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Kongress
W. CaesarNeue und bessere Wirkstoffe aus der Natur (
Bedeutendster Kongress auf seinem Gebiet
Prof. Dr. Otto Sticher, Pharmazeutischer Biologe an der ETH Zürich, eröffnete den Kongress über "Natural Products Research", der zugleich die 48. Jahrestagung der GA war. Er zeigte sich sehr erfreut, dass etwa jeder vierte Kongressteilnehmer in der Industrie berufstätig sei und dass sich die Industrie insbesondere in den Workshops mit vielen eigenen Beiträgen beteiligt. Dies sei ein Indiz dafür, dass die wissenschaftliche Forschung an den Universitäten für die Wirtschaft von großem Interesse ist und dass es eine gute Zusammenarbeit gebe.
Prof. Dr. Albert Waldvogel, Vizepräsident für Forschung der ETH Zürich und renommierter Klimatologe, verglich die atmosphärische Physik mit der klinischen Pharmakologie. Beide bearbeiten ein Sujet mit einer schier unübersichtlichen Menge von Faktoren und Wechselbeziehungen, was es enorm erschwere, Ursache und Wirkung zu benennen. Allerdings hätten die Kliniker einen Vorteil: Ihnen stehen mehrere Probanden zur Verfügung, sodass sie Doppelblindstudien durchführen können; der Klimatologe habe dagegen nur eine Atmosphäre und könne daher keine Vergleichsstudien durchführen. Unter Vorbehalt sagte Waldvogel für den vierten Kongresstag besseres Wetter voraus – und wurde prompt widerlegt.
Prof. Dr. Heidi Wunderli-Allenspach berichtete von einer Umstrukturierung an der ETH Zürich: Die Pharmazie ist nun in das Departement "Angewandte Biowissenschaften" eingegliedert worden. Davon erwarte man neue Impulse für das Fach.
Prof. Dr. Theo Dingermann überbrachte die Grüße der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, deren Präsident er ist. Er betonte, dass die alljährlichen GA-Kongresse weltweit die bedeutendsten wissenschaftlichen Veranstaltungen auf dem Gebiet der Arzneipflanzenforschung sind.
Förderpreise und
Auszeichnungen
Da der GA-Präsident Prof. Dr. Scheffer aus Leiden schwer erkrankt ist, vertraten ihn Prof. Dr. Brigitte Kopp, Wien, und Prof. Dr. Rudolf Bauer, Düsseldorf, bei seinen repräsentativen Aufgaben. Sie übergaben an 43 junge Nachwuchswissenschaftler Reisestipendien im Wert von knapp 20 000 DM und lobten deren überdurchschnittliches Engagement.
Den Egon Stahl-Preis in Silber, der alle zwei Jahre an einen Wissenschaftler in der postdoktoralen Phase vergeben wird, überreichten sie an Priv.-Doz. Dr. Thomas Jürgen Schmidt von der Universität Düsseldorf. Schmidt, der aus der Schule von Prof. Dr. Günter Willuhn hervorgegangen ist, hat wesentliche neue Erkenntnisse zum Wirkmechanismus von Sesquiterpenlactonen, wie sie in Arnikablüten vorkommen, gewonnen und damit auch einen Beitrag zur rationalen Begründung der Phytotherapie geleistet.
Schließlich ernannten Kopp und Bauer Prof. Dr. Heinz Schilcher, ehemals Freie Universität Berlin, jetzt in München im Ruhestand, zum Ehrenmitglied der GA. Die Ehrenmitgliedschaft ist eine seltenen Ehrung, für die nur Personen in Betracht kommen, die sich sowohl um die Arzneipflanzenforschung als auch um die GA verdient gemacht habe.
Schilcher hat seit über 40 Jahren an allen GA-Kongressen teilgenommen, kann 260 Publikationen vorweisen, darunter 16 Bücher, hat 30 Doktoranden betreut, die Arbeit der Kommission E nachhaltig geprägt und sich in der Fortbildung von Apothekern und Ärzten hervorgetan.
