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Arzneimittel und Therapie
Harninkontinenz: Tolterodin - ein neues Anticholinergikum für die Blase
Jeder dritte Mensch über 80 Jahre, so schätzt man, ist inkontinent, Frauen häufiger als Männer. Nur wenige von ihnen werden angemessen behandelt. Die Betroffenen verlieren ihre "soziale Kompetenz", vereinsamen und denken oft an Selbstmord. Dieser beklagenswerte Zustand hat viele Ursachen: Die meisten inkontinenten Menschen schämen sich, über ihr Problem mit dem Arzt oder Apotheker zu sprechen, denn das Thema Inkontinenz ist in Deutschland tabuisiert. Wenn sie sich an ihren Hausarzt wenden, ist dieser oft überfordert. Das Thema Harninkontinenz wird nämlich im Medizinstudium nur beiläufig behandelt. Die Situation in der Apotheke ist ebenfalls problematisch: Die Betroffenen beklagen die fehlende Diskretion, die ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen unmöglich macht. Der Apotheker ist zudem auf die Diagnose des Arztes angewiesen, denn die Beratung richtet sich nach der jeweiligen Inkontinenzform. Um die Lage inkontinenter Menschen zu verbessern, ist der Apotheker gefordert. Bei Verdacht auf Inkontinenz könnte er zum Beispiel den Patienten diskret und mit Fingerspitzengefühl Hilfsmöglichkeiten aufzeigen: zum Beispiel die Adresse eines Facharztes, der die urodynamischen Diagnoseverfahren ausführt, oder die Telefonnummer einer Inkontinenz-Selbsthilfegruppe (zu erfragen über die Gesellschaft für Inkontinenzhilfe e.V., Friedrich-Ebert-Str. 124, 34119 Kassel, Tel. 0561-780604).
Blasenmuskel entfaltet zuviel Kraft
Bei der motorischen Urge- oder Dranginkontinenz ist die Aktivität des Blasenmuskels deutlich erhöht. Der Blasenmuskel verdickt sich und entfaltet so viel Kraft, daß der Blasenschließmuskel diesem Druck nicht lange standhalten kann. Es kommt bereits bei geringer Blasenfüllung zu Harndrang, häufigem Wasserlassen und unkontrollierten Abgängen von Urin.
Die motorische Dranginkontinenz ähnelt der Reflexinkontinenz. Der Unterschied liegt definitionsgemäß darin, daß Patienten mit einer Reflexinkontinenz keinen Harndrang verspüren und der Schließmuskel häufig spastisch aktiv wird, wenn der Blasenmuskel Harn aus der Blase herauszupressen versucht. Dadurch wird die Blase irritiert, und der Blasendruck erhöht sich zusätzlich. Im wesentlichen gibt es drei Ursachen für die motorische Dranginkontinenz und die Reflexinkontinenz:
• Störungen beim Harnabfluß durch morphologische Veränderungen (zum Beispiel Prostataadenom, Harnröhrenenge und Vorhautverengung)
• Schädigungen am zentralen Nervensystem infolge von Verletzungen, Durchblutungsstörungen, malinomen oder degenerativen Prozessen, neurologischen Erkrankungen, Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus und angeborenen Mißbildungen der Wirbelsäule
• Operationsfehler
Therapie - operativ oder konservativ Findet man morphologische Veränderungen als Ursache der Inkontinenz, verspricht ein chirurgischer Eingriff die besten Erfolgschancen. Um den Patienten zu entlasten, werden die Symptome eine Zeit vor und nach der Operation mit Arzneimitteln gelindert. Ist die Ursache dagegen eine Schädigung am zentralen Nervensystem, ist es in der Regel nicht möglich, die Inkontinenz vollständig zu heilen. Hier eignen sich Arzneimittel zur symptomatischen Therapie, die durch begleitende Maßnahmen, zum Beispiel ein Blasentraining, unterstützt wird.
Komplizierte Innervation
Bei der motorischen Dranginkontinenz und der Reflexinkontinenz eignen sich Anticholinergika zur Dämpfung des Blasenmuskels. Zusätzlich werden Alpha-1-Rezeptorenblocker eingesetzt, wenn der Tonus am Blasenausgangsbereich spastisch erhöht ist. Die Mittel wirken, weil die Funktionen der Blase und des Blasenausgangs im wesentlichen durch parasympathische und sympathische Nervenfasern gesteuert werden:
• Der Parasympathikus wirkt erregend auf den Blasenmuskel und entspannend auf den Blasenausgangsbereich.
