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Neue Wege in der Therapie des Typ-1-Diabetes
Von automatischen Insulin-Dosiersystemen und DIY-Apps
Jahrzehntelang wurde die künstliche Bauchspeicheldrüse, nach dem Vorbild der glucosestimulierten Insulin-Sekretion der Betazellen, beschworen. Immer wieder hieß es, dass man kurz davorstehe, immer wieder gab es Rückschläge. Nun ist es soweit: Der ehemalige Traum vieler Typ-1-Diabetiker ist mit den automatischen Insulin-Dosiersystemen endgültig in der Realität angekommen.
Ein insulinabhängiger Diabetes wird bestmöglich therapiert, indem man die physiologische glucosestimulierte Insulin-Sekretion nachahmt. Dies ließ sich in der klassischen intensivierten Insulin-Therapie durch die Kombination von Basalinsulin und schnellwirksamem Insulin nur unzulänglich umsetzen. Durch den Einsatz von automatischen Insulin-Dosiersystemen (AID) erzielen viele Patientinnen und Patienten jetzt normnahe Werte und vermeiden Entgleisungen, was zu einer erhöhten Lebensqualität führt. Was ist passiert?
Da die entsprechenden Einzelkomponenten bereits seit einigen Jahren verfügbar waren, der Fortschritt bei der Entwicklung zum Closed-Loop aber auf sich warten ließ, haben sich Betroffene und deren Umfeld unter #WeAreNotWaiting zusammengefunden. So hat das Gemeinschaftsprojekt die Komponenten
- kontinuierliche Blutglucose-Messung (rtCGM)
- Insulin-Pumpe
- Software/Algorithmus und Hardware wie z. B. mobile Endgeräte und
- schnellwirksames Insulin
zusammengefügt. Dazu haben sich die Betroffenen und weitere Interessierte in einer weltumspannenden virtuellen Community zusammengeschlossen und die Sache durch eigenes Programmieren in die Hand genommen. Die Do-it-yourself(DIY)-Apps machten den Anfang und decken weiterhin Kombinationen von Dauermessungen und Pumpen ab, für die es keine zugelassenen Systeme gibt (s. Abb.). Diese Apps werden in Eigenverantwortung von den Patienten eingesetzt.
Medizinproduktegesetz vs. Realität
Vorbei an Regulierungen und Vorschriften haben sich in den letzten Jahren diese Open-source-App-basierten Softwareprojekte fest in der Diabetes-Szene etabliert. Sie waren der Motor der Entwicklung von automatischen Insulin-Dosiersystemen. Und die Community hat sogar eigene Studien durchgeführt, um zu zeigen, dass die Algorithmen wirksam und sicher sind [1]. Zudem verbessern die automatischen Insulin-Dosiersysteme die Lebensqualität der Patienten wesentlich. Es konnte eine Senkung der HbA1c-Werte im Vergleich zur vorherigen sensorunterstützten Pumpentherapie aber auch gegenüber zugelassenen Apps gezeigt werden. Hypoglykämien traten gleich häufig oder seltener auf. Aus Patientensicht wird damit ein deutliches Stück Freiheit und Lebensqualität zurückgewonnen.
Installation und Vorteile der DIY-Apps
Diese Software ist als iOS-(loop) oder Android-App (OpenAPS, AndroidAPS) für das mobile Endgerät verfügbar und wird dann über Bluetooth mit Sensor und Pumpe verbunden. Die Apps sind nicht zugelassen und werden deshalb als DIY-Apps bezeichnet, weil man sie nur über den Umweg als App-Entwickler installieren kann. Hierbei ist zu beachten, dass die Apps auf bestimmte Mess- und Abgabe-Systeme abgestimmt sind.
Während die zugelassenen Apps mit einer vordefinierten Auswahl an Glucose-Zielwerten arbeiten, sind die Zielwerte bei den DIY-Apps frei wählbar. Für viele Patienten ist das ein Grund dafür, auf die Do-it-yourself-Apps zu setzen.
