Pharmakologie

Melatonin

Traum und Realität in der Melatoninforschung

Von Th. H. Lippert, H. Seeger, A. O. Mueck | Melatonin wurde in den letzten Jahren als Wundermittel mit einem spektakulären Wirkungspotential angepriesen. Vom klinisch-pharmakologischen Standpunkt aus existieren aber für keine der propagierten Anwendungsmöglichkeiten ausreichende wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse. Nur für Schlafinduktion und Jet-lag-Syndrom gibt es klare Hinweise für eine Wirkung auch beim Menschen. Da das Nebenwirkungsspektrum von Melatonin noch weitgehend unbekannt ist, wäre eine Einnahme erst nach Vorliegen von Studien nach good clinical practice (GCP) mit Evaluierung von Effektivität sowie akuter und chronischer Toxizität zu rechtfertigen.

Die Publizität von Melatonin als "Wunderdroge" hat, von den USA kommend, auch auf Deutschland übergegriffen. Als Nahrungsergänzungsmittel in den USA erhältlich, hat es – von dort eingeführt – innerhalb kurzer Zeit eine große Nachfrage auch in Deutschland erlangt. In der Zwischenzeit wurde von den Bundesbehörden Melatonin als zulassungspflichtiges Arzneimittel deklariert. Da jedoch bisher noch keine Zulassung vorliegt, kann Melatonin nicht auf dem üblichen legalen Wege beschafft werden.

Angebliche Wirkungen

Folgende Wirkungen werden unter anderem dem Melatonin zugeschrieben:

  • Verzögerung des Alterungsprozesses,
  • Karzinomprophylaxe und -therapie,
  • Verbesserung der sexuellen Vitalität,
  • Therapie der Schlaflosigkeit und
  • schnelle Überwindung der Folgen des reisebedingten Jet-lags.

Diese weitgespannten Erwartungsansprüche gehen auf das Erscheinen von Sensationsberichten in der Laienpresse, aber auch von Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften zurück. Es stellt sich insbesondere aus klinisch-pharmakologischer Sicht die Frage, welche wissenschaftlich gesicherte Basis solchen Ansprüchen zugrunde liegt.

Die chemische Struktur von Melatonin wurde bereits 1958 durch Lerner und Mitarbeiter aufgeklärt [20]. Es handelt sich um die von der Amino- säure Tryptophan abstammende Substanz N-Acetyl-5-Methoxytryptamin mit der relativen Molekülmasse 232,3, somit um ein relativ kleines Molekül (Abb. 2). Die kurz darauf einsetzenden intensiven Forschungsarbeiten haben bis heute einen Berg von Publikationen erbracht, deren Ergebnisse kaum mehr überschaubar sind und die nicht mehr einfach zusammengefaßt werden können.

Wirkungen beim Tier Schlaf/Wach-Zyklus

Die vorliegenden Kenntnisse über das Verhalten von Melatonin im Organismus basieren fast ausschließlich auf tierexperimentellen Untersuchungen. Der Regulationsmechanismus der Melatoninsekretion der Zirbeldrüse ist gut dokumentiert (Abb. 1) [17, 34]. Kurz zusammengefaßt: Licht verhindert die Sekretion, was bedeutet, daß nur während der Nacht Melatonin produziert wird. Es wird daher von einer Regulation des Schlaf/Wach-Zyklus durch Melatonin gesprochen. Die erhöhte Melatoninproduktion während der Wintermonate hemmt bei saisonalen Tieren durch Einschränkung der Sexualhormonproduktion die Fertilität. Diese Melatoninwirkung ist allerdings nicht bei allen Tierarten zu finden; auch gegenteilige, fertilitätserhöhende Effekte scheinen möglich zu sein.

Immunsystem

Zahlreiche andere bei Tieren beobachtete Wirkungen [1, 18] lassen noch keine sichere Beurteilung zu, ob es sich um spezifische Melatonineffekte handelt. Es wurden unter anderem Wirkungen von Melatonin im ZNS und im Immunsystem beschrieben, wie beispielsweise Einflüsse auf die Gonadotropinsekretion und auf die Körpertemperatur. Im Immunsystem wurden Effekte sowohl im humoralen als auch im zellulären Bereich registriert. Die Wirkungen sind mitunter abhängig von der Tageszeit, zu der Melatonin verabreicht wird [30, 37]. Darüber, ob es sich um physiologische oder pharmakologische Effekte handelt, gibt es bisher keine sicheren Angaben.