In seiner Eigenschaft als Vorsitzender der SGPhW überreichte Sticher deren höchste Auszeichnung, die Tadeus Reichstein-Medaille, an Prof. Dr. Richard Ernst. Er würdigte die Forschungen des Preisträgers auf dem Gebiet der NMR-Spektroskopie, mit denen er der Naturstoffforschung neue Möglichkeiten eröffnet hat, die heute aus der alltäglichen Arbeit nicht mehr fortzudenken sind.
Welche Zukunft hat die Wissenschaft?
Ernst hielt den Festvortrag zum Thema "Wird die Wissenschaft im neuen Millennium anders sein?", und stellte einleitend die Frage: "Welche Art von Wissenschaft brauchen wir, um die Erde so zu erhalten, wie wir sie wünschen?".
Die Wissenschaft steht in Wechselbeziehungen und auch in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zur Industrie und zur Gesellschaft, die durch die Politik repräsentiert wird. Die Industrie und die Politik nützen aber der Gesellschaft auf lange Sicht wenig, wenn sie die Wissenschaft ihrer Freiheit berauben und für ihre Zwecke einspannen. Bisher sei die allein von der persönlichen Wissbegierde der Wissenschaftler motivierte Forschung immer noch am effektivsten gewesen. Die Industrie schaue vor allem auf ihren Profit, und die Politik sorge sich um die Lösung aktueller Probleme; da beide ihren jeweiligen Zwängen unterliegen – Stichworte "share holder value" und "Wiederwahl" –, machen sie sich kaum Gedanken über die weitere Zukunft.
Die in Wirtschaftskreisen weit verbreitete Vorstellung, dass eine kompetitive Evolution schon von ganz allein in eine gute Zukunft führen werde, lehnte Ernst ab: Ein Prinzip, das für die Natur gut gewesen sei, lasse sich nicht einfach auf die menschliche Kultur übertragen. Fortschritt um jeden Preis mache keinen Sinn, man müsse auch fragen, wohin die Reise geht.
Die Wissenschaft müsse sich auch der wichtigen Aufgabe stellen, die Bevölkerung über Chancen und Risiken laufender Forschungen aufzuklären; dies sei umso wichtiger, als der Mensch zur Undankbarkeit neige: Die Segnungen des technischen Fortschritts betrachte er als Selbstverständlichkeiten, aber für alles Übel in der Welt mache er in erster Linie die Technik verantwortlich.
Die Frage, ob die Wissenschaft im Zeitalter der Informationstechnologie noch so großer Institutionen, wie sie Universitäten darstellen, bedürfe, beantwortete Ernst positiv. Die persönliche Kommunikation sei auch in Zukunft unverzichtbar.
Abschließend ging Ernst auf die von ihm mitentwickelte NMR-Spektroskopie ein und veranschaulichte ihre Rolle in den Wissenschaften mit einer Allegorie: Die Welt der Naturwissenschaften gleiche einem Baum, der sich, ausgehend von dem Stamm, nach oben hin immer mehr verzweigt und verästelt. Die Physik entspricht hier dem Stamm, der alle anderen Naturwissenschaften trägt; dann folgt die Chemie, wieder eine Etage höher die Biologie und schließlich die Medizin. Je höher man steigt, desto schwieriger wird es, Gesetzmäßigkeiten zu finden. Mit der NMR-Spektroskopie, die aus der Kernphysik entwickelt wurde und anfangs in der Chemie, später auch in der Medizin eingesetzt wurde, habe man eine Methode geschaffen, die wie eine Leiter an dem Baum steht und das Dickicht in den oberen Bereichen zugänglicher macht.