Klinischer Einsatz am Beispiel
Eine 21-jährige Studentin mit sensorunterstützter Insulinpumpen-Therapie hat seit längerer Zeit einen erhöhten HbA1c-Wert im Bereich von 8,5%. Besonders nachts liegen die Blutglucose-Werte außerhalb des Zielbereiches. Um euglykämische Werte zu erreichen, muss die Studentin täglich so viel Zeit in das Management ihres Diabetes investieren, dass ihre soziale Teilhabe darunter leidet. Besonders das ständige Gegensteuern gegen sich anbahnende Hypoglykämien und häufige nächtliche Alarme des Sensors schränken ihre Lebensqualität erheblich ein. Da sie mit bestimmten Produkten vertraut ist, für die es in Kombination keine Steuerung gibt, entscheidet sie sich für den mit iOS kompatiblen „DIY-loop“.
Bevor mit dem Bau der App begonnen werden kann, müssen der Insulinsensitivitäts-Faktor, das Basalratenprofil und die Kohlenhydrat-Insulin-Ratio getestet bzw. validiert werden. Selbst leicht abweichende Angaben bei diesen Werten können zu falschen Prognosen der Blutzuckerkurve und damit gefährlichen Unter- oder Überdosierungen führen. Da die App aus rechtlichen Gründen von jedem Anwender selbst gebaut werden muss, sind ein Apple-Developer-Account und Zugriff auf einen Apple-Computer Voraussetzung. Damit das Reservoir, der Transmitter zur kontinuierlichen Glucose-Messung (CGM-Transmitter) und das mobile Endgerät miteinander kommunizieren können, braucht es eine Antenne, den sogenannten Link. Solche Geräte können von mehreren Anbietern aus den USA importiert werden. Zwei Links, einer davon als Reserve, und die Mitgliedschaft im Apple-Developer-Programm für ein Jahr kosten die Studentin etwa 450 Euro.
In den ersten Wochen mit dem neuen System nahm sie absichtlich leicht erhöhte Blutglucose-Werte in Kauf, um sich mit der Funktionsweise sicher vertraut machen zu können. Schließlich legte sie einen Zielwert von 95 mg/dl und einen Wert für die vorsorgliche Abschaltung der Insulin-Gabe bei drohender Unterzuckerung (Hypo-Abschaltung) bei 74 mg/dl fest. Dadurch kann sie zwar nicht alle Hypoglykämien verhindern, aber diese sind seltener und durchschnittlich kürzer, subjektiv weniger unangenehm und erfordern weniger schnellwirkende Glucose zur Behandlung. Hypoglykämien und Alarme in der Nacht treten so gut wie nicht mehr auf, sodass sich die Schlafqualität merklich verbessert hat. Um in sozialen Situationen weniger Zeit für Diabetesmanagement aufzuwenden, nutzt sie sogenannte Overrides. Damit können bestimmte Einstellungen zeitweise außer Kraft gesetzt werden. Sie kann etwa beim Konsum von Alkohol den Zielwert für die nächsten acht Stunden auf 130 mg/dl hochsetzen und damit gefährliche Hypoglykämien verhindern, ohne Entgleisungen nach oben in Kauf nehmen zu müssen. Beim Lernen für die Uni überprüft sie den Glucose-Wert weniger engmaschig und kann dadurch effektiver arbeiten.
Eine weitere nützliche Funktion ist die Prognose des Insulins-on-board (IOB, Insulin, das von vorherigen Gaben noch im System/Körper ist und noch entsprechend wirkt) für die nächsten sechs Stunden. Da sie aus Erfahrung weiß, wie sehr körperliche Aktivitäten von Ausdauertraining bis hin zu entspannten Spaziergängen bei bestimmten IOB-Werten den Glucose-Wert beeinflussen, erleichtert ihr das die Planung ihres Tages und ermöglicht eine Reduzierung unfreiwilliger Nahrungsaufnahme. Die Time-in-Range (TIR) liegt jetzt bei durchschnittlich über 70%, die Zeit im Bereich von schweren Hypoglykämien(< 55 mg/dl) liegt bei unter 1%. Nach den ersten drei Monaten der Systemanwendung sinkt ihr HbA1c-Wert auf 6,9%.