Tumorerkrankungen

Viel Aufsehen erregten Publikationen, die sich mit der Melatoninwirkung bei Tumorerkrankungen befassen. So wurde bei Ratten ein tumorhemmender Einfluß von Melatonin auf Dimethylbenzanthracen-induzierte Mammatumoren beobachtet [33, 35, 36]. Es wurde aber auch über tumorstimulierende Wirkungen von Melatonin berichtet [7]. Als Kritikpunkt der meisten Arbeiten ist zu nennen, daß kein Vergleich mit bereits etablierten antikanzerogenen Substanzen angestellt wurde und so der Wirkungseffekt von Melatonin nicht sicher einzuschätzen ist. Andere körpereigene Substanzen sind ebenfalls in der Lage, das Tumorwachstum zu hemmen [22]. In einer eigenen Studie konnte mit einem Rattenstamm, bei dem spontan metastasierende Endometriumkarzinome auftreten, weder ein prophylaktischer noch ein therapeutischer Hemmeffekt erzielt werden [2]. Erwähnenswert ist die Beobachtung, daß bei ansprechbaren Tumoren die abendliche Gabe hemmen, die morgendliche Applikation aber das Tumorwachstum fördern soll [3].

Viel Aufmerksamkeit haben proliferationshemmende Wirkungen bei einer seltenen Zelllinie des östrogenabhängigen Mammakarzinoms erregt [14]. Es handelte sich um eine Unterart von MCF-7-Zellen, die im allgemeinen nicht auf Melatonin reagieren. Untersuchungen im eigenen Labor [19] haben ebenso wie andere Arbeiten [4] gezeigt, daß Melatonin auch proliferationsstimulierende Wirkungen entwickeln kann. Solche kontroversen Ergebnisse sind nicht geeignet, der Spekulation, daß Melatonin eine entscheidende Rolle bei der Kontrolle des Karzinomgeschehens zukomme [5, 26], weitere Nahrung zu liefern.

Lebenszeit

Andere, der Melatoninforschung Auftrieb gebende Untersuchungsergebnisse waren die Lebenszeiterhöhungen (zirka 20 Prozent) von Mäusen nach Melatoningabe [29]. Die Interpretation, daß Melatonin ein lebensverlängerndes Hormon darstellt, ist auf diese Versuche zurückzuführen. Neben der Tatsache, daß eine Reihe von anderen Substanzen bei Mäusen ebenfalls eine Lebensverlängerung bewirken kann [40] und diesbezügliche Kontrollversuche nicht durchgeführt wurden, ist als weiterer Kritikpunkt anzubringen, daß Melatonin als sogenanntes "lebensverlängerndes Hormon" bei der getesteten Mäuseart normalerweise nicht nachweisbar ist.

Oxidationshemmung

Vor kurzem wurde berichtet, daß Melatonin eine antioxidative Wirkung besitzt [31]. Antioxidantien spielen beim Alterungsprozeß, aber auch bei der Karzinomentstehung eine wichtige Rolle. Doch auch hier scheint das Wirkungspotential für Melatonin beschränkt zu sein. So konnte in einigen Untersuchungen gezeigt werden, daß die Hemmwirkung von Melatonin auf die Oxidation von LDL relativ gering ist; die nutritive antioxidative Substanz Vitamin E sowie der Melatoninprecursor Serotonin wiesen eine wesentlich größere antioxidative Potenz auf [32].

Ob neuere Ergebnisse über das Vorkommen von Melatonin in anderen Organen, neben Zirbeldrüse zum Beispiel auch in geringen Mengen im Auge und im Magen-Darm-Trakt [1], zum Nachweis einer klinisch-pharmakologisch verwendbaren Funktion führen, ist fraglich. Auch das Auffinden von Melatoninrezeptoren in verschiedenen Geweben [10, 27] hat bisher noch nicht dazu beigetragen, die Kenntnisse über die Melatoninfunktion entscheidend zu erweitern.

Wirkung beim Menschen Natürliche Funktion

Da bisher noch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse über essentielle Wirkungen vorliegen, hat sich ein weiter Raum für Spekulationen aufgetan. Die einzig feststehende Tatsache, daß die Melatoninsekretion beim Menschen lichtabhängig in der Nacht stattfindet [1, 6], läßt annehmen, daß Melatonin bei der Regulation des Schlaf/Wach-Zyklus eine Rolle spielt. Es dürfte sich möglicherweise um eine komplexe Funktion handeln, die sich vorwiegend auf Rekreationsprozesse des Organismus während der Nacht bezieht.

Die Schlaffunktion scheint mit einbezogen zu sein. Auf der Suche nach pharmakologischen Anwendungsmöglichkeiten wurden nach frustranen Untersuchungen bei Epilepsie und Parkinsonismus sowie bei anderen neuropsychologischen Erkrankungen [21] neue Indikationen für Melatonin anvisiert.

