Pro & Contra Direktabrechnung

Wenn Digitalisierung auf bürokratische Trägheit trifft

03.01.2025, 07:00 Uhr

Apotheken sehen sich als digitale Vorreiter. Was ist bei der Abrechnung möglich und wünschenswert? (Foto: InsideCreativeHouse/AdobeStock)

Apotheken sehen sich als digitale Vorreiter. Was ist bei der Abrechnung möglich und wünschenswert? (Foto: InsideCreativeHouse/AdobeStock)


Mit der Einführung des E-Rezepts muss vieles neu justiert werden – auch die Rolle der Rechenzentren. Nicht mehr zeitgemäß, tönen die Verfechter einer Direktabrechnung zwischen Apotheken und Krankenkassen. Wichtige Clearing-Instanz, die den Apotheken einen Berg von mühsamer Detailarbeit für kleines Geld abnimmt, halten die ARZ dagegen. Die Tücke steckt im Detail. Dieser Artikel liefert eine differenzierte Analyse.

Die Digitalisierung durchdringt mittlerweile alle Vorgänge unseres privaten und beruflichen Lebens. Besonders der Finanzbereich und damit auch das Rechnungswesen inklusive Abrechnungsprozesse unterliegen rasanten Veränderungen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Apothekenbetrieb neue Spieler eine traditionelle Domäne bedrängen, nämlich die der Rechenzentren. Seit über einem halben Jahrhundert versuchen diese – laut Eigenwahrnehmung – den Apotheken den Rücken freizuhalten, indem sie die eingelösten Rezepte mit den 95 gesetzlichen Krankenkassen und weiteren Kostenträgern abrechnen.

Obsoleter Obolus

Ist das noch zeitgemäß? Nein, meinen mit dem Duktus fester Überzeugung die Vertreter der Direktabrechnung. Spätestens, seit das E-Rezept das Muster-16 in Papierform weitestgehend abgelöst habe, sei der eigentliche Existenzgrund der Rechenzentren – das Einscannen, Verwalten und Abrechnen von Papierrezepten – gänzlich hinfällig geworden. Direkt und digital verliefe nun der Weg zu den Krankenkassen, und der an die Rechenzentren abgeführte Obolus – bei den meisten Apotheken immerhin um die 5.000 Euro jährlich – sei somit obsolet.

Sichere Bank – wenngleich ohne Lizenz

Dem halten die Betreiber der Rechenzentren ihre Expertise im Bewältigen eines bisweilen undurchdringlichen Abrechnungsdickichts entgegen. Mit dem vergleichsweise simplen Abrechnen von E-Rezepten sei es nicht getan, wirft Marc Beushausen von NARZ AVN ein: „Das Eintreiben von Herstellerrabatten, Retaxationsprüfungen, sowie das Nachklären (Clearing) von Differenzen zwischen Rechnungsbeträgen und Zahlungseingängen sind ebenso wie das korrekte Erfassen und Verarbeiten der weiterhin bestehenden Papierrezepte von BTM über T-Rezepte bis zu 105er-Verordnungen Dienstleistungen, die nur wenige Apotheken in Eigenregie erfüllen können.“

Zwar umfasse der Anteil von Papierrezepten nur noch zwischen 20 und 30 Prozent, diese stünden aber für gut 50 Prozent der Umsätze. Die Erfassung von Papierrezepten sei z. B. bei Zytostatika immer noch ein personalintensiver, zum Teil händischer Prozess und auch die korrekte physische Übermittlung in vorgeschriebener Kennzeichnung und Sortierung sei nicht ohne weiteres in Eigenregie zu leisten.

Überdies garantierten die Rechenzentren den Apotheken den Erhalt ihres Geldes, da nur sie berechtigt seien, bis zu 80 Prozent der Vormonatsrechnungen als Kassenabschlag zu erhalten und weiterzugeben – sind Rechenzentren ergo eine, wenn auch nicht als solche lizenzierte, so doch „sichere Bank“?

