Verteilung von Apothekenstandorten

IGES-Gutachten: Daten zeigen vielerorts grenzwertige Erreichbarkeit von Apotheken

Süsel - 11.09.2020, 07:00 Uhr

Vielerorts hängt die Versorgung der Menschen mit Arzneimitteln von einer einzigen Apotheke ab. (Foto: imago images / Müller-Stauffenberg)

Vielerorts hängt die Versorgung der Menschen mit Arzneimitteln von einer einzigen Apotheke ab. (Foto: imago images / Müller-Stauffenberg)


Die flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln ist ein zentrales Thema der Berufspolitik, aber im Vergleich zu seiner Bedeutung gab es dazu bisher wenig detaillierte Daten. Mit dem am Mittwoch veröffentlichten IGES-Gutachten hat sich das geändert. Demnach ist die flächendeckende Versorgung noch gesichert. Doch offenbar hat die Apothekendichte vielerorts die Grenze für eine angemessene Versorgung erreicht. Dies betrifft nicht nur einzelne Standorte, sondern das ist ein Strukturproblem. Eine weitere Schwächung verträgt das System daher nicht.

Zum Wesen einer flächendeckenden Versorgung gehört ihre Unteilbarkeit. Ein bisschen flächendeckend wäre wie ein bisschen schwanger. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Versorgung irgendwo nicht funktioniert, ist sie nicht flächendeckend. Eine Analyse zu diesem Thema muss daher geographisch ins Detail gehen und jede einzelne Apotheke betrachten. Dennoch bieten die Berufsorganisationen nur Daten auf der Ebene der Bundesländer oder für ganz Deutschland. Die bisher wohl detailgenaueste Analyse zur Verteilung der Apotheken haben Professor Uwe May, Cosima Bauer und Dr. Heinz-Uwe Dettling in ihrem Gutachten zum „Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel“ vorgelegt. Auf dem Stand vom Mai 2017 haben sie darin 1.711 Apotheken identifiziert, die mindestens fünf Kilometer von der nächsten Apotheke entfernt sind. Sie haben gefolgert, dass der Wegfall jeder dieser Apotheken zu einer Versorgungslücke führen würde.

Nun liefert das IGES-Gutachten weitere Daten zum Thema. Sie beziehen sich auf den Apothekenbestand vom Februar 2020 und die Gebietsstrukturen von Ende 2018. Demnach gibt es in Deutschland 11.014 Gemeinden, von denen nur 4.631 Gemeinden über mindestens eine Apotheke verfügen. Für die Relation zwischen der Einwohnerzahl und der Zahl der Apotheken pro Gemeinde haben die Autoren eine sehr enge Korrelation festgestellt. Die 6.383 Gemeinden ohne Apotheke umfassen 30 Prozent der Fläche Deutschlands, aber darin leben nur 7,9 Prozent der Bevölkerung. Dies sagt jedoch nicht viel über die Erreichbarkeit von Apotheken aus.

Neue Daten zur Erreichbarkeit

Um die Erreichbarkeit zu ermitteln, hat das IGES-Institut die Einwohnerdaten aus einem Gitternetz mit 3,1 Millionen Zellen im Format von 100 mal 100 Metern ausgewertet. Dabei wurden tatsächliche Wege, also nicht die Luftlinie, betrachtet. Für die Erreichbarkeit mit dem Auto innerhalb einer bestimmten Zeit wurden reale Fahrzeiten aus einem Navigationssystem herangezogen. Die Analyse bezieht sich auf ganz Deutschland mit Ausnahme von elf Inselgemeinden, deren Situation sich grundlegend vom Festland unterscheidet. Aus diesen Daten wurde ermittelt, dass 98,0 Prozent der Einwohner innerhalb von zehn Minuten mit dem Auto eine Apotheke erreichen, zu Fuß aber nur 34,9 Prozent. Sogar in 20 Minuten können nur 64,1 Prozent der Einwohner zu Fuß zu einer Apotheke gelangen. Bereits diese grobe Betrachtung zeigt, dass die Erreichbarkeit zu Fuß vielerorts kritisch ist.

Mehr Daten liefern die Auswertungen nach Siedlungs- und Gemeindetypen. Demnach erreichen 97,4 Prozent der Bewohner großer Großstädte in fünf Minuten mit dem Auto eine Apotheke. In kleinen Kleinstädten sind mit dem Auto dagegen zehn Minuten nötig, damit 96,2 Prozent der Bewohner eine Apotheke erreichen. In fünf Minuten schaffen das nur 66,7 Prozent. In Landgemeinden reichen zehn Minuten mit dem Auto für 90,3 Prozent der Einwohner und 46,7 Prozent brauchen nur fünf Minuten. 

