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Arzneimittel und Therapie
Wie läßt sich unfreiwilliger Urinverlust verhindern?
Über fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Inkontinenzhilfe (GIH) unter Harninkontinenz. Obwohl bei Harninkontinenz fünf Hauptformen unterschiedlicher Symptomatik und Ätiologie unterschieden werden, tritt sie aufgrund ihrer multifaktoriellen Genese oft in Mischform auf. So leiden etwa 50 Prozent der betroffenen Frauen und ein knappes Drittel der Männer unter einer kombinierten Drang-Streß-Inkontinenz. Die Therapie erfolgt konservativ mit Hilfsmitteln wie Spezialeinlagen und Trainingsmaßnahmen bzw. operativ, zum Beispiel bei Descensus oder Obstruktion der ableitenden Harnwege. Medikamentös behandelt werden derzeit etwa 20 Prozent der Patienten. Vor allem Drang- und Reflex-Inkontinenz sind die Domäne der pharmakologischen Behandlung.
Drang-Inkontinenz und Urge-Syndrom
Kennzeichen der Drang-Inkontinenz ist die Hyperaktivität des Detrusors. Die Speicherfunktion der Blase ist durch vorzeitige, nicht hemmbare Kontraktionen der Blasenmuskulatur gestört. Diese Instabilität kann durch vermehrten sensorischen oder motorischen Input ausgelöst sein (idiopathische Reizblase) oder auf einer unzureichenden Hemmung des Miktionsreflexes beruhen (neurogene Blasenentleerungsstörung). Unspezifisch kann versucht werden, den sensorischen Input zu reduzieren, beispielsweise durch Zystitisprophylaxe und -behandlung und Östrogensubstitution bei Frauen in der Menopause.
Die efferente Therapie zielt auf die Relaxation der glatten Blasenmuskulatur und die Blockade der Reizübertragung durch spasmolytische und anticholinerge Pharmaka. Dazu gehören Oxybutynin, Trospiumchlorid und Propiverin. Diese können die Miktionsfrequenz und den Detrusordruck um je bis zu 30 Prozent senken.
Trospiumchlorid und Propiverin sind gut geeignet bei Urge-Syndrom, Pollakisurie (häufiger Entleerung kleiner Harnmengen) und kombinierter Urge-Streß-Inkontinenz. Trospiumchlorid kann die Miktionsfrequenz senken und das Miktionsvolumen erhöhen. Bei Drang-Streß-Inkontinenz, einer bei postmenopausalen Frauen häufigen Mischform, eignet sich besonders Propiverin, um den für die Urge-Symptomatik verantwortlichen sensorischen Input zu drosseln. Die Pharmakotherapie ist allerdings kein Allheilmittel, an erster Stelle steht bei der Behandlung der Streßinkontinenz und ihrer Mischformen die Physiotherapie.
Tolterodin
Bei den Anticholinergika beeinträchtigt eine teils ausgeprägte Mundtrockenheit als Hauptnebenwirkung die Compliance der Patienten negativ. Tolterodin könnte hier Vorteile aufweisen: Es senkte in plazebokontrollierten Studien und Vergleichsstudien die Detrusorhyperaktivität etwa gleich stark wie Oxybutynin, Trospiumchlorid und Propiverin - bei geringerer Mundtrockenheit. Anders als die anderen anticholinergen Substanzen wirkt Tolterodin auf die muscarinergen Rezeptoren der Blasenmuskulatur. Phase-II-Studien ergaben eine für die Behandlung der hyperaktiven Blase optimale Dosis von ein bis zwei Milligramm täglich.
Reflexinkontinenz und Capsaicin
Die "Reflexblase" mit Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie ist ein Symptom einer neurogenen Blasenentleerungsstörung, beispielsweise infolge neurologischer Erkrankungen, bei denen Gehirn oder Rückenmark in Mitleidenschaft gezogen werden. Medikamente mit detrusorrelaxierender Wirkung lassen sich auch bei schwachen Formen von Reflexinkontinenz einsetzen, am besten in Kombination mit Blasenklopf- und Toilettentraining, wobei eine möglichst restharnfreie Entleerung der Blase anzustreben ist.
Handelt es sich um eine neurogene Blasenentleerungsstörung, lassen sich spinale und supraspinale Detrusorreflexie unterscheiden. Bei spinal bedingter Hyperaktivität des Detrusors können die vesikulären Rezeptoren mit Capsaicin, der Wirksubstanz des roten Pfeffers, günstig beeinflusst werden. Die intravesikale Gabe von 100 Millilitern Capsaicin-Lösung (1 mM, Capsaicin 0,3 g/l in 30%iger alkoholischer Lösung und 0,9% NaCl) im Rahmen einer aktuellen Studie ergab bei 44 Prozent der Patienten vollständig wiederhergestellte, bei 36 Prozent immerhin verbesserte Kontinenz.
Streßinkontinenz
Vom "passiven" unwillkürlichen Urinverlust bei Belastung (Lachen, Niesen, Husten) sind vor allem Frauen häufig betroffen, da Verschluß- und Haltemechanismen von Blasenhals und Beckenboden bei ihnen anatomisch anfälliger sind und durch Geburten zusätzlich belastet werden. Der Erfolg einer medikamentösen Therapie der Streßinkontinenz hängt wesentlich von ihrer Ursache ab. Eine hypermobile Blase ist medikamentös ebensowenig behandelbar wie ein Schließmuskeldefekt, sondern muß in der Regel operiert werden. Die Pharmakotherapie ist deshalb auf leichtere Formen der Streßinkontinenz beschränkt, meist in Kombination mit Beckenbodentraining und/oder Elektrostimulation. Einen Ansatzpunkt stellt die hypotone Harnröhre dar, da hier mit alpha-adrenergen Substanzen wie Midodrin (dreimal täglich 5 mg) der Blasenauslaßwiderstand erhöht werden kann. Voraussetzung ist, daß die Schließmuskelfunktion noch weitgehend intakt ist. Eine Verbesserung ist etwa bei einem Drittel der Patientinnen feststellbar. Allerdings schwanken die Kontinenz-Werte zwischen Null und 24 Prozent, für subjektive Besserung gar zwischen Null und 84 Prozent, kontrollierte klinische Studien fehlen. Wegen der hohen Nebenwirkungsrate (ca. 26 Prozent) ist eine strenge Indikationsstellung nötig.
Gleiches gilt für das ebenfalls alpha-adrenerge Imipramin (initial 25 mg/Tag), das vor allem zentralnervöse und kardiovaskuläre Nebenwirkungen aufweist. Eine subjektive Besserung - 50 bis 80 Prozent bei postmenopausalen Frauen - läßt sich auch durch lokale Östrogenbehandlung mit Suppositorien oder Cremes erzielen. Neben der verbesserten Endothelproliferation wird durch Östrogene auch die Sensitivität der alpha-adrenergen Rezeptoren in der Blasenwand gesteigert, weshalb sie sich auch für eine Kombinationsbehandlung mit Midodrin eignen.
Quelle
Prof. Dr. Helmut Madersbacher, Innsbruck, Prof. Dr. Bernd Schönberger, Berlin, Dr. Doris Schultz-Lampel, Wuppertal, "Medikamentöse Behandlungsstrategien bei Harninkontinenz - Diagnostik in Therapie und Praxis", Kassel, 23. Oktober 1998, 10. Jahreskongreß der Gesellschaft für Inkontinenzhilfe (GIH).
Andrea Siebert-Wellnhofer, Ingolstadt
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