Die Hoheit über die Abrechnung zurückgewinnen

Letzteres Argument bekam 2020 mit der Insolvenz des Rechenzentrums AvP, bei der zweieinhalbtausend Apotheken insgesamt mehr als 300 Millionen Euro verloren haben, Risse. Seitdem fordert Frank Böhme, CEO der Dresdner Softwareschmiede Scanacs, „dass mit der Direktabrechnung die Apotheke die Hoheit über ihre Abrechnungsprozesse zurückerhält.“ Die bisher übliche langwierige Rezeptprüfung hält er für nicht mehr zeitgemäß: „Die qualifizierte Leistung in der Apotheke muss zeitnah und adäquat honoriert werden und Apothekern eine autonome Liquiditätssteuerung erlauben.“

Michael Dörr, seines Zeichens Vorsitzender der ARZsoftware eG und als ehemaliges Vorstandsmitglied des VDARZ flammender Vertreter der Interessen kleiner Rechenzentren in privater Hand, sieht das differenziert: „Rechenzentren können ihre Services anbieten und dabei ebenfalls die direkte Zahlung der Krankenkasse auf das Konto der Apotheke veranlassen. Es zeigt sich aber, dass die Krankenkassen damit schnell überfordert sind.“ Sein Resümee: „In einer Zeit, in der Tätigkeiten, die nicht zu den Kernaufgaben eines Geschäftsbetriebes zählen, oftmals an professionelle Dienstleister ausgelagert werden, erscheint der Gedanke des ‚selber Abrechnens‘ daher wundersam.“ Warum also etwas an einer Dienstleistung ändern, die „aus Sicht der Apotheke so unauffällig und selbstverständlich ist wie der Strom aus der Steckdose?“

KIM als verbindlicher Standard!

Die Antwort darauf weiß Benedikt Bühler vom LAV Baden-Württemberg. Mit seinen gerade mal 25 Jahren steht er stellvertretend für eine neue Generation des Berufsstandes: „Viel Zeit und damit Geld wird in dem ganzen Rezeptabrechnungsprozess verbrannt, daher kommt ja auch mein Engagement für die Direktabrechnung. Unnütze Kosten verursacht außerdem die zum Teil noch antiquierte Kommunikation mit den Krankenkassen: Da werden immer noch Kostenvoranschläge per Fax hin- und hergeschickt. Es ist höchste Zeit, dass die sichere Kommunikation über KIM auch für die Kassen verbindlicher Standard wird!“

Alles oder nichts…?

Doch Marc Beuheusen pocht auf geltendes Recht: „Nach derzeitigen Regeln muss die Apotheke wählen, entweder die gesamte Abrechnung direkt zu übernehmen – inklusive der komplizierten Fälle –, oder alles über ein Rechenzentrum laufen zu lassen.“

Das sieht Michael Dörr anders: „Natürlich ist auch eine Mischform zwischen Rechenzentrum und Direktabrechnung möglich, es ist nur zu bedenken, dass die Kosten des Rechenzentrums dann natürlich deutlich höher ausfallen.“ Dass die bisherigen Preise der Rechenzentren Mischkalkulationen sind (bzw. waren), darin sind sich die Befürworter der Rechenzentren einig.

Wie sieht nun die aktuelle Rechtslage tatsächlich aus? Erstaunlicherweise beziehen sich sowohl Frank Böhme als auch Benedikt Bühler auf die Verträge nach § 300 SGB V – und zwar in exakt gegenteiliger Auslegung. Bühler: „Laut § 300 Absatz 2 Satz 1 SGB V können Apotheken ihre Abrechnung an die Rechenzentren auslagern, sie müssen es aber nicht. Auch der Rahmenvertrag sieht vor, dass Sammelrechnungen aus den ARZ genauso zulässig sind wie Einzelrechnungen aus Apotheken.“

Böhme drängt auf eine Modernisierung bestehender Geschäftsmodelle, wenn er fragt: „Versucht man, mit dem Festhalten an der Papierrechnung, die im Paragraf 300 SGB V festgeschriebene Direktabrechnung zwischen Apotheken und Krankenkassen zu blockieren?“

Lukratives Geschäft mit den Rezeptdaten der Apotheken

Hinter diesem ganzen Ringen zweier höchst unterschiedlicher Abrechnungsphilosophien um die Gunst der Apotheken stehen nicht zuletzt handfeste wirtschaftliche Interessen der jeweiligen Vertreter: Sind doch die Daten selbst – sogar in ihrer anonymisierten Form – sehr viel wert. Derjenige, der die Datenströme zukünftig durch sein Abrechnungssystem lenkt, kann sich durch deren Verkauf einen erheblichen Zusatzverdienst sichern. Für die Apotheken ist die Situation durchaus zweischneidig. Schließlich gilt es auch zu bedenken, dass die Kassen bei einer Direktabrechnung auf sehr viel mehr Daten als bisher Zugriff hätten, da sie statt einer Sammelrechnung einzelne Verordnungen einsehen könnten.