• Der Sympathikus entspannt den Blasenmuskel (Beta-2-Rezeptoren) und wirkt erregend auf den Blasenausgang (Alpha-1-Rezeptoren).
Anticholinergika - wirksam, aber unbeliebt
Oral verabreichte Anticholinergika dämpfen effektiv den überaktiven Blasenmuskel. Bisher wurden vor allem die tertiären Amine Oxybutynin und Propiverin sowie das quartäre Amin Trospiumchlorid verwendet. Mit ihnen lassen sich die Häufigkeit der Miktionen senken, die Inkontinenzepisoden reduzieren und die Füllmenge der Blase steigern. Anticholinergika verursachen jedoch eine Reihe von Problemen:
• Wenn der Blasenmuskel gedämpft wird, entleert sich die Blase nicht vollständig. Dadurch erhöht sich die Menge an Restharn.
• Ein gewisses Maß an Inkontinenz bleibt bestehen, das mit guten Hilfsmitteln versorgt werden muß.
• Anticholinergika verursachen zahlreiche Nebenwirkungen durch die Blockade cholinerger Rezeptoren: Pupillenerweiterung (Mydriasis) und Akkomodationsstörungen am Auge, gastrointestinale Beschwerden, Herzrasen (Tachykardie) und vor allem Mundtrokkenheit. Die Nebenwirkungen können als so störend empfunden werden, daß je nach Arzneimittel und Dosierung bis zu 20% der Patienten die Therapie abbrechen.
Tolterodin - aktiver Metabolit "DD01" Das seit März dieses Jahres verfügbare Tolterodin ist ein tertiäres Amin, das etwa 40mal weniger lipophil ist als das tertiäre Amin Oxybutynin. Die Substanz wird rasch aus dem Magen-Darm-Trakt resorbiert und besitzt eine Halbwertszeit von zwei bis drei Stunden. Tolterodin wird im wesentlichen durch ein Isoenzym des Cytochrom 450 metabolisiert. Dabei entstehen drei Hauptmetabolite, von denen das 5-Hydroxymethyl-Derivat "DD01" ein ähnliches pharmakologisches Profil besitzt wie Tolterodin und dessen Wirkung verstärkt. Infolge dieses additiven Effekts können Erwachsene Tolterodin im Gegensatz zu Oxybutynin nur zweimal täglich und in einer niedrigeren Dosierung (2 mg) einnehmen. Studien zur Wirksamkeit von Tolterodin bei Kindern liegen nicht vor.
Phase-III-Studien An insgesamt 1860 Patienten aus 16 Ländern wurde Tolterodin (zweimal täglich zwei Milligramm) mit Oxybutynin (dreimal täglich fünf Milligramm) verglichen. In die Studien wurden Patienten aufgenommen, die an einer urodynamisch gesicherten Detrusorhyperaktivität mit Inkontinenzepisoden litten und häufiger als achtmal täglich Wasser lassen mußten. Tolterodin und Oxybutynin waren gleichwertig hinsichtlich der Wirkung auf die Blase. Die Detrusorkontraktilität sank bei beiden Substanzen um etwa 30%, die Miktionsfrequenz verringerte sich um etwa 20%, die Inkontinenzepisoden nahmen um etwa 45% ab. Anticholinergika verursachen typische anticholinerge Nebenwirkungen wie Verstopfung, Sehstörungen und vor allem Mundtrokkenheit, was häufig zu einem Therapieabbruch führt. In der Tolterodingruppe klagten 40% der Patienten über Mundtrockenheit, in der Oxybutyningruppe waren es doppelt so viele, die Mundtrockenheit wurde hier auch als schwerer belastend eingestuft. Langzeitstudien über sechs und zwölf Monate zeigten, daß bei der Behandlung mit Tolterodin die Wirkung über diesen Zeitraum konstant bleibt und somit keine Dosissteigerung notwendig ist.
Quelle Dr. Josef Hoffmann, Erlangen, Priv.-Doz. Dr. Manfred Stöhrer, Murnau, Prof. Eckhard Petri, Schwerin, Nicola Benken, Wuppertal, Dr. Liz Nilvebrandt, Uppsala/Schweden, Prof. Dr. Helmut Madersbacher, Innsbruck, "Detrusitol - blasenspezifische Therapie bei Harninkontinenz", Ascoli/Italien, 12. März 1998, veranstaltet von Pharmacia & Upjohn, Erlangen. Michael Stein, München
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