Klinische Relevanz
DIY-Apps ermöglichen weitergehende Einstellungsmöglichkeiten als zugelassene Steuerungen. Die Patienten gewinnen mit dem Einsatz eines automatischen Insulin-Dosiersystems ein deutliches Stück Freiheit zurück.
Wirksamkeit und Sicherheit
Es sind Beispiele wie diese, die unter Typ-1 Diabetikern und in entsprechenden Foren geteilt werden. Der Einsatz der Do-it-yourself-Apps ist bereits weit verbreitet. In einer Studie von Herzog et al. nutzten bereits 86 von 731 Pumpennutzern in Deutschland Do-it-yourself-Apps [2]. Eine Metaanalyse zu frühen, experimentellen Studien (2014 bis 2020) identifizierte zwölf randomisierte und kontrollierte Studien und fand eine Verbesserung aller glykämischen Parameter durch AID-Systeme im Vergleich zur Sensor-unterstützten Insulinpumpen-Therapie [3]. Inzwischen liegen auch zu den Systemen mit DIY-Apps Studienergebnisse vor. In einer prospektiven Studie mit 558 Patienten verlängerte sich die Time-in-Range durch den Einsatz der Loop-App um 6,6% [4]. Die Zahl an Hypoglykämien gingen trotz der strengeren Einstellung zurück.
Im direkten Vergleich zwischen einer zugelassenen und einer Do-it-yourself-App senkte die DIY-App den HbA1c-Wert wesentlich effektiver (p < 0,05) [5]. Allerdings war diese Head-to-head-Studie mit 68 Teilnehmenden relativ klein. DIY-Apps können die Lebensqualität entscheidend beeinflussen, da man sich weniger mit der Einstellung auseinandersetzen muss [6]. Insgesamt gelten die AID-Systeme als wirksam, sicher und kosteneffektiv [7, 8].
Die Perspektive der Behandler
Für die spezialisierten Diabetologen sind sowohl Do-it-yourself- als auch zugelassene automatische Insulin-Dosiersystemen inzwischen Standard und sollen laut Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) partizipativ angeboten werden.
Empfehlung für Systeme mit Zulassung
Zugelassene AID-Systeme sollen bevorzugt werden [9], z. B. Diabeloop DBLG1, Minimed780G, CamAPS FX, Minimed 670G und 770G, t:slim X2 Control-IQ. Fast alle Patienten mit Diabetes Typ 1 werden in den nächsten Jahren auf diese Systeme umgestellt werden oder DIY-Steuerungen verwenden. Steckbriefe zu diesen fünf Systemen finden sich auf der Website der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Technologie (AGDT). Wenn Sie auf DAZ.online den Webcode Y5PY6 in die Suchfunktion eingeben, gelangen Sie direkt zur Übersicht der AGDT.
Do-it-yourself-Lösungen verbleiben in der Eigenverantwortung des Patienten, der Diabetologe soll aber unbedingt informiert werden. Konsensus-Konferenzen und Statements versuchen dem Arzt ethische Sicherheit im Spannungsfeld zwischen Patientenwünschen und nicht zugelassenen Produkten zu geben [10 - 12]. Für die klinische Praxis bedeutet die Umstellung auf automatische Insulin-Dosiersysteme nicht weniger als einen Paradigmenwechsel. Behandlern bietet sich die Möglichkeit, sich neu aufzustellen und etwaige freigewordene Ressourcen der Therapie anderer Krankheitsaspekte wie die Prävention von Folgekrankheiten, Komorbiditäten und Psychosozialem zu widmen, denn Komplikationen sind unter AID selten und Einstellungen erfolgen weitgehend automatisch. Für die klinische Praxis bedeutet dies eine deutliche Änderung der Patientenversorgung. Da die Systeme an den Apotheken vorbei vertrieben werden und auch therapeutische Probleme deutlich seltener auftreten, muss der Apotheker weniger erklären und schulen. In Beratungen und im Medikationsmanagement sollte er aber über die Tatsache, dass Algorithmen heutzutage fester Bestandteil der Therapie sind, Bescheid wissen und sich ebenfalls stärker auf die zahlreichen anderen Themen fokussieren. Denn für die Prävention kardiovaskulärer Ereignisse durch eine Leitlinien-nahe Lipid- und Blutdrucktherapie gibt es keinen Automatismus. Hier ist im Gegenteil noch sehr viel zu tun.
