Neue Perspektive für schwerste Form von Post-Covid

Start-up präsentiert Arzneistoffkandidat gegen chronisches Erschöpfungssyndrom

Kiel - 15.10.2024, 10:45 Uhr

Ist das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS (myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue Syndrom) eine mitochondriale Myopathie? (Symbolbild: photoopus/AdobeStock)

Ist das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS (myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue Syndrom) eine mitochondriale Myopathie? (Symbolbild: photoopus/AdobeStock)


Das Start-up-Unternehmen Mitodicure hat einen Arzneistoffkandidaten gegen das chronische Erschöpfungssyndrom präsentiert, der noch vor der klinischen Prüfungsphase I steht. Das Projekt stützt sich auf einen Pathomechanismus, der viele bekannte Befunde zu einem Kreislauf der Schädigung verknüpft. Damit eröffnet sich eine Perspektive für eine kausale Therapie dieser schwersten Form von Post-Covid. Doch trotz der Aussicht auf eine Sprunginnovation fehlt derzeit Geld für die weitere Entwicklung.

Das Projekt von Mitodicure gegen das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS (myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue Syndrom) beruht auf einer Erklärung der Erkrankung als mitochondriale Myopathie. Der Arzneistoffkandidat muss weiter toxikologisch untersucht werden, um danach mit den klinischen Prüfungen beginnen zu können. Es gibt viele Stoffe gegen die unterschiedlichsten Erkrankungen in diesem Entwicklungsstadium, von denen erfahrungsgemäß die Wenigsten jemals zugelassen werden. Warum verdient dieses Projekt dennoch besondere Aufmerksamkeit?

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Im Erfolgsfall riesiges Potenzial

Es geht um eine Erkrankung mit sehr vielen Betroffenen, die zu einer sehr schweren Krankheitslast und großen volkswirtschaftlichen Verlusten führt und gegen die bisher keine kausale Therapie möglich ist. Der potenzielle gesundheitliche und wirtschaftliche Zusatznutzen des Arzneimittels gegenüber den bisherigen unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten wäre im Erfolgsfall also hoch. Für die Betroffenen würde dies erstmals eine Aussicht auf ein weitgehend normales Leben eröffnen, anstatt mehr oder weniger an das Haus oder sogar an das Bett gebunden zu sein. Das Projekt stützt sich auf immer mehr Befunde und verspricht zudem einen großen Erkenntniswert, weil der zugrunde gelegte Pathomechanismus die vielen bisher bestehenden Erklärungsansätze auf plausible Weise verknüpft. Eine erfolgreiche Anwendung würde diese Erklärung bestätigen.

Suche nach kausaler Therapie für Millionen Patienten

ME/CFS ist seit Jahrzehnten als Folge von Infektionen oder traumatischen Belastungen bekannt. Die individuelle Betroffenheit reicht von eingeschränkter Leistungsfähigkeit bis zur Bettlägerigkeit im abgedunkelten Zimmer. Charakteristisch ist die unverhältnismäßige belastungsinduzierte Erschöpfung, also die Belastungsintoleranz. Die Patienten leiden oft schon nach kleinsten körperlichen oder mentalen Belastungen unter Fatigue, einer schweren und andauernden Erschöpfung. Bisher gibt es keine kausale Therapie. Es wird nur off-label und symptomorientiert behandelt. Die meisten Erkrankten sind jahrelang, möglicherweise sogar lebenslang arbeitsunfähig und teilweise an das Bett gebunden. Dies führt auch zu hohen volkswirtschaftlichen Schäden durch Arbeitsausfall und belastet die Sozialversicherungen. Oft sind junge Menschen, besonders häufig Frauen betroffen. 