Tumorerkrankungen

Obwohl Tierexperimente bisher keine gesicherten Erkenntnisse über die Rolle von Melatonin im Krebsgeschehen erbringen konnten, hat eine italienische Arbeitsgruppe in mehreren Studien versucht, beim Menschen eine Tumorhemmwirkung nachzuweisen. So wurde bei 31 Patienten mit Lungenkarzinom unterschiedlicher Histotypen und unterschiedlicher Metastasierungen die Wirkung von 10 mg Melatonin, kombiniert mit "supportive care" (bestehend aus nicht weiter definierten nicht steroidalen Antiphlogistika, Opiaten, Corticoiden und anderen Präparaten), untersucht [23]. Es wurde dabei mit einer Gruppe von 32 Patienten verglichen, die nur "supportive care" erhielten. Nach objektiven Kriterien ergab sich in keiner Gruppe eine komplette oder auch partielle Antwort.

In der Folgestudie [24] untersuchte die gleiche italienische Gruppe unter Verdoppelung der Melatonindosis den Effekt auf Hirnmetastasen, wobei bei der geringen Fallzahl (n = 24) nicht weniger als sieben histotypisch verschiedene Primärtumoren (Lungen-, Brust-, Kolon-, Nieren-, Zervixkarzinom, Melanom und Sarkome) vorlagen. Berücksichtigt man noch die verschiedenen Stadien und Metastasierungen, so sind nach prognostischen Kriterien sowohl hinsichtlich Morbidität als auch Mortalität sicher keine validen Aussagen zur Vergleichbarkeit der Gruppen mit und ohne Melatonin erlaubt.

Gleiches gilt für eine weitere Studie [25], bei der dieselbe Arbeitsgruppe unter weiterer Verdoppelung der Dosis, nämlich 40 mg pro Tag, den Effekt von Melatonin kombiniert mit Interleukin-2 (IL-2) (n = 41) versus IL-2 allein (n = 39) bei verschiedenen soliden Tumoren prüfte. Auch in dieser Studie sind die beiden Gruppen für einen Vergleich viel zu heterogen – es wurden mindestens sechs histotypisch unterschiedliche Tumoren in verschiedenen Stadien untersucht. Die Autoren bewerten ihre als "vorläufig" bezeichneten Ergebnisse trotz nur marginaler Veränderungen insgesamt als positiv, weisen jedoch selbst darauf hin, daß solche Untersuchungen mit größeren Fallzahlen plazebokontrolliert und möglichst doppelblind wiederholt werden müssen, bevor irgendwelche klinischen Konsequenzen gezogen werden sollten. Zu ergänzen ist, daß keine dieser Studien nach GCP-Richtlinien durchgeführt wurde.

Bei der Suche nach geeigneten Substanzen zur Chemoprävention von Karzinomen in den USA (National Cancer Institute, Bethesda) ist übrigens in groß angelegten Studien unter den zahlreichen Testpräparaten Melatonin nicht vertreten [15, 16].

Kontrazeption

Eine auf den ersten Blick interessante Melatoninindikation scheint die orale Kontrazeption zu sein. Von einer holländischen Arbeitsgruppe initiiert, wird bereits seit einigen Jahren eine umfangreiche Studie durchgeführt [8]. In Kombination mit einem Gestagen werden dabei täglich hohe Dosen von Melatonin (75 mg) zur Abendzeit verabreicht. Das therapeutische Prinzip der Melatoningabe wirft einige kritische Fragen auf. So ist die Gestagenkomponente bereits allein für die Verhütung einer Schwangerschaft ausreichend, warum dann der Melatoninzusatz? Wird dadurch das Zyklusverhalten stabilisiert?

Da Melatonin schlafinduzierend wirkt, kann durch den Melatoninzusatz das sexuelle Verlangen wesentlich beeinträchtigt werden. Für weitere Indikationen, wie

  • Verzögerung des Alterungsprozesses sowie
  • Verbesserung der sexuellen Vitalität, liegen keinerlei wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse vor.

Schlafstudien

Zahlreiche Schlafstudien wurden bereits mit Melatonin beim Menschen durchgeführt [9, 11, 13]. Trotz Schwierigkeiten, die sich durch die Existenz verschiedener Schlafursachen ergeben, wurde in fast allen Studien – neuere, im Schlaflabor durchgeführte Untersuchungen mit einbezogen – eine schlafinduzierende Wirkung beobachtet.