Fazit
Schleichend hat sich ausgerechnet in der sensiblen Indikation des Diabetes mellitus Typ 1 zunächst ein Guerillasystem zur Einstellung der Glucose-Werte entwickelt und etabliert, bevor nun etablierte Hersteller nachgezogen sind. Wir sind damit in eine neue, bessere Phase der Typ-1-Diabetes-Therapie eingetreten. Eine engere glykämische Einstellung ist möglich. Der Patient wird ein Stück weit von der erforderlichen hohen Selbstdisziplin und Therapiegestaltung entlastet. Die Lebensqualität wird hierdurch massiv verbessert. Das gesamte Behandlerteam kann sind nun stärker auf kardiovaskuläre Prävention konzentrieren. |
Literatur
[1] Ware J, Boughton CK, Allen JM et al. Cambridge hybrid closed-loop algorithm in children and adolescents with type 1 diabetes: a multicentre 6-month randomised controlled trial. The Lancet Digital Health 2022;4(4):e245-e255
[2] Herzog AL, Busch J, Wanner C et al. Survey about do-it-yourself closed loop systems in the treatment of diabetes in Germany. PLoS One 2020;15(12):e0243465, doi:10.1371/journal.pone.0243465
[3] Fang Z, Liu M, Tao J et al. Efficacy and safety of closed-loop insulin delivery versus sensor-augmented pump in the treatment of adults with type 1 diabetes: a systematic review and meta-analysis of randomized-controlled trials. J Endocrinol Invest 2022;45(3):471–481, doi:10.1007/s40618-021-01674-6
[4] Lum JW, Bailey RJ, Barnes-Lomen V et al. A Real-World Prospective Study of the Safety and Effectiveness of the Loop Open Source Automated Insulin Delivery System. Diabetes Technol Ther 2021;23(5):367–375, doi:10.1089/dia.2020.0535
[5] Jeyaventhan R, Gallen G, Choudhary P et al. A real-world study of user characteristics, safety and efficacy of open-source closed-loop systems and Medtronic 670G. Diabetes Obes Metab 2021;23(8):1989–1994, doi:10.1111/dom.14439
[6] Litchman ML, Lewis D, Kelly LA et al. Twitter Analysis of #OpenAPS DIY Artificial Pancreas Technology Use Suggests Improved A1C and Quality of Life. J Diabetes Sci Technol 2019;13(2):164–170, doi:10.1177/1932296818795705
[7] Jiao Y, Lin R, Hua X et al. A systematic review: Cost-effectiveness of continuous glucose monitoring compared to self-monitoring of blood glucose in type 1 diabetes. Endocrinol Diabetes Metab 2022;5(6):e369. doi:10.1002/edm2.369
[8] Jiao X, Shen Y, Chen Y. Better TIR. HbA1c, and less hypoglycemia in closed-loop insulin system in patients with type 1 diabetes: a meta-analysis. BMJ Open Diabetes Res Care 2022;10(2)
[9] Therapie des Typ-1-Diabetes: S3-Leitlinie 2024, Deutsche Diabetes Gesellschaft, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/057-013
[10] Ahmed SH, Ewins DL, Bridges J et al. Do-It-Yourself (DIY) Artificial Pancreas Systems for Type 1 Diabetes: Perspectives of Two Adult Users, Parent of a User and Healthcare Professionals. Adv Ther 2020;37(9):3929–3941, doi:10.1007/s12325-020-01431-w
[11] Braune K, Lal RA, Petruželková L et al. Open-source automated insulin delivery: international consensus statement and practical guidance for health-care professionals. The Lancet Diabetes & Endocrinology 2022;10(1):58–74
[12] Jennings P, Hussain S. Do-It-Yourself Artificial Pancreas Systems: A Review of the Emerging Evidence and Insights for Healthcare Professionals. J Diabetes Sci Technol 2020;14(5):868–877, doi:10.1177/1932296819894296
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