Als starker Auslöser hat sich SARS-CoV-2 erwiesen. ME/CFS ist die schwerste Form des Post-COVID-Syndroms, sodass sich die Zahl der Betroffenen in Deutschland von etwa 250.000 vor der Pandemie (nach Angaben von Fatigatio e. V.) inzwischen mehr als verdoppelt hat. Weltweit geht es um viele Millionen Menschen. Der Zusammenhang zu Post-Covid hat die Aufmerksamkeit für ME/CFS verstärkt und sorgt zugleich für Missverständnisse. Denn das Post-COVID-Syndrom umfasst ein breites Spektrum unterschiedlicher Symptome, für die sehr verschiedene Pathomechanismen diskutiert werden. Dies erschwert die Suche nach einer Therapie. Nur ein kleiner Teil der Post-COVID-Patienten ist jahrelang schwer betroffen und entwickelt das Erschöpfungssyndrom, das eigenständig betrachtet werden muss.

Von Post-Covid zum Erschöpfungssyndrom

Die Erklärung von ME/CFS als erworbene Schädigung der Mitochondrien des Skelettmuskels wird inzwischen durch immer mehr Forschungsergebnisse gestützt. Für die Bedeutung der Muskulatur sprechen Muskelschmerzen und -krämpfe, die stark verminderte Muskelkraft, der anaerobe Stoffwechsel schon nach sehr kurzer Belastung und Befunde von Biopsien. Die ursprünglichen Auslöser der Schädigung wurden insbesondere für Post-COVID bereits vielfach isoliert voneinander beschrieben und werden hier in einen Zusammenhang gebracht. Blutbestandteile sind pathologisch verändert, insbesondere sind Erythrozyten schlechter verformbar und können daher die feinsten Kapillaren nicht mehr durchdringen. Es entstehen kleine Gerinnsel (microclots). Das Gefäßendothel wird geschädigt. Dies alles verschlechtert die Durchblutung kleiner Gefäße. Hinzu kommen Hypovolämie, verminderter Fülldruck des Herzens und in der Folge vermindertes Herzschlagvolumen, Tachykardie und die Konstriktion arterieller Gefäße. Dadurch entsteht über die akute Infektion hinaus ein thrombo-inflammatorischer Zustand mit erhöhter Sympathikus-Aktivität und endothelialer Dysfunktion. Diese Störung heilt meist nach einiger Zeit aus. Bei einigen Patienten dauern die Symptome jedoch an und gehen in das chronische Erschöpfungssyndrom über. Als prädisponierende Faktoren dafür werden insbesondere Autoantikörper und andere autoimmune Mechanismen diskutiert.

Durch Schädigung der Mitochondrien in den „Teufelskreis“

Bei den Betroffenen führt die Minderdurchblutung zu einer erworbenen Schädigung der Mitochondrien, die sich im weiteren Verlauf in einem „Teufelskreis“ selbst unterhält und daher andauert – so die zentrale Idee. Demnach wird nach einer Unterbrechung des Blutstroms in verstopften Kapillaren und der anschließenden plötzlichen Wiederdurchblutung das Ionengleichgewicht in den Muskelzellen massiv gestört. Die intrazelluläre Natriumkonzentration steigt übermäßig an, weil dem Ionentransporter, der dies beheben könnte, wegen der Minderdurchblutung die nötige Energie fehlt. Dieser Ionentransporter im Mittelpunkt des Geschehens ist die Na+/K+-ATPase. Bei der Muskelarbeit eines gesunden Menschen steigt die Aktivität dieser ATPase um das 10- bis 20-fache. So erklärt der Energiemangel an dieser Stelle auf einfache Weise das Leistungsdefizit der Patienten.

Die zentrale Arbeitshypothese ist, dass als weitere Folge der Natrium-Calcium-Austauscher NCX Calcium-Ionen im Austausch für Natrium-Ionen in die Zellen pumpt und dass die nachfolgend entstehende hohe Calcium-Ionen-Konzentration die Mitochondrien schädigt. (Dies wird in einem Beitrag in der gedruckten DAZ ausführlicher beschrieben.) Die Schädigung von Mitochondrien wurde bei ME/CFS elektronenmikroskopisch nachgewiesen. Zudem erklärt dieser Mechanismus, warum die Schädigung als Folge einer Belastung und nicht auch in Ruhe stattfindet – und darauf kommt es bei der Erklärung an.

