- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 19/1998
- DPhG Stuttgart: Eßstö...
Was wann wo
DPhG Stuttgart: Eßstörungen: Mager- und Fettsucht
Unter dem Begriff Eßstörungen wird eine Vielzahl der unterschiedlichsten subklinischen und klinischen Krankheitsbilder zusammengefaßt. Hebebrand legte den Schwerpunkt seines Vortrags auf die beiden Krankheitsbilder Anorexia nervosa und Adipositas, bei denen das Körpergewicht extrem in Mitleidenschaft gezogen ist.
Anorexia nervosa
Von der Anorexia nervosa sind mehr Frauen als Männer (10-15:1), vor allem in den Industrieländern, betroffen. Der Krankheitsbeginn liegt meist zwischen dem 10. und 30. Lebensjahr. Eine genetische Disposition ist sehr wahrscheinlich. Bezüglich der Pathogenese der Erkrankung bestehen noch Unklarheiten. Diskutiert werden individuelle prädisponierende Persönlichkeitsfaktoren, intrapsychische und interpersonelle Konflikte, sexueller Mißbrauch (wobei keine Häufung im Vergleich zu nicht Erkrankten nachweisbar ist), Störungen mit dem Gefühl eine Frau zu sein und genetische Faktoren. Ferner fallen in der Anamnese der Betroffenen auf:
• Diäten und Fastenkuren in der Adoleszenz (man beachte, daß 61% der Schulabgängerinnen bereits eine Diät hinter sich haben),
• eine vorübergehende postinfektiöse oder postoperative Nahrungskarenz,
• exzessiver Bewegungsdrang (Sport),
• die Diskrepanz zwischen dem realen und dem erwünschten Gewicht.
Der Mißbrauch von Laxantien, Appetitzüglern und Diuretika sowie das induzierte Erbrechen sind regelmäßig nur beim bulimischen Typ zu finden. Zusätzliche Kennzeichen und Verhaltensmuster, mit denen man in diesem Zusammenhang nicht unbedingt rechnet, sind:
• negatives Körpergefühl,
• Alkohol, Tabak und Drogenkonsum,
• Eßattacken,
• Risikoreiches Sexualverhalten,
• Suizidversuche.
Zur exakten Diagnosestellung der Anorexia nervosa müssen folgende Kriterien (DSM-IV) erfüllt sein:
• Das Körpergewicht liegt im untersten Bereich (5- bis 10%-BMI-Percentile).
• Weigerung ein Körpergewicht zu halten, das dem Alter und der Größe entspricht.
• Weniger als 85% des zu erwartenden Gewichts wird auf Dauer gehalten.
• Ausbleiben der Gewichtszunahme in der Wachstumsphase.
• Furcht, dick zu werden, obwohl Untergewicht besteht.
• Störungen in der Art und Weise, wie das eigene Körpergewicht und die Figur erlebt wird.
• Leugnung des Ernstes des gegenwärtigen niedrigen Körpergewichts.
• Amenorrhö bei Frauen und Mädchen nach der Menarche (Ausbleiben von 3 aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen).
Entsprechend dem Krankheitsbild müssen bei der Therapie u.a. folgende Punkte berücksichtigt werden:
• Langjähriges Therapiekonzept, da von einem chronischen Verlauf auszugehen ist.
• Therapieplanung mit der Familie;
• Eine lebensbedrohliche Kachexie bedarf einer intensivmedizinischen Betreuung;
• Realimentation erfolgt mit einem gestuften Essensplan (evtl. mit Nasen-Magen-Sonde);
• Eine parenterale Ernährung erfolgt nur in Ausnahmefällen;
• Festlegung eines Zielgewichts;
• Individuell ist die Restitution der Fertilität anzustreben.
Nur 15% der Betroffenen gesunden innerhalb von zwei Jahren. Die Prognose der Erkrankung ist nicht vorhersagbar. Sie weist nach meist langjährigem Verlauf eine hohe Mortalität auf (10 bis 15%, Starvation, Suizid). Bei 10 bis 30% der Betroffenen findet man nach 10 Jahren eine chronische Anorexie. Es bestehen aber Übergangsformen zur atypischen Anorexie und Bulimia nervosa (ca. 5 bis 10%). Weitere hinzukommende Erkrankungen wie z. B. Depressionen erschweren die Therapie. Eine Adipositas nach einer Anorexie ist außerordentlich selten.
