Patentaussetzung bei COVID-19-Impfstoffen

Nur ein vorübergehender „Sturm im Wasserglas“?

Remagen - 12.05.2021, 13:45 Uhr

Die Welthandelsorganisation WTO ist bezüglich einer möglichen Aussetzung der Patente für COVID-19-Impfstoffe von zentraler Bedeutung. (x / Foto: IMAGO / ITAR-TASS)

Die Welthandelsorganisation WTO ist bezüglich einer möglichen Aussetzung der Patente für COVID-19-Impfstoffe von zentraler Bedeutung. (x / Foto: IMAGO / ITAR-TASS)


In der vergangenen Woche hat US-Präsident Joe Biden international eine kleine „Schockwelle“ ausgelöst, indem er die Aussetzung von Patenten für COVID-19-Impfstoffe öffentlich befürwortet hat. Die Pharmaindustrie läuft Sturm gegen ein solches Ansinnen, weil das aus ihrer Sicht nichts bringen würde. Von einem Tag auf den anderen dürfte das sowieso nicht möglich sein.

Um den weltweiten Immunisierungen mehr Schwung zu geben und die Ungleichgewichte zu vergleichsweise reichen Ländern auszugleichen, haben rund einhundert Länder, angeführt von Indien und Südafrika, im Herbst des vergangenen Jahres einen ungewöhnlichen Vorstoß gewagt. Sie haben der Welthandelsorganisation (WTO) den Vorschlag unterbreitet, die Rechte am geistigen Eigentum (IP) im Zusammenhang mit COVID-19 zeitlich begrenzt aufzuheben. Die wichtigsten Impfstofflieferanten sollten ihr Wissen teilen, damit mehr Länder Impfstoffe für ihre eigene Bevölkerung und für andere mit dem niedrigsten Einkommen herstellen können, so die Hauptintention. Der als „TRIPS waiver“ bekannte Vorschlag wurde von einigen Ländern und Regionen mit hohem Einkommen wie der EU, Großbritannien, der Schweiz, Japan, Norwegen, Kanada, Australien, Brasilien und bis vor kurzem auch von den USA blockiert.

Dann überraschte US-Präsident Joe Biden vor wenigen Tagen bei der zweitägigen Sitzung des Generalrats der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf mit der Ankündigung, dass die US-Regierung die Aufhebung der Rechte an geistigem Eigentum für COVID-Impfstoffe befürworte, unter Berufung auf die „außergewöhnlichen Umstände” der Pandemie.

Biden sorgte hiermit weltweit für Verwunderung, hatten doch ehemalige US-Präsidenten sowohl der republikanischen als auch der demokratischen Parteien die Rechte des geistigen Eigentums bislang stets vehement verteidigt.

EU gibt sich gesprächsbereit, erwartet aber keinen Schnellschuss

Die europäischen Staats- und Regierungschefs diskutierten auf einem informellen EU-Gipfel in Portugal am Freitag über die Idee. Während Deutschland sich entschieden dagegen aussprach, signalisierten andere wie Frankreich, Italien und Polen zunächst Unterstützung. Die USA mussten sich Kritik daran gefallen lassen, dass sie wegen der konsequenten Bevorzugung der eigenen Bevölkerung im Gegensatz zur EU bisher keine COVID-19-Impfstoffe exportiert haben. „Heute gehen einhundert Prozent der in den Vereinigten Staaten von Amerika hergestellten Impfstoffe auf den amerikanischen Markt”, stellte der französische Präsident Emmanuel Macron fest.

Er besteht darauf, dass die impfstoffproduzierenden Länder ihre Exporte steigern. Die neuesten Daten der Europäischen Kommission besagen, dass von den 400 Millionen Dosen, die bisher in der Union hergestellt wurden, insgesamt 200 Millionen in 90 verschiedene Länder exportiert wurden.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, gab sich gesprächsbereit: „Wir sollten offen für diese Diskussion sein“, sagte von der Leyen. „Wir sollten uns zum Beispiel auch die Rolle der Lizenzierung genau ansehen.“ Eine kurzfristige Lösung stellte sie jedoch nicht in Aussicht. „Wir sollten uns jedoch der Tatsache bewusst sein, dass dies langfristige Themen sind”, so die Kommissionspräsidentin weiter.

Innovationsbremse und Fälschungsfalle?