Sauerstoffradikale und gestörte Signalwege schließen den Kreislauf der Schädigung

Die Mitochondrien reagieren mit der vermehrten Bildung reaktiver Sauerstoffradikale, die wiederum die Na+/K+-ATPase hemmen und zu oxidativem Stress führen. Außerdem sind bei ME/CFS die beiden Signalwege gestört, die die ATPase im Muskel steuern, die β2-adrenergen Rezeptoren und der Signalweg über CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide). Damit wird der schädigende Kreislauf geschlossen und das Problem verselbstständigt sich. Bei jeder Anstrengung werden weitere Mitochondrien geschädigt. Jeder Belastungsversuch senkt die Leistungsfähigkeit, was die typische Belastungsintoleranz erklärt. Insgesamt kann ME/CFS damit als mitochondriale Myopathie verstanden werden.

Idee: Arzneimitteleinsatz an der Ionenpumpe

Daraufhin rückt die ATPase als Zielstruktur für eine möglicherweise einfache Therapie der komplexen Erkrankung ME/CFS in den Mittelpunkt. Der Arzneistoffkandidat MDC002 stimuliert die ATPase und den mitochondrialen Natrium-Calcium-Austauscher NCLX im Skelettmuskel. Genauere Angaben zur Wirkungsweise macht Mitodicure derzeit nicht. Außerdem sollen die Durchblutung von Muskulatur und Gehirn verbessert sowie Ödeme und Schmerzen vermindert werden. Der oral anwendbare Arzneistoff soll den Teufelskreis durchbrechen, sodass sich die Muskelzellen erholen können. Die Wirkung wurde nach Unternehmensangaben in vitro über den postulierten Mechanismus an der Skelettmuskulatur gezeigt. 

Prof. Dr. Klaus Wirth, einer der beiden Chefs von Mitodicure, beschäftigt sich schon seit sechs Jahren mit ME/CFS. Er stellte die beschriebene Erklärung für ME/CFS und den Arzneistoffkandidaten bei der Fachtagung des Fatigatio e. V. am 14. September in Fulda vor. Zu dem Pathomechanismus erklärte Wirth, dass alles untersucht wurde, was an präklinischen Modellen gezeigt werden kann. Nun müsse die klinische Erprobung folgen, um die Entwicklung weiterzubringen und damit auch den Pathomechanismus zu beweisen. Doch dafür fehle derzeit das nötige Geld. Die Entwicklung steht noch vor der klinischen Phase I. Jetzt sind die üblichen toxikologischen Tests für neue Arzneistoffe vor dem Beginn der klinischen Prüfungen nötig.

Genug Geld für einen potenziellen Durchbruch?

Offenbar gibt es weltweit bisher nur eine so weit entwickelte Substanz, die von Anfang an gezielt gegen ME/CFS entwickelt wurde und sich auf einen gut belegten, bisher nicht genutzten Wirkungsmechanismus stützt. Andere Ansätze mit Arzneistoffen oder Verfahren, die ursprünglich für andere Zwecke entwickelt wurden, beziehen sich dagegen jeweils nur auf einzelne Aspekte des Krankheitsgeschehens, die nach den bisherigen Kenntnissen wohl keine solche Schlüsselstellung haben. Selbstverständlich ist das alles keine Erfolgsgarantie, aber eine gut begründete Chance. 

Mitodicure beziffert die für den nächsten Schritt erforderlichen Mittel auf einen niedrigen zweistelligen Millionen-Euro-Betrag. Für Arzneistoffkandidaten in onkologischen Nischenindikationen werden solche Beträge regelmäßig ausgegeben. Doch bis jetzt setzt sich offenbar das sonderbare jahrzehntelange Desinteresse an ME/CFS trotz der Aufmerksamkeit durch Post-COVID fort. Bisher gibt es keine kausale Therapie, und es sind auch keine vergleichbar weit entwickelten Therapieansätze bekannt. Daher besteht hier die Aussicht auf eine bedeutende Sprunginnovation.


Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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