Versorgung hängt oft an einer einzigen Apotheke

Bei den dünnbesiedelten Gemeindetypen ist jedoch eine andere Zahl mindestens ebenso wichtig. Im Zehn-Minuten-Auto-Radius liegen in kleinen Kleinstädten durchschnittlich 4,8 Apotheken und in Landgemeinden 3,5 Apotheken. Im Fünf-Minuten-Auto-Radius sind es in kleinen Kleinstädten jedoch nur 1,8 Apotheken und in Landgemeinden 1,3 Apotheken. Leider benennen die Autoren nicht die naheliegende Konsequenz: Wenn diese Zahl unter 2,0 liegt, steht nach der Schließung einer Apotheke im Durchschnittsfall keine andere Apotheke mehr zur Verfügung. Die Versorgung hängt dort also an einer einzigen Apotheke. Die Daten zeigen, dass dies die durchschnittliche Situation in kleinen Kleinstädten und Landgemeinden ist, soweit es um die Erreichbarkeit mit dem Auto innerhalb von fünf Minuten geht.

Schwierige Erreichbarkeit zu Fuß

Noch viel deutlicher wird dies bei der Erreichbarkeit zu Fuß. In kreisfreien Großstädten erreichen 55,0 Prozent der Einwohner in zehn Minuten eine Apotheke, in städtischen Kreisen sind es nur 30,6 Prozent. In diesem Radius befinden sich in kreisfreien Großstädten durchschnittlich 2,1 Apotheken und in städtischen Kreisen 1,7 Apotheken. Bemerkenswert erscheint auch, dass sogar in städtischen Kreisen nur 62,1 Prozent der Einwohner in 20 Minuten zu Fuß eine Apotheke erreichen. Offenbar ist Flächendeckung längst nicht nur ein Thema für den ländlichen Raum, sondern die Versorgung muss auch an den Rändern großer Städte thematisiert werden. Wahrscheinlich sind sozial schwache Vororte dabei ein zentraler Aspekt. Doch dies geht aus der Darstellung im IGES-Gutachten nicht hervor.

Das Gutachten bietet allerdings noch weitere Einblicke in die Situation ländlicher Regionen. In kleinen Kleinstädten erreichen demnach nur 20,4 Prozent der Einwohner in zehn Minuten zu Fuß eine Apotheke, in Landgemeinden nur 13,5 Prozent. In diesem Radius befinden sich im Durchschnitt 1,3 Apotheken in kleinen Kleinstädten und 1,1 Apotheken in Landgemeinden. Innerhalb von zwanzig Minuten erreichen 44,8 Prozent der Bewohner kleiner Kleinstädte zu Fuß eine Apotheke, in Landgemeinden 27,6 Prozent. In diesem Radius befinden sich durchschnittlich nur 1,6 Apotheken in kleinen Kleinstädten und 1,1 Apotheken in Landgemeinden.

Strukturelles Problem - kein Spezialfall

Daraus lässt sich ein klares Fazit ziehen: Die wohnortnahe Arzneimittelversorgung hängt vielerorts an einer einzigen Apotheke. Dies ist kein Einzelphänomen an besonderen Standorten, sondern die Durchschnittssituation auf dem Lande, in kleinen Städten und in den Randbereichen städtischer Kreise. Aus dem Spezialfall ist ein Strukturproblem geworden. Die Apothekendichte ist auf einem Niveau angekommen, das vielerorts die Grenze der gewohnten und gewünschten Versorgung darstellt. Das steht nicht im IGES-Gutachten, aber das Gutachten liefert nun die Daten, die diese Feststellung untermauern.



Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Erreichbarkeit von Apotheken

von Christoph Witzke am 11.09.2020 um 14:43 Uhr

Komisch: getreu dem alten Lehrsatz "in Deutschland gibt es eh zu viele Apotheken" bekommen wir von allen möglichen "Fachleuten" Vorbilder wie Dänemark oder Norwegen empfohlen, wo es mit deutlich geringerer Apothekendichte auch super funktioniert. Da kann der Fahrt Weg zur Apotheke aber gerne auch mal 50 km betragen …

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