Expertengremium fordert Überdenken

Ist Paracetamol in der Schwangerschaft doch unsicherer als gedacht?

Stuttgart - 15.10.2021, 07:00 Uhr

Wird Paracetamol in der Schwangerschaft doch zu leichtfertig angewendet? (b/Foto: Руслан Галиуллин / AdobeStock)

Wird Paracetamol in der Schwangerschaft doch zu leichtfertig angewendet? (b/Foto: Руслан Галиуллин / AdobeStock)


Paracetamol gilt in der Schwangerschaft als sicheres Arzneimittel zur Schmerzlinderung und Fiebersenkung und gehört zu den weltweit am häufigsten eingesetzten Arzneimitteln. Ein Expertengremium fordert nun öffentlich ein Umdenken und verweist auf Studien, die ein erhöhtes Risiko für reproduktive und urogenitale Probleme sowie neurologische Entwicklungsstörungen bei pränatal exponierten Kindern zeigen.

Mehr als 50 Prozent aller werdenden Mütter weltweit geben an, in der Schwangerschaft Paracetamol eingenommen zu haben – in den USA sind es sogar mehr als 65 Prozent. Wenig verwunderlich, gilt der Arzneistoff doch – anders als nichtsteroidale Antirheumatika, deren Einsatz in der späten Schwangerschaft kontraindiziert ist – als sicher in der Schwangerschaft und wird in vielen Ländern auch außerhalb von Apotheken ver­trieben. Dass hier möglicherweise ein Umdenken erforderlich ist, mahnt eine internationale Expertengruppe in einer Erklärung an, die vor wenigen Tagen im Fachjournal „Nature Reviews Endocrinology online“ veröffentlicht wurde.

Zuvor hatte die 13 Personen große Expertengruppe, die aus Klinikern (Neurologie, Geburtshilfe, Gynäkologie, Pädiatrie), Epidemiologen und Grundlagenwissen-schaftlern (Fachärzte für Toxikologie, Endokrinologie, Reproduktionsmedizin und Neuroentwicklung) bestand, die Datenlage zur pränatalen Paracetamol-Exposition mit Publikationen zwischen 1995 und 2020 neu aufgerollt und bewertet. Ein Entwurf ihres Fazits ging anschließend an 78 weitere Fachleute, Kliniker und Wissenschaftler, die weitere Überarbeitungen und Kommentare hinzugefügt haben. Herausgekommen ist schlussendlich eine Erklärung, die die unterschied­lichen internationalen Perspektiven, Verschreibungspraktiken und klinische Überlegungen berücksichtigt.

Die Rolle der Prostaglandine

Die Expertengruppe warnt in ihrer Erklärung vor dem unbedachten Gebrauch von Paracetamol in der Schwangerschaft. Dies begründet sie damit, dass sich Hinweise häufen, die auf eine Beeinflussung einer pränatalen Exposition auf die Fötusentwicklung deuten. So konnte vor allem ein Anstieg an reproduktiven und urogenitalen Störungen sowie kognitiven Lern- und/oder Verhaltensstörungen bei Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft Paracetamol eingenommen 
hatten, festgestellt werden. Das Expertengremium sieht in Paracet­amol, 
das leicht die Plazenta- und Blut-Hirn-Schranke überwindet, einen endokrinen Disruptor, der empfindlich in die fetale Entwicklung der Kinder eingreift. Zwar ist der genaue Wirkmechanismus immer noch unbekannt. Es wird jedoch vermutet, dass Paracet­amol über die Hemmung des Prostaglandin-Signalübertragungswegs analgetisch wirkt. Auch konnten in experimentellen Untersuchungen Effekte von Paracetamol und seinen Metaboliten auf serotonerge, opioiderge, vanilloide und cannabinoide Rezeptoren gezeigt werden. Da Prostaglandine eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Keimdrüsen sowie der Entwicklung des Gehirns spielen, vermuten die Forscher hier die Ursache für die schädlichen Wirkungen auf den Fötus.

Mehr zum Thema Arzneimittel in der Schwangerschaft

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Alle Vorträge können noch bis zum Ende des Jahres kostenlos unter www.dav-expo.de angesehen werden. Auch stehen dort die Präsentationen zum Download zur Verfügung.

