RKI-Vize Schaade zur Ausbreitung des Coronavirus

Warum steigt die Reproduktionszahl?

Berlin - 12.05.2020, 14:00 Uhr

Professor Lars Schaade, Vizepräsident des Robert Koch-Instituts, informierte in einem Pressebriefing zu den aktuellen Entwicklungen bei der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus. (s / Foto: Imago/snapshot)

Professor Lars Schaade, Vizepräsident des Robert Koch-Instituts, informierte in einem Pressebriefing zu den aktuellen Entwicklungen bei der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus. (s / Foto: Imago/snapshot)


Seit dem vergangenen Wochenende liegt die Reproduktionszahl R leicht über dem Schwellenwert 1. Das sorgt für Verunsicherung: Droht ein neuer Lockdown? Professor Lars Schaade, Vizepräsident des Robert Koch-Instituts (RKI), klärt auf.

In Zusammenhang mit der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus in Deutschland stand in den vergangenen Wochen vor allem die Reproduktionszahl R im Fokus. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Steigt R über den Schwellenwert 1, bedeutet das einen exponentiellen Anstieg der Fallzahlen. Eine rasche Verbreitung des Erregers und die damit verbundene Häufung von schweren COVID-19-Verläufen könnte das Gesundheitswesen schnell an die Grenzen seiner Kapazitäten bringen.

Lockerungen unter Vorbehalt

Aus diesem Grund lautete das von der Bundesregierung anvisierte Ziel, die Reproduktionszahl unter 1 zu drücken und somit die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Dies war zunächst geglückt: Anfang Mai einigten sich Bund und Länder mit Blick auf die Zahlen darauf, die zuvor recht strikten Regeln für Einzelhandel und Bevölkerung vorsichtig zu lockern.

Am Wochenende jedoch sorgte R erneut für Schlagzeilen. Das RKI registrierte einen Anstieg auf 1,13. Viele befürchteten einen weiteren Lockdown. In einem Situationsbericht versuchte das Institut bereits am Montag, die Zahl einzuordnen. Am heutigen Dienstag legte RKI-Vize Lars Schaade noch einmal nach. Vor Journalisten erläuterte er, wie R berechnet wird und erklärte die Bedeutung und Limitationen dieses Parameters.

Die Modellrechnung

Der Reproduktionszahl R liegt eine komplexe Modellrechnung zugrunde, die das RKI im Epidemiologischen Bulletin vom 23. April 2020 beschreibt. Demnach lässt sich mithilfe des sogenannten Nowcastings R unter Berücksichtigung des Diagnose-, Melde- und Übermittlungsverzugs abschätzen. Dabei bestimmen die Experten zunächst ein Zeitintervall, das als Generationenzeit bezeichnet wird. Basierend auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft gehen sie davon aus, dass zwischen Ansteckung und dem Auftreten erster Symptome im Schnitt fünf Tage vergehen. Infizierte sind aber wohl bereits zwei Tage vor Krankheitsbeginn ansteckend, sie können also drei Tage, nachdem sie sich das Virus eingefangen haben, andere infizieren.

Die Generationenzeit bezieht sich auf die mittlere Zeitspanne von der Infektion einer Person bis zur Infektion der von ihr angesteckten Folgefälle. Für SARS-CoV-2 schätzt das RKI diese Zeitspanne „auf etwa vier Tage, weil die Infektiosität zu Beginn der Infektion besonders hoch ist und sich die infizierte Person vor dem Symptombeginn nicht darüber bewusst ist, dass sie bereits andere anstecken kann“.

Generationenzahl kann schwanken

Die Generationszeit sei jedoch keine stabile Eigenschaft des Erregers, betonen die Forscher. Ebenso wie die Reproduktionszahl hängt sie laut RKI von verschiedenen Faktoren ab und kann sich über die Zeit verändern. „Zum Beispiel führen Maßnahmen zur Isolation von bestätigten Fällen und Quarantäne von Kontaktpersonen nicht nur zu einer Verringerung der Anzahl von Folgefällen, sondern auch zu einer Verkürzung der Generationszeit, weil die wenigen Ansteckungen direkt am Anfang der Infektion passieren.“

Unter der Annahme, dass die Generationenzeit aktuell konstant ist, ergibt sich die Reproduktionszahl R aus dem Quotienten der Zahl der Neuerkrankungen zweier aufeinander folgenden Zeitabschnitte von jeweils vier Tagen. Sind im zweiten Zeitabschnitt mehr Menschen erkrankt als im ersten, resultiert daraus eine Reproduktionszahl größer als 1. Der so ermittelte Wert R wird dem letzten der betrachteten acht Tage zugeordnet. Da für diese Rechnung der Beginn der Symptome herangezogen wird, muss für das entsprechende Infektionsgeschehen noch die Inkubationszeit von fünf Tagen berücksichtigt werden, sodass der R-Wert grob die Situation von vor eineinhalb Wochen widerspiegelt.

Darum könnte R aktuell steigen

Mit Blick auf das Rechenmodell wird deutlich, dass R so seine Tücken hat. Schaade betonte, wie zuvor auch RKI-Präsident Professor Lothar Wieler, dass die Reproduktionszahl nur einer von vielen Parametern sei, um die Dynamik der SARS-CoV-2-Übertragung in Deutschland zu beurteilen. Auch Faktoren wie die Zahl der Neuinfektionen und der durchgeführten Tests, die Schwere der Erkrankungen sowie die Auslastung der Krankenhäuser gelte es zu berücksichtigen.

Dass R in den vergangenen Tagen leicht über 1 lag, führt Schaade auf mögliche statistische Unschärfen zurück. Auch lokale Ausbrüche fielen angesichts der konstanten Fallzahlen von derzeit etwa 900 bis 1000 pro Tag stärker ins Gewicht als zuvor. Solange R leicht um 1 schwankt, gebe es keinen Grund zur Sorge, beruhigte Schaade. Dann stelle sich ein Gleichgewicht zwischen der Infektiosität des Virus und dem umsichtigen Verhalten der Menschen hierzulande ein. Er appellierte in diesem Zuge an die Bevölkerung, nicht leichtsinnig zu werden, sondern weiterhin darauf zu achten, Ansteckungen zu vermeiden.



Christina Müller, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (cm)
redaktion@daz.online


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