Interpharm Online – Vorschau

Können „chemische“ Moleküle unseren Geist verändern?

Stuttgart - 21.08.2020, 17:50 Uhr

Trizyklische Neuroleptika und Antidepresiva zeigen die große Kunst der pharmazeutischen Chemie: mit wenigen Modifikationen vollkommen andere Wirkungen erzielen. (m / Foto: andessa / stock.adobe.com)

Trizyklische Neuroleptika und Antidepresiva zeigen die große Kunst der pharmazeutischen Chemie: mit wenigen Modifikationen vollkommen andere Wirkungen erzielen. (m / Foto: andessa / stock.adobe.com)


Die Evolution der Trizyklika hat die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen revolutioniert. Eingesetzt werden sie als Neuroleptika und Antidepressiva – liegen die Krankheitsbilder näher beieinander als gedacht? Gibt es mittlerweile nicht bessere, nebenwirkungsärmere Arzneimittel? DAZ.online hat mit Professor Thomas Herdegen über sein Interpharm-Thema gesprochen: „Angriff auf die Psyche – wie die Evolution der Trizyklika die Therapie psychiatrischer Erkrankungen revolutioniert hat".

Corona-bedingt: Die Interpharm findet 2020 ausnahmsweise online statt. Doch nicht alles hat sich deswegen geändert. Die festen Säulen – ApothekenRechtTag, Wissenschaftlicher Kongress, PTAheute-Kongress bleiben natürlich bestehen. Doch was erwartet Sie? DAZ.online hat mit Professor Thomas Herdegen vorab gesprochen, er widmet sich am 25. September der Revolution in der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen durch die Evolution der Trizyklika.

DAZ.online: Können chemische Moleküle unsere „Seele“ und unseren „Geist“ verändern?

Herdegen: Bei aller absoluter Akzeptanz von Geist und Seele, so sind doch diese Größen, und erst recht die fassbaren kognitiven, emotionalen und humoralen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns, an neuroanatomisch-psychologisch-biochemische Materie gebunden. Änderungen dieser biologischen Matrix führen immer zu wahrnehmbaren Änderungen des Gehirns. Und die Änderbarkeit ist eine große therapeutische Chance, zum Beispiel für unsere Neurophsychopharmaka.

DAZ.online: Was war das Revolutionäre an den Trizyklika?

Herdegen: Mit dem trizyklischen Neuroleptikum Chlorpromazin konnte man zum ersten Mal eine komplexe Hirnstörung wie die Psychose therapeutisch bessern. Damit einher ging auch eine revolutionäre Erkenntnis: wie sehr unsere Persönlichkeiten von definierbaren Molekülen gesteuert, beherrscht, dominiert und vielleicht sogar unentrinnbar geformt sind. Wir blockieren den D2-Rezeptor und die Wahnvorstellungen verschwinden. Wir blockieren den muscarinergen ACh-Rezeptor und provozieren einen iatrogenen Morbus Alzheimer.

Heimtückische Attacken erfolgreich abgewehrt

Angriff auf die Psyche –Wie die Evolution der Trizyklika die Therapie psychiatrischer Erkrankungen revolutioniert hat

Prof. Dr. med. Thomas Herdegen

Freitag, 25. September 2020; 11 Uhr Wissenschaftlicher eKongress

DAZ.online: Von einer neuroleptischen zu einer antidepressiven Wirkung mit nur wenig chemischer Modifikation – sind Depression und Schizophrenie so nahe beieinander?

Herdegen: Beide Formen haben überschneidende Pathologien, und beide Formen respondieren positiv auf gemeinsame Eigenschaften von trizyklischen Neuroleptika und Antidepressiva, wie H1- oder α1-Blockade. Das ist die große Kunst der pharmazeutischen Chemie: Mit wenigen Modifikationen vollkommen andere Wirkungen zu erzielen – weg von der D2-Blockade (sic: Trimipramin macht aber auch das!) und hin zur Reuptake-Hemmung.

Warum macht es uns der „Pharma-Gott“ so schwer?

DAZ.online: Immer wieder diese Beobachtung: Manche Stoffe sind gut für die eine Hirnfunktion, aber schlecht für eine andere. Warum macht es uns der „Pharma-Gott“ so schwer?

Herdegen: Naja, vielleicht ist der Pharma-Gott ja eine Frau. Es gibt in der Biologie kein gut oder schlecht, sondern komplizierte Gleichgewichte, die wie ein Uhrwerk leicht aus dem Takt zu bringen sind.

Hier geht`s zur Anmeldung

Falls Sie Lust auf ein oder mehrere Tage Fortbildung haben, können Sie sich hier für die Interpharm online 2020 anmelden. Das genaue Programm mit allen Referenten finden Sie hier.

DAZ.online: Sind die (trizyklischen) Neuroleptika und Antidepressiva wirklich so gut und haben sie tatsächlich so ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis, dass ihr Verordnungsvolumen immer noch mehrere Milliarden DDD beträgt? (Tendenz nicht fallend!)

Herdegen: Zum einen weiten sich die Indikationen aus. Amitriptylin wird wahrscheinlich zu mehr als 90 Prozent als Co-Analgetikum verordnet, Neuroleptika zur Augmentation bei Depression. Es besteht kein Zweifel, dass bei ausgeprägter Depression oder Psychose die Pharmaka dem Placebo überlegen sind (viel weniger Relapse). Und der beste Therapieerfolg lässt sich mit einer gemeinsamen Psychotherapie plus Pharmakotherapie erzielen. Wir brauchen die Neuropharmaka weiterhin.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


Prof. Dr. med. Thomas Herdegen, Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Universität Kiel
redaktion@daz.online


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