Forschungsbedarf bei altbewährten Arzneidrogen
Prof. Dr. Adolf Nahrstedt, Münster, legte dar, dass auch bei einheimischen Arzneipflanzen, deren Präparate sich seit langem bewährt haben, zum Teil noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. Während die Wirksamkeit und Sicherheit sehr vieler Präparate belegt sind, ist das Wirkprinzip oft noch unbekannt und umso mehr der Wirkmechanismus.
Beispielhaft nannte Nahrstedt einige jüngere Forschungsergebnisse:
- Efeuextrakte sind wegen ihres spasmolytischen Effektes insbesondere in der Kinderheilkunde beliebt (Bronchitis). Erst seit kurzem wird dieser Effekt mit bestimmten Saponinen (Hederin, Hederagenin) in Verbindung gebracht.
- In Hopfen und Silberkerze wurden Substanzen mit östrogener Wirkung entdeckt, die allerdings unterschiedliche chemische Strukturen aufweisen (Prenylnaringenin bzw. Kaffeesäureester).
- Die Prolactin-Hemmung von Vitex agnus-castus dürfte auf Diterpenen beruhen.
- Weidenröschen-Arten könnten die große Palette von Phytopharmaka gegen die benigne Prostatahyperplasie nochmals erweitern. In vitro hemmt das darin enthaltene Oenothein sowohl die Aromatase als auch die 5a-Reductase.
- Beim Johanniskraut erregte der Streit um den therapeutischen Vorrang der Hypericine bzw. des Hyperforins die Gemüter. Inzwischen sind weitere Inhaltsstoffe ins Visier geraten: das dimere Procyanidin B2, das die Löslichkeit der Hypericine erhöht, und bestimmte Flavonoide (Isoquercitrin, Miquelianin).
Nahrstedt forderte, bezugnehmend auf die erste spät erkannten möglichen Komplikationen bei Johanniskrautpräparaten, dass auch die Nebenwirkungen von Phytopharmaka noch besser erforscht werden sollten.
Die Suche nach den Angriffspunkten
Prof. Dr. Angelika Vollmar, München, befasste sich exemplarisch mit der wichtigen Aufgabe der Arzneipflanzenforschung, die traditionelle Anwendung von Phytopharmaka rational zu begründen. Um die Wirkungsweise einer Arzneidroge zu verstehen, müsse man ihre Wirksubstanzen in Beziehung zur Pathosphysiologie des Organismus stellen. Dies wiederum verspricht nur Aussicht auf Erfolg, wenn die Ätiologie der jeweiligen Krankheit bis ins Detail verstanden ist. Erst dann lässt sich die spezifische Wirkung von Substanzen auf den Krankheitsprozess erklären und ihr individueller Angriffspunkt, das Target, identifizieren. Ist der Wirkmechanismus klar, lassen sich die Wirkstoffe eventuell gezielt optimieren.
Vollmar erklärte ihr Konzept an Hand von Krebserkrankungen. Tumorgewebe wächst unaufhörlich und wird damit lebensbedrohend, weil
- einerseits seine Zellproliferation stark erhöht ist und
- andererseits seine Zellsterblichkeit stark vermindert ist.
Der zweite Punkt war lange Zeit unterschätzt worden, hat aber gerade in den letzten Jahren viel Beachtung gefunden. Er steht in direktem Zusammenhang mit der Apoptose, dem programmierten Zelltod. Im Gegensatz zur Nekrose, bei der die Zelle durch Verletzung zerstört wird und ihre Relikte Entzündungsreaktionen hervorrufen, verläuft die Apoptose so, dass die Zelle sich auflöst und ihre Reste verschwinden, ohne dass dabei das umliegende Gewebe in seiner Funktion beeinträchtigt wird.
Die Apoptose wird durch Reize ausgelöst, die in der Zelle eine Signalkette in Gang setzen. Eine wichtige Rolle spielen dabei der an der äußeren Zellmembran lokalisierte Todesfaktorrezeptor Fas und bestimmte, als Caspasen bezeichnete zytosolische Enzyme. Als Inhibitor der Apoptose wirkt z.B. das Protein Bcl-2.