Paracetamol im Verdacht

In elf Beobachtungsstudien mit rund 130.000 Mutter-Kind-Paaren bewerteten die Expert:innen die urogenitalen und reproduktiven Auswirkungen von Paracetamol auf die Kinder. Es zeigte sich, dass im Vergleich zu nicht exponierten Kindern bei Jungen mit pränataler Paracetamol-Exposition unter anderem häufiger Kryptorchismus (Hodenhochstand) sowie ein verringerter Anogenitalabstand auftraten, die ein Indikator für eine gestörte Maskulinisierung sind und 
Risikofaktoren für spätere Fortpflanzungsschwierigkeiten darstellen. Bei den Mädchen konnten eine fehlerhafte Entwicklung der Eierstöcke und eine verringerte Anzahl an Eizellen, die zu einer frühzeitigen Eierstockinsuffizienz führen können, gesehen werden. Die Wahrscheinlichkeit für solche Effekte war vom Zeitpunkt der Exposition abhängig: So war das Risiko im zweiten und dritten Trimenon mit wenigen Ausnahmen am geringsten. 

In weiteren 29 Beobachtungsstudien – bestehend aus 220.000 Mutter-Kind-Paaren – bewerteten die Experten die neuronale Entwicklung von pränatal mit Paracetamol exponierten Kindern. Auch hier zeigte sich, dass bei den exponierten Kindern häufiger eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Autismus-Spektrum-Störungen, Sprachverzögerungen sowie ein verringerter IQ-Wert auftraten. Dabei wirkte sich vor allem die Anwendungsdauer des Analgetikums negativ auf das Risiko für spätere Entwicklungsstörungen aus. Zudem kritisieren die Autor:innen, dass die Mehrheit der schwangeren Frauen wahrscheinlich Paracetamol ohne eine klare Indikation einnimmt. Auch die Expert:innen befürworten die Einnahme bei hohem Fieber und starken Schmerzen, da insbesondere stark erhöhte Temperatur als Risikofaktor für Neuralrohrdefekte und spätere Herz-Kreislauf-Erkrankungen gilt. In einer Analyse von 2020 gaben jedoch nur 8 Prozent der Schwangeren an, Paracetamol zur Fiebersenkung eingenommen zu haben. Der Großteil hingegen hatte das Analgetikum bei Kopfschmerzen, Muskelschmerzen oder Rückenschmerzen angewendet, bei denen nach Meinung der Studienautoren Paracetamol nur begrenzt wirksam ist. 

Mehr Forschung gefordert

Auch wenn den Forschern die begrenzte Aussagekraft von Metaanalysen und epidemiologischen Literaturrecherchen sowie der Mangel an therapeutischen Alternativen bewusst ist, sehen sie in den gesichteten Studien trotzdem genug wissenschaftliche Beweise, um schwangere Frauen und medizinisches Personal vor der unbedachten Paracetamol-Anwendung zu warnen. Sie fordern, vermehrt Forschung in kontrollierten Studien zu dieser Thematik zu betreiben. Hier sollen ihrer Meinung nach noch mehr genetische Faktoren, der genaue Zeitpunkt, Dosis und Dauer der Exposition sowie das Ergebnis bewertet werden. Da solche Forschungen Zeit benötigen, fordern sie in der Zwischenzeit die großen Arzneimittelbehörden FDA und EMA zur Neubewertung von Paracet­amol in der Schwangerschaft auf und raten schwangeren Frauen zum Verzicht auf Paracetamol, es sei denn, es ist medizinisch indiziert. Aber auch dann sollte es nur in der niedrigsten Dosis und so kurz wie möglich eingesetzt werden.

DAZ 41|2021

Wie Dr. Wolfgang Paulus, Leiter der Reprotox-Beratungsstelle für Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit in Ulm, die Studienergebnisse in der alltäglichen Beratungspraxis einordnet, erläutert er in seinem Kommentar in der aktuellen Printausgabe 41|2021 der DAZ.

Stellungnahme des ENTIS

Auch das European Network of Teratology Information Services (ENTIS) äußert sich zu der Konsenserklärung und kritisiert, dass die dort aufgeführten Beweise für eine mögliche schädliche Auswirkung eines Paracetamol-Gebrauchs auf den Feten nur schwach, widersprüchlich und größtenteils grundlegend fehlerbehaftet sind. So sollen unter anderem klinische Schlussfolgerungen aus Daten gezogen worden sein, die keine Kausalitätsbewertung zulassen. Erbliche Aspekte, die einen wesentlichen Risikofaktor für die Entstehung einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder 
Autismus darstellen, würden gar nicht beachtet. Die Auswertungen seien 
zum Teil anhand von nicht validierten Fragebögen erfolgt. Zudem seien die 
zitierten Studien, die die urogenitale Entwicklung der Kinder untersucht 
hatten, wenig überzeugend. Ergebnisse, die keinen Zusammenhang gezeigt hatten, seien bewusst nicht veröffentlicht worden. Das Netzwerk kommt zu dem Schluss, dass Paracetamol nach wie vor Mittel der ersten Wahl in der Schwangerschaft ist, natürlich unter der Prämisse, dass es so kurz und so niedrig dosiert wie möglich eingesetzt wird.



Marina Buchheit-Gusmão, Apothekerin
redaktion@daz.online


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