztlichen Verordnung von Fluorchinolen. Das findet das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) „alarmierend", so der Tenor des Institutes. Mitnichten würden Ciprofloxacin, Levofloaxin und weitere Fluorchinolone nur als Reserveantibiotika eingesetzt, heißt es in einer Studie. Das müsse verbessert werden.

Trotz aller Warnungen und Restriktionen seitens der US-Arzneimittelbehörde FDA und der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA verordnen Ärzte Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone nach wie vor zu unkritisch. Häufig gäbe es sicherlich alternative Antibiotika, die ebenso zuverlässig wirken, jedoch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweisen. Auch in den Laienmedien finden Fluorchinolone reges Interesse.

Wer in der Apotheke arbeitet, den wundert diese Beobachtung nicht – Ciprofloxacin, Levofloxacin oder andere Fluorchinolone sind keineswegs seltene Arzneimittel. Jetzt gibt es Zahlen hierzu schwarz auf weiß: Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat erstmals die zusätzlichen Risiken der Fluorchinolone im Vergleich zu anderen Antibiotika auf Grundlage von Studienergebnissen hochgerechnet. Ihr Fazit: „alarmierend". Denn: Die Antibiotikagruppe gehöre zu den häufig verordneten Antibiotika, obwohl sie ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende Nebenwirkungen habe und zu den Reserve-Antibiotika zähle.

Nach Angaben des WIdO haben fast 5 Prozent der mehr als 72 Millionen GKV-Versicherten 2018 ein Fluorchinolon-Antibiotikum verordnet bekommen. Bei den schätzungsweise 3,3 Millionen Patienten, die im Rahmen von 3,5 Millionen Therapien mit Fluorchinolonen behandelt wurden, sei davon auszugehen, dass mehr als 40.000 Patienten zusätzlich von Nebenwirkungen wie einer Schädigung des Nervensystems, der Hauptschlagader oder einem Sehnenriss betroffen waren und sich 140 zusätzliche Todesfälle ereigneten, so das WIdO.

40.000 vermeidbare Nebenwirkungen

Zu dem Ergebnis der vermeidbaren Nebenwirkungen kommt das WIdO mit wissenschaftlicher Unterstützung von Prof. Dr. Winfried V. Kern vom Zentrum Infektionsmedizin am Universitätsklinikum Freiburg auf der Basis medizinischer Berichte zu unerwünschten Wirkungen. Diese Schätzungen hätten ergeben, dass im Vergleich mit anderen Antibiotika unter je 100.000 Fluorchinolon-Anwendern zusätzlich 1.161 Nebenwirkungen des Nervensystems (vor allem Verwirrtheit und Unruhe), 33 Sehnenrupturen (Sehnenrisse), acht Aorten-Aneurysmen (Gefäßschädigungen der Hauptschlagader) sowie vier kardiovaskuläre Todesfälle auftreten können, erklärt das WIdO in einer Mitteilung.

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Bei 3,5 Millionen Therapien ergebe sich hier eine Zahl von mehr als 40.000 solcher Nebenwirkungen, die bei Einsatz eines anderen Antibiotikums nicht vorgekommen wären. Erschwerend für die Anklage der Fluorchinolone sei in diesen Berechnungen eine große Anzahl von weiteren Komplikationen, zum Beispiel Hyperglykämien bei Diabetikern, nicht berücksichtigt.

Nicht als Reserve

„Diese Zahlen sind besonders alarmierend, weil für viele Erkrankungen gut wirksame und risikoärmere Antibiotika zur Verfügung stehen und die Gefahren den pharmazeutischen Herstellern bereits seit Jahren bekannt sind“, sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO. Führend bei den Fluorchinolonen ist der Wirkstoff Ciprofloxacin mit fast zwei Drittel der Verordnungen (64 Prozent).

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Nach Berechnungen des WIdO haben 20,4 Millionen und damit mehr als jeder vierte GKV-Versicherte im Jahr 2018 mindestens einmal von ihrem Arzt eine Antibiotikaverordnung erhalten. Insgesamt waren dies 310 Millionen verordnete Antibiotika-Tagesdosen, davon entfielen 25,6 Millionen Tagesdosen (8,2 Prozent) auf ein Fluorchinolon. Das ärztliche Verordnungsverhalten sei zwar seit 2011 „zurückhaltender", so die erfreuliche Botschaft. Dennoch lasse die nach wie vor hohe Zahl an Fluorchinolon-Rezepten „darauf schließen, dass Fluorchinolon-Antibiotika häufig nicht als Mittel der Reserve und auch nicht ausschließlich bei schwerwiegenden und lebensbedrohlichen Infektionen zum Einsatz kommen“, so Schröder. „Und das, obwohl Fluorchinolone weltweit als Reserve-Antibiotika gelten, also erst nach Versagen anderer Alternativen und für lebensrettende Maßnahmen zur Anwendung kommen sollten. Und schon gar nicht bei leichteren Erkrankungen wie einfachen Erkältungen, die meist, gemäß den ärztlichen Behandlungsleitlinien, überhaupt nicht mit Antibiotika behandelt werden sollten. Damit kann eine Resistenzentwicklung verhindert werden und die Wirksamkeit der Reserve-Antibiotika wird nicht gefährdet.“

Erst im März 2019 hatte die Europäische Kommission die Ergebnisse aus dem  Risikobewertungsverfahren der Fluorchinolone durch die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA veröffentlicht. Die deutsche Arzneimittelbehörde, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) setzte sodann den europäischen Durchführungsbeschluss um. Unter anderem hatte das BfArM für bestimmte Indikationen die Zulassung zum 30. April dieses Jahres widerrufen. Welche das betrifft, lesen Sie ausführlich in dem DAZ.online-Artikel: Soll man Fluorchinolone noch verordnen – und wenn ja, wann?



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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