Krebszellen zeichnen sich aus durch
- eine Überexpression antiapoptotischer Gene,
- einen Defekt im Fas-System und
- eine Mutation der Gene, die für die Caspasen codieren.
Zu biogenen Substanzen, die Apoptose induzieren, zählen u.a. Mistellektin, Helenalin, Epigallocatechin und Boswelliasäuren. Inzwischen sind erste Studien angelaufen, um ihre Angriffspunkte zu identifizieren. Bei einigen Synthetika ist dies bereits gelungen. So weiß man, dass
- Taxol das Bcl-2 durch Phosphorylierung inaktiviert und
- Doxorubicin das Fas-System regeneriert.
Auf lange Sicht könnten Kombinationen von Wirksubstanzen mit unterschiedlichen Targets entscheidend dazu beitragen, den Sieg über den Krebs zu erringen.
Kastentext: Nekrose oder Apoptose?
Um die Unbedenklichkeit von Extrakten und Substanzen zu belegen, wird in vitro ihre Zytotoxizität getestet und mit der IC50 quantifizierte. Wenn aber gerade die Zytotoxizität das mögliche Wirkprinzip darstellt wie z.B. bei Krebstherapeutika, stellt sich die Frage, ob die Toxizität auf Nekrose oder Apoptose beruht. Dies lässt sich sowohl an morphologischen als auch an chemischen Merkmalen der zugrunde gehenden Zellen feststellen.
Im Fall von Sesquiterpenen der Arnika, darunter Helenalin, zeigte sich, dass sie bei leukämischen T-Lymphozyten Apoptose verursachen. Um zu prüfen, ob dieser Effekt spezifisch für Krebszellen ist, wurde anschließend die Wirkung von Helenalin auf gesunde Monozyten getestet. Das Ergebnis: Helenalin induzierte hier keine Apoptose, sondern verringerte die natürliche Apoptoserate sogar noch ein wenig.
Kastentext: Echinacea
Im Fall von Echinacea konnte die bei vielen Herstellern bestehende Unsicherheit über die Identität der Wurzeldroge durch den konsequent kontrollierten Anbau der Heilpflanze ausgeräumt werden. Die in vivo und in vitro festgestellten immunmodulatorischen Effekte bedürfen noch der Prüfung in klinischen Studien. Andererseits sprechen einzelne Erfahrungsberichte dafür, das Indikationsgebiet, das sich bisher auf akute Entzündungen beschränkt, zu erweitern. Vorgeschlagen wurden die chronische Applikation bei bestimmten Autoimmunerkrankungen und die adjuvante Gabe bei der Chemotherapie der Leukämie.
Kastentext: Pestwurz
Pyrrolizidinalkaloide, eine unerwünschte Inhaltsstoffgruppe der Pestwurz, werden inzwischen mit Hilfe modernen Herstellungsverfahren sicher aus den Extrakten eliminiert, sodass die Präparate frei davon sind. Bindungstudien der wirksamkeitsbestimmenden Petasine (Sesquiterpenester) an verschiedenartigen neuronalen Rezeptoren stützen die hauptsächliche Indikation als Beruhigungsmittel, doch scheinen auch noch unbekannte lipophile Substanzen eine entsprechende Wirkung zu entfalten. Petasin erwies sich in vitro auch als potenter Hemmstoff der Lipoxygenase; insofern eröffnen sich hier Perspektiven für die Therapie chronisch entzündlicher Erkrankungen.