Die forschenden Pharma-Unternehmen, die sich in Deutschland im vfa zusammengeschlossen haben, lehnen die Aufhebung des Patentschutzes kategorisch ab. Sie begründen dies damit, dass dies die Forschung behindere und das Problem der noch fehlenden Produktionskapazitäten verschärfe. Eine Aufhebung des Patentschutzes würde aus der Sicht der Unternehmen nicht dafür sorgen, „dass auch nur eine einzige Dosis Impfstoff schneller zur Verfügung steht“. Sie befürchten eher das Gegenteil, nämlich, dass Originalhersteller keinen Anreiz mehr hätten, sich an einer schnellstmöglichen weltweiten Versorgung mit Impfstoffen zu beteiligen. Außerdem lasse sich eine Impfstoff-Produktionsstätte nicht über Nacht auf der grünen Wiese errichten und die vor Ort benötigte Expertise der Fachkräfte, Kühlgeräte und hochtechnologische Bestandteile für die Herstellung des Serums seien nur begrenzt verfügbar. Branchenverbände befürchten außerdem, dass eine Patentaussetzung ohne Zugang zu sämtlichem Know-how zu Qualitäts-, Sicherheits- und Wirksamkeitsproblemen und möglicherweise sogar zu Fälschungen führen könnte.

„Symbolpolitik statt Hilfe in der Not“

„Zur Überwindung der Pandemie bringen Patentfreigaben gar nichts“, konstatiert vfa-Präsident Han Steutel. Er ist überzeugt, dass die jetzigen Hersteller im nächsten Jahr nach heutigem Planungsstand mehr Impfstoff-Dosen produzieren, als die Weltbevölkerung benötigt. Patentfreigaben wären für ihn „reine Symbolpolitik statt Hilfe in der Not“. Der vfa-Präsident appelliert stattdessen dringend an die Länder, die Belieferung von Herstellern mit den benötigten Zutaten, Geräten und Ersatzteilen nicht länger durch Exportverbote zu blockieren. Außerdem sollte es allen Ländern mit eigenen Produktionsstätten gestattet werden, dass dort produzierte Impfstoffe auch über das COVAX-(COVID-19 Vaccines Global Access) Programm der WHO an arme Länder geliefert werden.

Entscheidungsträger WTO

Die Welthandelsorganisation WTO ist für die Fragestellung von zentraler Bedeutung, da sie die ultimative Autorität für die Rechte an geistigem Eigentum und für den internationalen Handel darstellt. Dennoch wäre eine einstimmige Zustimmung der Länder erforderlich, damit die Maßnahme verabschiedet werden kann. Die Aufhebung des Patentschutzes für COVID-19-Impfstoffe würde komplizierte und zeitaufwendige Verhandlungen erfordern, ohne zu wissen, ob die vorübergehende Aussetzung angesichts des zeit- und resourcenaufwendigen Aufbaus neuer Produktionskapazitäten tatsächlich etwas bringen würde.

Ausweg über Lizenzen?

Die Pharmaindustrie präferiert ein Lizenzierungssystem, das ihrer Ansicht nach bereits sehr gut umgesetzt wird. Als Beispiele werden in Presseberichten der Vertrag von AstraZeneca mit dem weltweit größten Impfstoffhersteller, dem indischen Serum Institute, und von Johnson & Johnson mit Aspen Pharmacare aus Südafrika angeführt. Eine Lizenzvereinbarung ist größtenteils freiwillig und besagt, dass ein Impfstoffentwickler nicht nur Patente, sondern auch die Technologie und das vollständige Know-how mit einem Hersteller teilt. Ein Patentverzicht hingegen zwingt einen Impfstoffentwickler dazu, die Rezeptur seines Impfstoffs offenzulegen.

Eine vorübergehende IP-Erleichterung durch die WTO würde bedeuten, dass jedes Unternehmen, das COVID-19-Impfstoffe herstellen möchte, dies tun kann, ohne Lizenzgebühren an Impfstoffentwickler zahlen zu müssen und ohne sich Sorgen machen zu müssen, wegen Patentverletzung verklagt zu werden. Zwar können den Impfstoffherstellern nach dem WTO-System Zwangslizenzen auferlegt werden, die sie dazu zwingen, ihr Know-how zu teilen und den Produktionsprozess zu überwachen, aber die Pharmaunternehmen müssten dann dafür entschädigt werden.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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