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Die guten alten Zeiten

WESTERLAND (ral). In Ost- und Westdeutschland ist seit der Wiedervereinigung das Phänomen zu beobachten, daß die Zeiten der DDR und der trennenden Mauer allmählich zur -guten alten Zeit glorifiziert werden. Die Hintergründe für dieses Phänomen erläuterte der Schriftsteller G. de Bruyn in seinem Festvortrag beim Pharmacon Westerland.


Mit der Erinnerung ist es so eine Sache: Fragt man alte Leute nach ihrer Jugend, so ist meist die Rede von den guten alten Zeiten. Die Sommer waren wärmer, die Winter noch richtige Winter, die Kinder hatten noch Respekt vor ihren Eltern und die Moral war generell viel besser. Daß es auch Mängel gab, die Kindheit von politischen Unruhen und Krieg überschattet wurde, der Alltag durch fehlende Technologien mühsamer war und es viele Dinge, die heute selbstverständlich sind, einfach nicht gab - daran erinnert man sich lieber nicht mehr.

Erinnerungen - schöner als die Wahrheit


Erinnerungen, so de Bruyn, haben weniger mit Geschichte zu tun als vielmehr mit Erholung von der Wirklichkeit. Aus der Erinnerung holt man sich, was einem in der Gegenwart fehlt. Dies ist im privaten Bereich nicht anders als in der Öffentlichkeit. So ist es auch nicht verwunderlich, daß acht Jahre nach der Wiedervereinigung das geteilte Deutschland immer mehr -an Charme gewinnt. Im Osten erinnert man sich daran, wie sicher und berechenbar alles war, daß es beispielsweise Arbeitslosigkeit nicht gab. Im Westen erinnert man sich an eine goldene Wirtschaftslage, als noch keine Milliarden gen Osten flossen.
Solche Erinnerungen sind nun einmal schöner als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, und auch wenn man um der Wahrheit willen Vergangenheit und Gegenwart in neutralem Licht und nicht in Rosa- und Schwarztönen betrachten sollte, so sind die verklärten Erinnerungen doch in vielen Punkten verständlich.

Enttäuschung und Unsicherheit


De Bruyn, der selbst aus der ehemaligen DDR kommt, erläuterte die Probleme, mit denen die Ostdeutschen nach der Öffnung der Mauer zu kämpfen hatten. Zunächst, so de Bruyn, waren die Erwartungen so groß, daß sie zwangsläufig enttäuscht werden mußten. Auf die Enttäuschung folgte die Orientierungslosigkeit. Aus einer bevormundeten Sicherheit in eine selbstverantwortliche Unsicherheit entlassen, verloren viele Leute den Halt. Früher Gelerntes war plötzlich falsch, früher geltende Wertvorstellungen plötzlich wertlos. Diese Unsicherheit führte zu Gedächtnisschwund und die Zeiten der Mauer gewannen zunehmend an Attraktivität.
Aber nicht nur die Ostdeutschen, auch die Westdeutschen haben mit der neuen Situation zu kämpfen, vor allem mit Vorurteilen gegenüber den Ostdeutschen. Die Entwicklung, die man selbst im Westen gemacht hat, betrachtet man als die -normale Entwicklung. Die Erfahrungen in der DDR dagegen kann man nicht nachvollziehen, sie gehören zu einer -falschen Entwicklung.

Den Wessi oder Ossi gibt es nicht


Die Mauer, erklärte de Bruyn, war ein Bauwerk des Ostens - die Fremdheit zwischen Ost und West ist jedoch ein Werk von beiden Seiten. Um diese Fremdheit zu überwinden, darf man keine Pauschalurteile fällen, nicht den -Wessi und den -Ossi im Hinterkopf haben, sondern muß Individuen und Einzelschicksale sehen. Andere Menschen haben andere Lebenserfahrungen, sind vielleicht tatsächlich -anders. Doch dieses -anders sein ist nicht zwangsläufig eine Bedrohung, sie sollte vielmehr als Bereicherung betrachtet werden. Dann, so de Bruyn, kann endlich zusammenkommen, was zusammen gehört.l

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