Michael Dörr ist sich dieses Defizits der digitalen Welt sehr bewusst, wenn er feststellt, dass der „persönliche Kümmerer“ im Apothekenrechenzentrum zu den von den Apotheken am meisten geschätzten Leistungen zähle.

Übrig bleibt das Clearing

Es klingt gehörig nach Rückzugsgefecht, wenn die Vertreter der Apothekenrechenzentren zudem erklären, dass mit der Etablierung der E-Rezepte die Übersetzung von analogen in digitale Daten entfalle und das Banking – vorsichtig gesprochen – zurückhaltend bewertet werde. Übrig bliebe das Clearing, und diese Dienstleistung sei auch im E-Rezept-Zeitalter notwendig, weil die Abrechnung mit den Krankenkassen ein komplexes Verfahren darstelle – komplexer als es manche wahrhaben wollen.

Es scheint also durchaus Verständnis für die Vorzüge und Interessen des anderen Lagers zu geben und vielleicht steht sogar der Gedanke im Raum, man würde mit dem Besten beider Welten am elegantesten fahren. Oder, wie Benedikt Bühler es ausdrückt: „Es gibt einigen Widerstand gegen die Direktabrechnung, aber unter Reibung entsteht bekanntlich Wärme…“

Wobei Michael Dörr hier etwas skeptisch kontert: „Die Erfahrung zeigt, dass diese Wärme erst ein Großfeuer entzünden muss, das alles in Schutt und Asche legt, bevor die ‚alten weißen Männer‘ auch nur ein Stück an Innovation betreiben wollen.“

Ist die Direktabrechnung unterm Strich günstiger?

Es bleibt die Erkenntnis, dass bei der Prozessdigitalisierung zwei Dinge von entscheidender Bedeutung sind:

1.     die Bereitschaft, etablierte Prozesse infrage zu stellen sowie

2.     die Wahl geeigneter Software-Partner.

Apotheken, die die Umstellung auf Direktabrechnung planen, sollten beide Aspekte gut durchdenken. Wenn die Software-Lizenzkosten die Einsparungen bei Rechenzentren auffressen, ist am Ende nichts gewonnen – schon gar nicht, wenn zusätzlicher Zeitaufwand entsteht.

Auch Michael Dörr teilt diese Skepsis: „Die Software-Plattform für die Direktabrechnung braucht Entwicklung und Pflege und erzeugt darüber hinaus Hosting-Kosten. Aus der Erfahrung der Apotheken Rechenzentren verändert sich nahezu monatlich etwas am Abrechnungsprozess und den vertraglichen Vorschriften. Das muss alles eingepreist werden. Diese Kosten werden sicherlich auch an die 300 Euro pro Apotheke monatlich heranreichen.“ Und damit sei man gar nicht mehr so weit von den aktuellen Kosten entfernt.

Apotheken sind keine Bittsteller

Schlussendlich gilt es noch zu beachten, dass sämtliche Dienstleister – egal ob Rechenzentren, Krankenkassen oder Softwareanbieter – einen bedeutenden Teil ihres Gewinns durch den Verkauf der Daten generieren und nicht allein über Dienstleistungen oder Lizenzen.

Die Apotheker sind insofern keine Bittsteller, die hilflos durch das Minenfeld von Bürokratie und Digitaltechnik geführt werden müssten, sondern umworbenes Objekt der Begierde. Daher ist das Mindeste, was sie für sich einfordern können, Aufwand sowie Kosten klein und die Diskretion des Datenflusses groß zu halten.

André Welke ist AWA-Autor, Kommunikationswirt und Creative Consultant aus Köln.

Dieser Beitrag ist zuerst im AWA - Apotheke & Wirtschaft 24/2024 erschienen. 


André Welke


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