Brexit um Mitternacht

„No Deal-Brexit“ ist nicht aufgehoben, sondern vielleicht nur aufgeschoben

Remagen - 31.01.2020, 17:30 Uhr

Das Vereinigte Königreich tritt am morgigen Samstag aus der EU aus. Auf der Straße vor dem Buckingham Palace in London wurden Union Jacks aufgehängt. (Foto: imago images / ZA Images)

Das Vereinigte Königreich tritt am morgigen Samstag aus der EU aus. Auf der Straße vor dem Buckingham Palace in London wurden Union Jacks aufgehängt. (Foto: imago images / ZA Images)


Nach dem jahrelangen Gezeter um den Brexit scheint das Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union heute am Ende fast unbemerkt vonstatten zu gehen, für viele sicher „mit einer Träne im Knopfloch“. Die Kuh ist allerdings noch lange nicht vom Eis. Werden bis zum Jahresende keine ausreichenden Vereinbarungen für die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und UK getroffen, könnte es noch mal „ganz Dicke“ kommen.

Heute um Mitternacht (Ortszeit Brüssel) ist es soweit: Nur noch wenige Stunden, dann wird Großbritannien tatsächlich kein EU-Mitglied mehr sein. Jahrelang gab es in Europa streckenweise kein anderes Thema, und nun wirkt die Szenerie insgesamt eher unaufgeregt und fatalistisch. Woran liegt das, und was ist in den nächsten Monaten nach dem Brexit zu erwarten? Ein No-Deal-Brexit konnte zumindest aktuell durch ein Austrittsabkommen abgewendet werden. 

Das heißt aber nicht, dass dieser nicht doch noch drohen könnte. Mit dem Abkommen wurde nämlich ein befristeter Übergangszeitraum vereinbart. Er beginnt am 1. Februar und endet am 31. Dezember 2020 und kann einmalig um ein oder zwei Jahre verlängert werden. Ein entsprechender Beschluss muss gemeinsam von der EU und Großbritannien getroffen werden, und zwar vor dem 1. Juli 2020.

Weitere Einzelheiten sind einem ausführlichen Fragen und Antworten-Dokument der Europäischen Kommission zum Austritt von Großbritannien aus der EU zu entnehmen.

Was passiert im Übergangszeitraum?

Bis zum Ende des Übergangszeitraums ergeben sich für die Bürger, Verbraucher, Unternehmen, Investoren, Studenten und Forscher in der EU und in Großbritannien keine Änderungen. UK wird nicht mehr in den Organen, Agenturen, Einrichtungen und Ämtern der EU vertreten sein, aber das EU-Recht wird dort bis zum Ende des Übergangszeitraums weiterhin gelten. Waren, die vor Ablauf des Übergangszeitraums in der EU oder im Vereinigten Königreich rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden, dürfen auf und zwischen diesen beiden Märkten weiterhin in freiem Verkehr bleiben. Dies gilt für alle Waren, die in den Anwendungsbereich des freien Warenverkehrs fallen. Dazu gehören auch Gesundheitsprodukte, wie Arzneimittel und Medizinprodukte.

Wann starten die Verhandlungen?

Die EU und das Vereinigte Königreich sollen das knappe Jahr dazu nutzen, um eine neue Partnerschaft für die Zukunft zu vereinbaren. Am 3. Februar will die Kommission einen umfassenden Entwurf der Verhandlungsrichtlinien annehmen. Das Mandat muss dann noch im Rahmen des Rates „Allgemeine Angelegenheiten“ gebilligt werden, bevor förmliche Verhandlungen mit Großbritannien eingeleitet werden können.

Pharmahandel zwischen EU und UK jetzt schon geschrumpft

Laut einem aktuellen Markteinblick von Germany Trade and Invest (GTAI) gehört Großbritannien zu den zehn größten Pharmamärkten weltweit. Nach der Automobilbranche ist der Arzneimittelsektor der zweitgrößte Industriezweig im Land. In der nationalen Forschungslandschaft soll die Pharmabranche sogar das „Flaggschiff“ sein. Analysten von Fitch Solutions geben laut GTAI zu bedenken, dass ein EU-Austritt ohne Freihandelsabkommen schwerwiegende Folgen für den britischen Pharmamarkt und die lokalen Unternehmen hätte. Schon jetzt wirke sich das „Hin und Her um den Brexit“ negativ auf den deutsch-britischen Pharmahandel aus, schreibt GTAI weiter. Nach Analysen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln sollen die gegenseitigen Pharmaimporte im Zeitraum 2015 bis 2018 bereits deutlich gefallen seien. Dabei sei die deutsche Abhängigkeit von Einfuhren aus UK geringer ist als umgekehrt.