Kastentext: Grüner Tee
Die Blätter des ostasiatischen Teestrauchs erfreuen sich seit dem 17. Jahrhundert in Europa so großer Beliebtheit, dass das chinesische Fremdwort "Tee" sich bei uns zur Bezeichnung aller Aufgussgetränke und Infuse durchgesetzt hat. Die große Akzeptanz des Tees beruht hauptsächlich auf seinem Gehalt an Coffein. Aus diätetischer Sicht kommt allerdings den Flavanoiden – Epicatechin und Epigallocatechin sowie ihren Gallaten – eine größere Bedeutung zu. Sie scheinen tumorprotektiv zu wirken, wie umfangreiche epidemiologische Befunde in Japan nahelegen. Da die Flavanoide des Tees durch Oxidation und Polymerisation verloren gehen, sollte nur unfermentierter, das heißt grüner Tee getrunken werden, der mit heißem Wasser aufgegossen und nicht (wie z.B. in Tibet üblich) gekocht worden ist. Empfohlen werden 5 Gramm "Teedroge" täglich.
Kastentext: Würdigung Richard Ernst und die NMR-Spektroskopie
Bereits in seiner Dissertation, die er 1962 im Fach Physikalische Chemie an der ETH Zürich einreichte, beschäftigte sich der Schweizer Richard Ernst mit der Kernresonanzspektroskopie oder NMR(Nuclear Magnetic Resonance)-Spektroskopie. Nach einem Studienaufenthalt in Kalifornien übernahm er 1968 an der ETH Zürich die NMR-Forschungsgruppe und übte dort in den folgenden drei Jahrzehnten eine überaus fruchtbare Tätigkeit aus.
Die NMR-Spektroskopie beruht auf der Tatsache, dass die Atomkerne bestimmter Isotope wie 1H und 13C einen Eigendrehimpuls (Kernspin) besitzen. Das heißt: Wenn sie dem Einfluss eines äußeren Magnetfeldes von großer Stärke ausgesetzt werden, drehen sie sich in bestimmte Richtungen, vergleichbar einer Kompassnadel. Durch Einstrahlung von Radiowellen bestimmter Frequenz (Resonanzfrequenz) kann man die Drehrichtung der Atomkerne im Magnetfeld ändern. Die Resonanzfrequenzen hängen nicht allein vom jeweiligen Atom, sondern auch von seiner unmittelbaren Umgebung innerhalb des Moleküls ab, sodass sich durch systematische Variation der Wellenlänge die chemische Struktur des Moleküls aufklären lässt.
Die klassischen NMR-Experimente hatten Edward Purcell und Felix Bloch schon 1952 durchgeführt. Ernst verhalf der Methode ab 1964 zu enormen Fortschritten, indem er statt der Dauerbestrahlung mit kontinuierlicher Frequenzänderung eine Serie kurzer Strahlenimpulse einsetzte, wodurch er wesentlich schärfere Signale erhielt. Mit Hilfe eines Computers lassen sich die Signale bequem summieren und mit einem besonderen mathematischen Verfahren, der Fourier-Transformation (FT), auswerten (deshalb FT-NMR).
Anfang der 70er-Jahre entwickelte Ernst die zweidimensionale (2D) NMR-Spektroskopie, die die Anwendung der Technik auf komplexe Moleküle wie z. B. Proteine erlaubte. Eine logische Erweiterung des Konzeptes stellte die Etablierung der 3D-FT-NMR-Spektroskopie in den 90er-Jahren dar. Heute ist die NMR-Spektroskopie überall da, wo es um die schnelle Strukturaufklärung chemisch definierter Substanzen geht, nicht mehr wegzudenken.
Die Kernresonanzspektroskopie wurde in den 70er-Jahren auch als bildgebendes diagnostisches Verfahren für die Medizin fruchtbar gemacht. Ein Pionier auf diesem Gebiet war Paul Lauterbach.
