Wenn Wissen versandet

Mehr als 170 wissenschaftliche Zeitschriften sind aus dem Internet verschwunden

Remagen - 16.09.2020, 12:30 Uhr

Laut Wissenschaftlern sind 176 Open Access-Zeitschriften mangels umfassender und offener Archive zwischen 2000 und 2019 aus dem Netz verschwunden. (s / Foto: JWS / stock.adobe.com)

Laut Wissenschaftlern sind 176 Open Access-Zeitschriften mangels umfassender und offener Archive zwischen 2000 und 2019 aus dem Netz verschwunden. (s / Foto: JWS / stock.adobe.com)


Wissenschaftliche Zeitschriften sollen eigentlich fortlaufend widerspiegeln, wie sich der Stand der Erkenntnisse weiterentwickelt. Manche schaffen das über einige Jahrzehnte, wenn nicht mehr als ein Jahrhundert. In unserem schnelllebigen Internet-Zeitalter geht allerdings einiges an wertvollem Wissen oft völlig unbemerkt verloren. Nach einer neuen Analyse sind in den letzten zwei Jahrzehnten 176 Open-Access-Zeitschriften aus dem Internet verschwunden.   

Die Bewahrung wissenschaftlicher Aufzeichnungen ist seit Beginn der Wissensproduktion eine große Herausforderung. Bei Printpublikationen liegt die Verantwortung dafür in erster Linie bei Bibliothekaren, aber der Übergang zum digitalen Publishing und besonders die Einführung von Open Access (OA) haben die Sache verkompliziert, so praktisch und wünschenswert diese neuen Optionen auch sein mögen. Denn während man das, „was man schwarz auf weiß besitzt“, bekanntermaßen „getrost nach Hause tragen kann“, ist der langfristige Online-Zugang zu Zeitschriften im Internet nicht immer gewährleistet. Sie können sogar vollständig aus dem Web verschwinden. 

Ein Wissenschaftlerteam von der Hanken School of Economics in Helsinki, der Freien Universität Berlin und der Universität Göttingen hat mit einer Sondierungsstudie versucht, sich ein Bild über die aktuelle Lage zu verschaffen und die Ergebnisse auf dem arXiv Preprint Server veröffentlicht.

Minutiöse Rückverfolgung

Für die Analyse konsultierten die Forscher mehrere wichtige bibliografische Indizes, wie 

und verfolgten die Zeitschriften über die Wayback Machine des Internet-Archivs zurück, um zu sehen, wann sie zuletzt veröffentlicht wurden und wann der Inhalt zuletzt im Internet verfügbar war. Zeitschriften wurden als „verschwunden" betrachtet, wenn nur noch weniger als fünfzig Prozent ihrer Inhalte online frei verfügbar waren. Sie fanden 176 Open Access-Zeitschriften, deren Online-Präsenz mangels umfassender und offener Archive zwischen 2000 und 2019 aus dem Netz verschwunden sind.

Weitere 900 inaktive Open-Access-Zeitschriften könnten verschwinden

Mehr als die Hälfte der Zeitschriften war in den Sozial- und Geisteswissenschaften angesiedelt, aber auch die Biowissenschaften, Gesundheitswissenschaften, Physik und Mathematik waren vertreten. Achtundachtzig waren einer wissenschaftlichen Gesellschaft oder einer Forschungseinrichtung angeschlossen. Die Mehrheit der Zeitschriften war innerhalb von fünf Jahren verschwunden, nachdem sie inaktiv geworden waren, der Punkt, an dem sie aufhörten, Papiere zu veröffentlichen. Etwa ein Drittel verschwand innerhalb eines Jahres nach der letzten Veröffentlichung. Aus diesem Lebenszyklus leiten die Forscher die Schätzung ab, dass in naher Zukunft weitere 900 inaktive Open-Access-Zeitschriften nicht mehr verfügbar sein könnten. 

Warum verschwinden die Zeitschriften?

„Zeitschriften können aus einer Reihe von Gründen aus dem Internet verschwinden“, sagt Mikael Laakso, Informationswissenschaftler an der Hanken School of Economics in Helsinki und Co-Autor der Studie. „Der Herausgeber kann zum Beispiel seine Zahlung zur Aufrechterhaltung der Webseite einstellen. Manche Journale werden auf einer Online-Plattform gehostet, die zu einer akademischen Institution gehört und bei der Aktualisierung der Website oder des Servers einfach nicht mehr mit aufgenommen. Wenn dies geschieht, sollen die Journale in digitalen Archiven aufbewahrt werden“, erläutert Laasko weiter.

Weitere Archivierung wünschenswert

Besondere Dienste sollen sicherstellen, dass Publikationen auch dann verfügbar bleiben, wenn der Verlag nicht mehr da ist. Ein solcher Service ist das LOCKSS (Lots of Copies Keep Stuff Safe) Program, das 1999 von den Stanford Libraries ins Leben gerufen wurde. LOCKSS fertigt mehrere Kopien von Inhalten an, die auf den Servern teilnehmender Bibliotheken gespeichert werden. Ähnliche Initiativen, darunter 

sind in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf die Kosten und die Deckung. Derzeit werden zehntausende von Titeln in solchen Erhaltungsprogrammen kuratiert, aber laut Laakso gibt es Dutzende von Zeitschriften, die trotzdem durch das Raster fielen. Ob eine Zeitschrift online wirklich nicht verfügbar ist, sei überhaupt schwer festzustellen, ergänzt Lisa Matthias, Co-Autorin der Studie und Doktorandin an der Freien Universität Berlin. Es gebe keine einzige Datenbank, die die Aktivitäten von Open-Access-Zeitschriften nachverfolge.

Mehr Einsatz für die Erhaltung des Wissens gefordert

Für den kommissarischen Leiter des LOCKSS-Programms Thib Guicherd-Callin ist es nicht verwunderlich, dass manche Zeitschriften nicht von bestehenden Erhaltungsdiensten erfasst werden. Obwohl viele Gruppen die Open-Source-Software LOCKSS verwendet hätten, seien Initiativen zur digitalen Erhaltung immer noch „völlig unterfinanziert". „Der Wunsch, diese gefährdeten Werke zu erhalten, ist da", fügt Guicherd-Callin hinzu, „aber nur wenige Institutionen investieren die notwendigen Ressourcen, um diese Publikationen zu identifizieren und sicherzustellen, dass sie in ein digitales Erhaltungsprogramm aufgenommen werden.“ 

Mehr zum Thema

Die Wissenschaftler fordern nun dringend, gemeinsame Maßnahmen zu ergreifen, um den kontinuierlichen Zugang zu solchen Zeitschriften zu gewährleisten und den Verlust von mehr wissenschaftlichem Wissen zu verhindern.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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