Ist COVID-19 schlimmer als andere schwere akute Atemwegserkrankungen?

COVID-19-Patienten: häufiger und länger beatmet und mehr Todesfälle

Stuttgart - 02.09.2020, 07:00 Uhr

COVID-19-Patienten werden im Median sechs Tage länger beatmet als Patienten mit anderen schweren akuten respiratorischen Erkrankungen der letzten fünf Grippewellen. (s / Foto: CMP / stock.adobe.com)

COVID-19-Patienten werden im Median sechs Tage länger beatmet als Patienten mit anderen schweren akuten respiratorischen Erkrankungen der letzten fünf Grippewellen. (s / Foto: CMP / stock.adobe.com)


COVID-19-Patienten müssen häufiger beatmet werden, ihre Beatmungsdauer ist deutlich länger und sie versterben häufiger als Patienten mit anderen schweren akuten Atemwegserkrankungen wie Grippe. Das Robert Koch-Institut hat schwere akute respiratorische Erkrankungen (SARI) der letzten fünf Grippewellen mit der SARS-CoV-2-Pandemie verglichen: COVID-19-Patienten wurden sechs Tage länger beatmet – ein Grund, warum das RKI das Vorhalten von ausreichend Beatmungskapazität anmahnt.

Verläuft eine schwere SARS-CoV-2-Infektion kritischer als andere schwere Atemwegserkrankungen? Das Robert Koch-Institut (RKI) hat COVID-19-Patienten mit Menschen mit schweren akuten Atemwegsinfektionen (SARI, severe acute respiratory infection) der letzten fünf Grippewellen in  deutschen Krankenhäusern verglichen. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler Kristin Tolksdorf, Dr. Silke Buda, Dr. Ekkehard Schuler, RKI-Chef Professor Lothar Wieler und Professor Walter Haas im Epidemiologischen Bulletin 41/2020 veröffentlicht: „Eine höhere Letalität und lange Beatmungsdauer unterscheiden COVID-19 von schwer verlaufenden Atemwegsinfektionen in Grippewellen“. Als Datenquellen nutzte das RKI die ICOSARI (ICD-10-Code-basiertes Krankenhaussentinel für schwere akute respiratorische Erkrankungen).

Vergleich von COVID-19 mit anderen schweren akuten Atemwegsinfektionen – welche Daten nutzte das RKI?

Das Robert Koch-Institut griff für seine Auswertung „Eine höhere Letalität und lange Beatmungsdauer unterscheiden COVID-19 von schwer verlaufenden Atemwegsinfektionen in Grippewellen“ auf ICOSARI zurück. ICOSARI steht für „ICD-10-Code-basiertes Krankenhaussentinel für schwere akute respiratorische Erkrankungen“. Dieses erfasst (seit 2014, Kalenderwoche 40) Daten und Diagnosecodes von Patienten mit schweren akuten respiratorischen Infektionen aus 70 Akutkrankenhäusern und umfasst etwa 6 Prozent der stationär in Deutschland aufgenommenen Patienten. Dabei wurden Patienten mit akuter respiratorischer Erkrankung der unteren Atemwege (ICD-10-Codes J09-J22) und einer COVID-19-Diagnose (U07.1!, laborbestätigte SARS-CoV-2-Infektion) als SARI-COVID-Fälle bezeichnet. Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung der unteren Atemwege (ICD-10-Codes J09-J22), die während der Grippewellen (GW) in Deutschland stationär in einem der Sentinel-Krankenhäuser aufgenommen wurden, werden als SARI-GW-Fälle (69.573 Patienten) bezeichnet. Die Wissenschaftler werteten SARI-GW-Fälle für die Jahre 2015 bis 2019 mit je einem Aufnahmedatum in den Kalenderwochen drei bis elf aus, dieser Zeitraum berücksichtigt die Mehrheit der stationär aufgenommenen SARI-GW-Fälle (58 Prozent). SARI-COVID-Fälle (1.426 Patienten) wurden mit einem stationären Aufnahmedatum in den Kalenderwochen 10 bis 18 dieses Jahres erfasst (79 Prozent der stationär aufgenommenen SARI-COVID-Fälle (Datenstand: 18. August 2020).

Die Wissenschaftler um Kristin Tolksdorf interessierte unter anderem, wie häufig die jeweiligen Patienten beatmet wurden, ihre Beatmungsdauer, wie lange sie im Krankenhaus blieben sowie die Sterblichkeit. Dabei berücksichtigte das RKI verschiedene Schwere-Ebenen, die sich allerdings nicht gegenseitig ausschlossen: Behandlung auf der Intensivstation, Beatmung sowie Versterben des Patienten. Im Betrachtungszeitraum gehörten 17 Prozent der SARI-GW-Fälle (Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung der unteren Atemwege) zur Altersgruppe der Kinder unter 15 Jahren, aber nur 0,1 Prozent der COVID-19-Fälle entfielen auf diese Altersgruppe. Da Atemwegsinfektionen bei Kindern meist einen deutlich schwereren Verlauf nehmen als bei Erwachsenen und dies zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen würde, berücksichtigte das RKI Kinder unter 15 Jahren in der vorliegenden Auswertung nicht.