Adipositas
Eine Adipositas liegt vor, wenn der Körpermasse-Index (BMI) 30 kg/m” überschreitet. Unter Berücksichtigung des Alters liegt das Körpergewicht über der 95%-BMI-Percentile. Die Adipositas tritt familiär gehäuft auf. Häufig ist bei diesen Patienten ein bizarres, oft auch ritualisiertes, Eßverhalten zu beobachten:
• Kleinste Mengen werden extrem langsam gegessen;
• Die Nahrungszufuhr erfolgt nicht in Gegenwart von anderen Personen;
• Exzessive gedankliche Beschäftigung mit dem Essen;
• Heißhungerattacken (sind regelmäßig beim bulimischen Typ zu finden).
Adipöse Patienten haben ein höheres Risiko für Hypertonie, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, Diabetes mellitus und bestimmte Neoplasmen. Über die pathophysiologischen Ursachen, die zu der Entwicklung einer Adipositas führen, ist nur wenig bekannt.
Neue Ansatzpunkte zur Erforschung der Adipositas erschlossen sich nach der Entdeckung des ob-Gens bei Mäusen. Dessen Produkt Leptin, ein aus 167 Aminosäuren aufgebautes Peptid, wird in den Fettzellen gebildet und ins Blut abgegeben. Es reguliert wahrscheinlich die körpereigene Fettspeicherung, indem es im Hypothalamus rezeptorvermittelt die Freisetzung von Neuropeptid Y hemmt. Als Folge des verringerten Neuropeptid-Y-Spiegels sinkt die Nahrungsaufnahme, die Wärmeerzeugung geht zurück, die Insulin- und Cortisonspiegel steigen an.
In der tierexperimentellen Forschung wird die sogenannte ob-Maus (obese) verwendet. Ihre Kennzeichnen sind: Doppeltes Körpergewicht, Diabetes, Hyperphagie, Hypothermie und Infertilität der Weibchen. Die exogene Leptinapplikation (12,5 mg/KG und Tag) über 2 Wochen führt bei diesen Tieren zu einer niedrigeren Energieaufnahme, Reduktion der Fettmassen und des Körpergewichts sowie zu einem erhöhten Energieverbrauch. Außerdem hat Leptin einen günstigen Einfluß auf die Reproduktionsachse, denn unter der Therapie stiegen die FSH- und LH-Spiegel an, und der Uterus und die Ovarien fingen an zu wachsen. Es bestehen aber auch Anhaltspunkte dafür, daß Leptin wichtig für den Eintritt der Pubertät ist.
Leptin scheint auch beim Menschen eine entscheidende Rolle bei der Regulation der Energiezufuhr zu spielen. So tritt beim Menschen eine sehr seltene monogene Form der Adipositas auf, bei der überhaupt kein Leptin gebildet wird. Die betroffenen Personen kommen zwar normalgewichtig zu Welt, beginnen dann aber gewaltig an Gewicht zuzulegen. Hebebrand führte hier als Beispiel ein achtjähriges Kind mit einem Körpergewicht von 86 kg an. Kennzeichnend für diese Patienten sind des weiteren:
• Extremes Essen und ständiges Hungergefühl (es werden auch Kämpfe um das Essen geführt);
• Geringere Körperlänge;
• Keine spontane Entwicklung der Pubertät;
• Nur spärlicher Achsel- und Schamhaarwuchs.
Die geistige Entwicklung und die Körpertemperatur entsprechen der Norm. Ob Leptin und Leptinanaloga zur Entwicklung eines neuen Therapieprinzips für bestimmte Formen der Adipositas führen, muß abgewartet werden.
Fazit Hinter dem Begriff Eßstörungen verbirgt sich ein komplexe Materie. Die diesen Störungen zugrundeliegenden pathophysiologischen und psychologischen Mechanismen werden bislang nur unzureichend verstanden. In den letzten Jahren haben die Wissenschaftler erste tiefere Einblicke in die vielschichtigen Regulationsmechanismen bekommen (z.B. Leptin, Orexine). Dennoch ist man von einem umfassenden Verständnis der physiologischen und der pathologisch entgleisten Regulation des Energiestoffwechsels weit entfernt. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, daß die meisten Eßstörungen zu spät erkannt werden. Dr. Dietmar Roth, Rottenburg
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.