Die Folgen der Hochwasserkatastrophe

Die Hölle in der Paradies-Apotheke

Altenahr - 17.08.2021, 17:50 Uhr


Es war nicht viel los, und rückblickend war der 14. Juli 2021 sogar ein Tag mit trügerischer Ruhe im rheinland-pfälzischen Altenahr. Über Gabriele Wierzgalla und ihre traditionsreiche Paradies-Apotheke brachen jedoch in den Abendstunden desselben Tages die Wassermassen herein und veränderten das Leben von jetzt auf gleich. Die Offizin, das Labor und die Lagerräume wurden vollständig verwüstet. Wie es weitergeht, bleibt offen. Doch die Apothekerin hat Pläne, wie sie gegenüber der DAZ berichtet. 

Für den Nachmittag des 14. Juli 2021 hat Gabriele Wierzgalla eine Vertretung organisiert. Die Apothekeninhaberin aus Altenahr im nördlichen Rheinland­-Pfalz nimmt an einer virtuellen Fortbildung der Apothekerkammer zu Grippeimpfungen teil. Es ist nicht viel los an jenem Mittwoch, auch weil es ununterbrochen regnet. Im Backoffice beschäftigt sich Wierzgalla mit ihrem Seminar, während ihre Mitarbeiterinnen die Stellung in der tradi­tionsreichen Paradies-­Apotheke halten. Doch die Vorboten des tragischen Er­eignisses erreichen das Apothekenteam in Form von Fotos und Videos auf den Smartphones. Die Vertretungsapothekerin beginnt nervös zu werden: Schafft sie es mit dem Auto noch rechtzeitig nach Hause? Als plötzlich die Botin ihre Tour abbricht und in die Apotheke zurückkommt, kippt die Stimmung. Sie erzählt von überfluteten Grundstücken und Straßen. Auch die anderen Angestellten machen sich nun zunehmend Sorgen. 
Wierzgalla bleibt dagegen zunächst gelassen und schickt ihr Team eine Stunde vor Ladenschluss in den Feierabend. Nach der Kammerfortbildung begibt sie sich in ihre Wohnung direkt über der Apotheke zum Abendessen, um anschließend wieder zurück in der Offizin den Tagesabschluss an der Kasse zu machen.

Plötzlich ist der Strom weg

Als sie das Bargeld zählen will, geht plötzlich das Licht aus. Es gibt keinen Strom mehr – weder in der Apotheke noch in der Straße. Unter einer Lichtkuppel zählt sie dann die restlichen Münzen und schließt die Tageseinnah­men im Tresor ein. Draußen hört sie die Mülltonnen klappern. Die Straße unmittelbar vor ihrer Offizin läuft all­mählich voll mit Wasser. Die drohende Katastrophe nehmen zu diesem Zeitpunkt aber nur wenige Anwohner wirklich ernst. Es ist sogar eher eine lockere Atmosphäre auf der Straße. Eltern beobachten zusammen mit ihren Kindern, wie sich die Welt um sie herum verändert. 

„Ich habe die ganze Zeit gedacht, das zieht an uns vorüber“, erklärt Gabriele Wierzgalla. Doch die Unwetterkatast­rophe ist bereits in vollem Gange. Das Wasser in der Straße steigt. In die Pa­radies-­Apotheken führen zwei Stufen. Für Wierzgalla bilden die beiden Stu­fen an diesem Tag den Pegelstand ab. Als die Offizin einen halben Meter unter Wasser steht und Autos am Schaufenster vorbeischwimmen, wird auch ihr die Gefahr immer präsenter. 