COVID-19: schwerere Verläufe, längere Beatmung, mehr Todesfällen

„Es wird deutlich, dass der Anteil schwerer Verläufe in allen Betrachtungsebenen bei SARI-COVID-Patienten deutlich höher ist als bei SARI-GW-Patienten“, erklärt das RKI.  Die Auswertung zeigt, dass  insbesondere der Anteil beatmungspflichtiger und der Anteil verstorbener Patienten bei stationär behandelten SARI-Fällen mit COVID-19-Diagnose im Vergleich deutlich höher liegt: 22 Prozent der COVID-19-Patienten waren beatmungspflichtig, während es „nur“ 14 Prozent der Patienten während der letzten fünf Grippewellen waren. 21 Prozent der COVID-19-Patienten verstarben, bei Patienten mit anderen schweren akuten Atemwegsinfektionen waren es 12 Prozent. Dagegen ist der Anteil Intensivpatienten bei SARI-COVID-Patienten nur leicht höher als bei SARI-GW-Fällen (37 Prozent vs. 32 Prozent) und der Anteil von Patienten, die keine Intensivbehandlung oder Beatmung erhalten haben und die nach Hause entlassen werden konnten, lag bei COVID-19 mit 43 Prozent unter dem Anteil der SARI-GW-Patienten mit 55 Prozent.

Länger im Krankenhaus und sechs Tage länger beatmet

Vergleicht man die Hospitalisierungsdauer der SARI-COVID-19-Patienten mit den schwer erkrankten Atemwegspatienten der letzten fünf Grippewellen, waren SARI-COVID-Patienten im Median zwei Tage länger hospitalisiert als SARI-GW-Patienten (zehn Tage vs. acht Tage). Das RKI fand diesen Unterschied vorwiegend bei Patienten mit einem schweren Verlauf, also Patienten, die intensivmedizinisch behandelt wurden (16 Tage bei COVID-19 und 13 Tage bei SARI-GW), die beatmet werden mussten (18 Tage bei COVID-19 und 16 Tage bei SARI-GW) beziehungsweise während der Hospitalisierung verstarben (zehn Tage bei COVID-19 und acht Tage bei SARI-GW). Hingegen: Wurden Patienten verlegt (andere medizinische Einrichtung, Entlassung nach Hause ohne Nachbeobachtung), war die Hospitalisierungsdauer ähnlich, und Patienten mit weniger schweren Verläufen waren im Median gleich lang im Krankenhaus, unabhängig davon, ob SARI-COVID oder SARI-GW vorlag.

Es gab große Unterschiede bei der Dauer der mechanischen Beatmung. Beatmungspflichtige SARI-COVID-Patienten wurden im Median sechs Tage länger und damit mehr als doppelt so lange beatmet wie SARI-GW-Patienten: COVID-19-Patienten mussten im Median fünf Tage intensiv behandelt werden und wurden zehn Tage beatmet, Patienten mit anderen schweren akuten Atemwegsinfektionen wurden im Median vier Tage intensiv behandelt und vier Tage intensiv beatmet.

Wie alt sind die Patienten?

Im Median sind COVID-19-Patienten mit 73 Jahren „leicht“ jünger als Patienten mit anderen schweren akuten Atemwegsinfektionen mit 77 Jahren (nach dem Ausschluss aller Patienten unter 15 Jahren). Jünger waren auch Intensivpatienten und beatmeten Patienten mit COVID-19: Intensivpatienten mit COVID-19 waren im Median mit 72 Jahren vier Jahre jünger als mit SARI-GW, beatmete COVID-19-Patienten waren im Median mit 71 Jahren zwei Jahre jünger als mit SARI-GW 
(73 Jahre). Dagegen waren verstorbene SARI-COVID-Patienten im Median gleich alt wie verstorbene SARI-GW-Fälle.

SARI-COVID-Fälle ohne intensivmedizinische Behandlung oder Beatmung, die nach Hause entlassen werden konnten, waren im Median deutlich jünger als SARI-GW-Fälle. Insgesamt sei die Altersstruktur zwischen den beiden Gruppen aber durchaus vergleichbar, so das RKI.

Längere Beatmungsdauer erfordert mehr Beatmungsplätze

Vor allem die längere Hospitalisierung, die häufigere Beatmung und die um sechs Tage längerer Beatmungsdauer lassen das RKI mahnen: „Die Ergebnisse zur Erkrankungsschwere bestätigen die vorläufige Einschätzung, dass hospitalisierte COVID-19-Patienten mit einer SARI im Schnitt besonders häufig und besonders lange beatmet werden müssen. Um auf einen eventuell bevorstehenden Anstieg der COVID-19-Fälle im Herbst 2020 vorbereitet zu sein, besteht die Notwendigkeit, mehr intensivmedizinische Ressourcen und insbesondere Beatmungsplätze als während vergangener Grippewellen vorzuhalten.“



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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