Kastentext: Vom Mittelalter zur Renaissance
Dr. Werner Dressendörfer, Bamberg, zeigte Grundlinien des Sammelns von Naturgegenständen seit dem späten Mittelalter auf. Ein ungeheurer "Erfahrungsdruck", wie ihn die Pest-Pandemie des "Schwarzen Todes", Klimaschwankungen und in ihrem Gefolge katastrophale Missernten verursachten, setzten die damaligen Europäer unter einen Modernisierungszwang. Neben die Scholastik, die die überlieferten Lehren immer aufs Neue durcharbeitete, traten eigenständige Denkansätze und der feste Wille, eigene Erfahrungen zu sammeln. Der selbstbewusste Renaissance-Mensch bildete sich hieraus.
Auf dem Gebiet der Naturkunde blieb Plinius ("Naturalis Historia") zwar die größte Autorität, aber seine Lehren wurden angezweifelt, wenn sie authentischen Beobachtungen widersprachen. Diese nahmen im Zeitalter der Entdeckungen gewaltig zu.
Kastentext: Von der Schatzkammer zum Naturalienkabinett
Viele exotische Naturprodukte hatten einen enormen Seltenheitswert und damit auch einen beträchtlichen materiellen Wert. Adlige und Patrizier, die der Sammelleidenschaft frönten, ließen Exotika wie Kokosnuss und Seychellennuss, Nautilus oder Korallen kunsthandwerklich bearbeiten und gliederten sie ihren Schatzkammern ein, die sie auf diese Weise zu Wunderkammern oder Kuriositätenkabinetten erweiterten. In einem weiteren Schritt unterblieb die Verbrämung mit der Kunst.
Unter Naturforschern galten seltene Naturprodukte als wertvoll genug, um als solche präsentiert zu werden. Damit war der Typ der Naturalienkabinette geboren, die die unmittelbaren Vorläufer der pharmakognostischen Sammlungen bilden. Dressendörfer stellte exemplarisch das Naturalienkabinett des Nürnberger Apothekers Basilius Besler (1561 – 1629) vor, der als Mitautor des "Hortus Eystettensis" bekannt ist. Als Quelle dienten hier zwei gedruckte Kataloge, denn Beslers Sammlung hat sich nicht erhalten und teilt damit das Schicksal fast aller Sammlungen jener Zeit. Die Konfessionalisierung Deutschlands und neue religiöse Strömungen, insbesondere der Pietismus, gaben den Naturaliensammlungen, die bei Besler noch ihren Wert in sich selbst gehabt hatten, den Aspekt des Erbaulichen. Die Natur galt als anschaulicher Beweis für die Erhabenheit ihres Schöpfers, nämlich Gottes. Die kürzlich renovierte "Wunderkammer" der Franckeschen Stiftungen in Halle repräsentiert diesen Typus. Die Aufklärung, die um 1800 auch die Pharmazie erfasste, brachte dann wieder eine Gegenbewegung.
Kastentext: Von der Anatomie zum Chemismus
Der Erlanger Apotheker Theodor Wilhelm Christian Martius (1796 – 1863), der an der Universität unterrichtete und als Autor den Begriff "Pharmakognosie" in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch einführte, legte eine pharmakognostische Sammlung an, die sich größtenteils erhalten hat, und belieferte auch die Universitäten Wien, Berlin, Halle und Edinburgh mit ähnlichen Sammlungen.
Wie niemals zuvor, wurden die Sammlungen für den praktischen Unterricht eingesetzt. Während die Medizinstudenten in der Vorlesung über "Materia medica" hauptsächlich mit der Pharmakologie der Arzneidrogen vertraut gemacht worden waren, erlernten die Pharmaziestudenten hauptsächlich die morphologisch-anatomischen Charakteristika der Drogen. Dies zog die neuartige Unterrichtsform des Praktikums nach sich. Der Apotheker sollte dabei vor allem lernen, Drogen und ihre eventuellen Verfälschungen sicher zu erkennen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die klassische Pharmakognosie durch die chemische Analyse bereichert. Den Höhepunkt dieses Miteinanders kennzeichnet das ab 1908 erschienene "Handbuch der Pharmakognosie" von Alexander Tschirch (1856 – 1939). Einige Jahrzehnte später begann dann der Niedergang der klassischen Pharmakognosie, in der es heute nur noch wenige Spezialisten zur Meisterschaft bringen.