Bei den meisten pharmazeutischen Melatoninformulierungen konnte die mehrstündige physiologische Blutspiegelerhöhung während der Nacht allerdings nicht imitiert werden. Die einfache orale Melatoningabe führt wegen eines hohen First-pass-Effektes in der Leber und einer kurzen Halbwertszeit nur zu einer kurzzeitigen Erhöhung des Melatoninspiegels im Blut [39]. Möglicherweise ist es darauf zurückzuführen, daß nur selten eine Durchschlafwirkung erzielt wurde.

Jet-lag

Für weitere Indikationen liegen nur noch für den Jet-lag, der mit der Regulierung des Schlaf/Wach-Zyklus in Verbindung gebracht werden kann, einige erfolgversprechende Publikationen vor [1]. Eine aussagekräftige GCP-ausgerichtete Studie wurde unseres Wissens jedoch auch hier nicht durchgeführt.

Beurteilung der Forschungsergebnisse Wirkungsprinzip noch unklar

Trotz unzähliger Forschungsarbeiten, die sich schon über vier Jahrzehnte hinziehen, ist es bisher noch nicht gelungen, ein klares Wirkungsprinzip für Melatonin im menschlichen Organismus zu finden. Vom klinischen Standpunkt aus haben nur die bisherigen Hinweise, daß Melatonin bei der Tag-/Nachtrhythmus-Regulierung eine möglicherweise physiologische Rolle spielt, eine gewisse Aussicht für eine Anwendbarkeit der Substanz. Hauptaktivität scheint hier die Unterstützung des Schlafes mit verschiedenen Erholungseffekten des Organismus zu sein.

Fragwürdige Berichte über Wunderwirkungen

Es erhebt sich die Frage, wie – nach dieser noch relativ schwachen wissenschaftlichen Kenntnislage – bei der Bevölkerung so große Hoffnung in Melatonin als Hormon mit Wunderwirkungen aufkommen konnte. Verantwortlich dafür dürften zahlreiche Publikationen sein, in die häufig Wunschträume der Forscher bei der Abfassung ihrer Arbeiten mit einflossen. Basierend auf spärlichen Ergebnissen von Tierexperimenten und Zellkulturversuchen, wurden Theorien dahingehend entwickelt, daß Melatonin fundamentale physiologische Funktionen im Körper ausübe.

Titel von Melatoninveröffentlichungen wie "Pineal melatonin, its fundamental immunoregulatory role in aging and cancer" [26] und "The pineal: An oncostatic gland?" [5], erschienen in englischsprachigen wissenschaftlichen Publikationsorganen, haben an der übertriebenen Erwartungshaltung sicher großen Anteil. Erst spät wurden von renommierter Seite, wie zum Beispiel der Zeitschrift Nature [38], Stimmen gegen die Sensationsberichte laut.

Nebenwirkungen

Nach Durchsicht der vorliegenden Forschungsergebnisse ist die in Publikationen geäußerte Ansicht, daß es sich beim Melatonin um ein potentes Hormon handelt, von der heutigen Kenntnislage her [6, 12] nur schwerlich nachvollziehbar. Die Substanz Melatonin entwickelt eher sehr diskrete Wirkungen, die in das Einzelorgangeschehen nicht mit gravierenden Veränderungen eingreifen.

Dies zeigen unter anderem auch die in früheren Zeiten durchgeführten mehrwöchigen Melatoninbehandlungen mit Dosierungen von einem Gramm und mehr pro Tag, wobei außer einer sedierenden Wirkung keine erheblichen anderen Reaktionen des Organismus beobachtet wurden [21]. Andererseits ist die Verharmlosung von Berichten über völlige Nebenwirkungsfreiheit nicht zu rechtfertigen.

Bei sorgfältiger Durchsicht der Literatur findet man Angaben über Begleiterscheinungen wie Hautrötungen, Bauchkrämpfe, Durchfälle, migräneartige Kopfschmerzen und visuelle Gesichtsausfälle [28]. Ohne nähere Angaben wurde auch in einem 1995 erschienenen Buch über Melatonin [1] die Möglichkeit von unerwünschten Wirkungen auf kardiovaskuläre Funktionen inklusive der Blutgerinnung erwähnt. Über die chronische Toxizität von Melatonin gibt es beim Menschen noch keine Angaben.

Einnahme von Melatonin sollte unterbleiben

Vom klinisch-pharmakologischen Standpunkt aus ist zusammenfassend zu konstatieren, daß von den anvisierten Anwendungsgebieten des Melatonins nur die Schlafwirkung und die Behebung des Jet-lags als erfolgversprechend übrigbleiben. Solange allerdings hier keine fundierten Ergebnisse beim Menschen vorliegen, sollte die Einnahme von Melatonin unterbleiben.

Nachdruck aus Deutsches Ärzteblatt 95, A-1791–1793 (1998) mit freundlicher Erlaubnis der Verfasser und der Redaktion. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

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