Das Apothekenmobiliar beginnt sich nach einer Weile ebenfalls selbstständig zu machen. Wierzgalla bezeichnet es rückblickend als „tanzen“. Draußen auf der Straße werden die diversen Gegenstände, die das Wasser fortträgt, immer größer: Mülltonnen, Bäume, Wohnwagen. 
In ihrer Wohnung im ersten Stock hält die Apothekerin Ausschau nach ihren beiden Katzen. Eine findet sie sofort, die andere bleibt bis heute verschwun­den. Damit ihr die eine Katze nicht auch noch verloren geht, setzt sie das Haustier zwischenzeitlich sogar in die Waschmaschine im zweiten Stock, schließt die Tür und sucht weiter. 
„Das war mir sehr wichtig. Aber heute weiß ich, dass durch diese Aktion sehr viel Zeit verloren ging“, resümiert Wierzgalla. 

Zuflucht auf dem Dachboden

Ein lauter Knall draußen vor dem Bal­konfenster erschreckt sie. Die Lichtkuppel der Apotheke ist explodiert und Wassermassen schießen wie ein Geysir in den Abendhimmel. Damit wird der Inhaberin bewusst, dass ihre Apotheke komplett unter Wasser steht. „Da wusste ich nicht mehr, was ich überhaupt noch versuchen soll zu retten, außer mich und meine Katze.“ Das Haustier greift sie aus der Waschmaschine, schnappt sich eine Decke und kämpft sich vor bis zur Leiter auf den Dachboden. Das Wasser steht ihr be­reits bis zur Taille. Ölgeruch macht sich breit im Haus. 

Als sie den Dachboden erreicht, ver­sucht sie zunächst mit ihrer Mutter zu telefonieren. Als sie ihr berichtet, dass sie gerade versucht ihr eigenes Leben zu retten, beendet die Mutter das Ge­spräch, weil sie weitere Details nicht 
ertragen kann. Als Nächstes wählt sie den Notruf und meldet der Feuerwehrleitstelle, man müsse sie und ihre Katze mit einem Hubschrauber retten. Doch die Hilfe lässt auf sich warten. Um ein Uhr nachts hat es längst auf­gehört zu regnen. Gabriele Wierzgalla streckt ihren Kopf aus dem Dachfenster und erblickt viele weitere verängstigte Gesichter von Menschen, die in jener sternenklaren Nacht ebenfalls Ausschau nach Überlebenden und Helfern halten. Man kommuniziert miteinander. Viele stel­len fest, dass der Pegel stagniert und in den Folgestunden sogar anfängt zu sinken. Die Apothekerin findet im Dachzimmer ihres Hauses einige Stunden Schlaf. 

Um sechs Uhr morgens am nächsten Tag wacht sie auf und sondiert vom Fenster aus die Lage: Das Was­ser um ihr Haus herum bildet einen ruhigen See, überall liegen Tonnen an Schlamm, Schutt und Trümmern. Möbel, Autos, Bäume sind verstreut über die Straße und Grundstücke. Sie geht in den ersten Stock zurück. Der Kühlschrank versperrt den Weg in ihre Wohnung, die voller Schlick ist. Im Pyjama beginnt sie aufzuräumen und versucht, die Schlammmassen wegzukehren – vor allem auch, weil sie wissen möchte, wo sich die zweite Katze befindet. Sie ist alleine und die Zeit vergeht wie im Flug.

„Ich habe von sechs Uhr bis sechs Uhr praktisch ohne Pause versucht, mein Hab und Gut zu retten“, berichtet sie. Und wahrscheinlich hätte sie das auch noch länger getan, wenn nicht abends die ersten Einsatzkräfte von Feuerwehr und THW zu ihr vorgedrungen wären. Die Helfer evakuieren sie aus dem Haus. Man befürchtet Einsturzgefahr. Wierzgalla würde am liebsten bleiben, sie will in der Wohnung und Apotheke retten, was zu retten ist. Doch sie muss Altenahr verlassen und wird zusammen mit ihrer Katze für einen Tag in eine Aufnahmestation gebracht. Dort kann sie duschen, sich umziehen und von den Strapazen der Katastrophennacht erholen.



Dr. Armin Edalat, Apotheker, Chefredakteur DAZ
redaktion@deutsche-apotheker-zeitung.de


Diesen Artikel teilen:


0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.