Kastentext: Einige wichtige Sammlungen
Mehrere Referenten stellten pharmakognostische Sammlungen vor, die überwiegend an pharmazeutischen Instituten entstanden sind. Die Wiener Sammlung (Prof. Dr. Christa Kletter) ist mit ca. 18 000 Mustern vermutlich die größte in Europa. Sie wuchs in etwa zwei Jahrhunderten, wobei Erwerbungen von der Novara-Expedition (1857 – 59) und von dem Schweizer Chemiker Tadeus Reichstein (1897 – 1996) hervorzuheben sind.
Die Sammlung im Institut für Angewandte Botanik der Universität Hamburg (Priv.-Doz. Dr. Gisela Dreyling) wurde um 1880 auf Initiative des Senats zusammen mit einem Laboratorium für Warenkunde gegründet, um Importe zu kontrollieren. Sie war lange Zeit als Museum ausgestellt, ist aber jetzt in Kisten verpackt.
Die Sammlung der Universität Göttingen geht auf den Pharmazieprofessor August Wiggers (1803 – 1880) zurück und versank 1938 in einen Dornröschenschlaf, als in Göttingen das Pharmaziestudium eingestellt wurde. Die etwa 7500 erhaltenen Muster hat Prof. Dr. Harnischfeger erst vor wenigen Jahren wieder entdeckt und neu erschlossen.
In der Schweiz sind die Sammlungen von Carl Hartwich (1851 – 1917) an der ETH Zürich (Prof. Dr. Otto Sticher), von Alexander Tschirch in Bern (Prof. Dr. Franćois Lederman) und diejenige am Pharmazie-Historischen Museum in Basel (Dr. M. Kessler) bemerkenswert. In den Niederlanden hat die Universität Utrecht (Dr. Willem van der Sluis) ihre Sammlung in einem kleinen Museum ausgestellt.
Kastentext: Wer kennt weitere Sammlungen?
Die Referenten diskutierten ausgiebig, wie die Sammlungen konservatorisch und didaktisch zu betreuen sind. Insbesondere in Wien besteht die Möglichkeit, einzelne Drogen im Rahmen einer Diplomarbeit zu erforschen, wobei sowohl historische als auch analytische Aspekte zur Geltung kommen. Es gibt auch noch einige Objekte, deren Identität oder Anwendung nicht geklärt ist. Das Drogenmaterial ist in der Regel zu geringfügig, um es auswärtigen Forschern zur Verfügung zu stellen. Dagegen wird angestrebt, Daten der Inventarisierung auszutauschen. Um den Austausch zu erleichtern, werden zurzeit einheitliche Muster der Inventarisierung erarbeitet.
Die Veranstalter bitten alle Personen, die weitere pharmakognostische Sammlungen betreuen oder von deren Existenz wissen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, über: Prof. Dr. Christa Kletter, E-Mail: christa.kletter@univie.ac.at
Kastentext: Stichwort Ethnopharmakologie
Die International Society for Ethnopharmacology (ISE), die in Zürich ihren 6. Kongress abhielt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, in interdisziplinärer Arbeit Methoden der Pharmazeutischen Biologie und der Ethnographie zu verbinden. Die Feldforschung in den Tropen bildet dabei einen Schwerpunkt.
Die ISE postuliert eine enge Korrelation zwischen der Biodiversität und der kulturellen Vielfalt. Tatsächlich gehören bei brutalen Eingriffe in das Ökosystem sowohl die einheimischen Bewohner als auch die Tier- und Pflanzenwelt zu den Opfern.