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Sorgen und Wünsche der Pharmahersteller

Die Branchenverbände der Pharmaunternehmen bleiben allerorten alarmiert. Der Verband der britischen pharmazeutischen Industrie (ABPI) befürchtet einen erschwerten und kostspieligen Zugang zum europäischen Markt nach dem Austritt, sollte es keine Vereinbarung geben. Ähnliche Sorgen treiben auch die deutschen Pharmaproduzenten um. In einer aktuellen Pressemitteilung fordert der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) von den Verhandlungspartnern, die kommenden elf Monate dazu zu nutzen, praktikable Regularien für eine sichere Arzneimittelversorgung zu vereinbaren.

„Für Arzneimittelhersteller ist die Phase des Übergangs in einen hoffentlich geregelten finalen Brexit ab dem 1. Januar 2021 maßgeblich für die künftigen Handelsbeziehungen mit Großbritannien“, betont Elmar Kroth, BAH-Geschäftsführer Wissenschaft. Auf der Wunschliste der Pharmaindustrie steht ein umfassendes gegenseitiges Anerkennungsabkommen (Mutual Recognition Agreement - MRA). Darin sollen beispielsweise die Anerkennung von Zertifikaten für die Herstellung und Freigabe von Arzneimitteln ebenso geregelt werden wie weitergehende Abmachungen zum Import und Export von Fertigarzneimitteln, deren Zwischenprodukten sowie von Wirk- und Hilfsstoffen.

„Hoffnungen ruhen auf einem soliden Handelsabkommen“

„Beide Länder sind Schrittmacher unserer Branche in Europa“, betont der Präsident des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) Han Steutel. „Das wird auch nach dem Brexit so bleiben. Und deshalb haben auch beide Länder ein vitales Interesse daran, neue Formen der Zusammenarbeit zu finden. Jetzt ruhen alle Hoffnungen auf einem soliden Handelsabkommen zwischen London und Brüssel."

„Jetzt wird es erst richtig kritisch“

Laut dpa schauen auch führende deutsche Wirtschaftsforscher weiter mit Sorge auf den Austritt Großbritanniens aus der EU. „Das Brexit-Drama wird nach dem 31. Januar leider nicht vorbei sein - eher im Gegenteil: Jetzt wird es erst richtig kritisch“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher gegenüber der dpa. Er hält den Zeitplan für viel zu ambitioniert. Bestenfalls hätten beide bis zum Jahresende einen notdürftigen Freihandelsvertrag ausgehandelt, so seine Mutmaßung. Ansonsten komme der harte No-Deal-Brexit, und der dürfte teuer werden, denn er bedeute höhere Preise, weniger Handel und weniger Arbeitsplätze. Auch der Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) Michael Hüther rechnet laut dpa bis Dezember allenfalls mit einem einfachen Freihandelsabkommen über den Warenverkehr. Das werde aber Finanz- oder Transportdienstleistungen ebenso wenig regeln wie zum Beispiel den Datenaustausch, gibt er zu bedenken. Hüther verweist in diesem Zusammenhang auf das Abkommen der EU mit Kanada, über das fünf Jahre lang verhandelt worden sei. Die notwendige Ratifizierung in jedem EU-Land habe noch weitere zwei Jahre in Anspruch genommen.

Zeit für ein möglichst umfassendes Abkommen nehmen

Derzeit stehen die Zeichen zwischen der EU und UK weiterhin eher auf Konfrontation. „Wenn beide sich nicht bewegen, wird es kein Abkommen geben“, glaubt Hüther. Der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo Clemens Fuest rät beiden Seiten dringend, sich Zeit zu nehmen, um ein möglichst umfassendes Abkommen auszuhandeln. In dieser Zeit sollten die Briten im Binnenmarkt bleiben. Eine Verlängerung der Übergangszeit sei schließlich möglich.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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