Ethnopharmakologen ergründen auch die jeweiligen Medizinsysteme, in deren Kontext Arzneipflanzen angewandt werden. Ihre Forschungen haben Relevanz sowohl für die einheimische Bevölkerung als auch für die moderne Pharmaforschung. Einerseits geben sie Ratschläge, um traditionelle Zubereitungen zu optimieren, andererseits leisten sie wichtige Vorarbeiten für ein gezieltes Wirkstoff-Screening.
Randnotiz: Camel(l)ia
Die wissenschaftlichen Pflanzennamen sind für viele Zeitgenossen, die des Lateinischen nicht mächtig sind, eine Crux – pardon: ein Problem. So manchem ist nicht einmal die richtige Schreibweise der Pflanze, über die er forscht, geläufig. Ein krasses Beispiel auf dem Zürcher Kongress: "Camelia" für die Teepflanze. Nun, die Pflanze gehört zur selben botanischen Gattung wie die Kamelie, doch heißt diese Gattung lateinisch "Camellia". Dagegen ist "Camelia" der Name der ersten Damenbinde aus Zellstoff, die 1926 in Deutschland auf den Markt kam. Auch dieses Produkt hat etwas mit Kamelien zu tun, aber nur indirekt: Der Name bezieht sich auf die Kameliendame in dem gleichnamigen Roman von Andre Dumas, die ihren Freiern mit roten Kamelien "durch die Blume" sagte, wenn sie unpässlich war.
Man sollte also Camellia und Camelia auseinander halten, denn mit Menstruationshygiene hat grüner Tee, wenn er auch auf vielfältige Weise verwendet wird, nun wirklich nichts zu tun. W. Caesar
Kommentar: Take home message
Etwa 350 Poster wurden auf dem Kongress der Arzneipflanzenforscher in Zürich präsentiert. An drei Tagen hintereinander stand jeweils ein Drittel dieser Poster für jeweils zwei Stunden im Blickpunkt der Kongressteilnehmer. Das macht etwa 1 Minute pro Poster – viel zu wenig, um sich alles Sehenswerte auch gründlich anzusehen, aber doch Zeit genug, um sich mit etwa jedem zehnten Poster näher zu befassen. Dabei waren die Autoren, die auf alle möglichen Fragen Rede und Antwort standen, eine große Hilfe.
Der Umstand, dass bei weitem die meisten Poster in Deutschland, Österreich oder der Schweiz entstanden waren, erleichterte dem deutschsprachigen Besucher die Kommunikation und machte sie bisweilen zu einem intellektuellen Genuss. Die Autoren, meistens Doktoranden, waren nach persönlicher Ansprache allesamt in der Lage, das Thema, die Durchführung und die Ergebnisse ihrer Arbeiten plausibel zu erläutern und das Ganze auch auf den Punkt zu bringen – oder modern ausgedrückt: die take home message zu formulieren.
Angesichts der vielen überaus motivierten Doktoranden, die ich in Zürich erlebte, verstehe ich das Lamento der pharmazeutischen Industrie nicht, dass Deutschland (zurzeit immerhin Export-Weltmeister in der Pharmabranche) seinem alten Ruf als "Apotheke der Welt" nicht mehr gerecht werde und sich in diesem Wirtschaftszweig auf dem absteigenden Ast befinde.
Immerhin ist es erfreulich, dass sehr viele Vertreter der Industrie am Kongress teilgenommen haben und sich auch bei den Posters umgeschaut haben. Sicherlich haben sie erkannt, welches geistige Kapital ihnen (oder der Konkurrenz) aus den Universitäten zufließen könnte. Das dürfte nicht die unwichtigste take home message dieses bemerkenswerten Kongresses sein. W. Caesar
Mit Optimismus in das neue Jahrtausend blickten die Teilnehmer zweier internationaler Kongresse, die vom 3. bis 7. September in Zürich stattfanden. Unter dem Motto "Natural Products Research in the New Millenium" stellten Pharmazeutische Biologen und andere Naturstoffforscher aus aller Welt ihre Forschungen zu altbekannten und neuentdeckten biogenen Arzneistoffen vor.
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