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Apothekertag
K.G. Brauer, T. Müller-Bohn "Zurück in die Zukunft &nda
Zur Eröffnung erinnerte der Verbandsvorsitzende Dr. Gerhard Behnsen an die Aufbruchstimmung beim Fall der Mauer. Wenn dieser Schwung in die Zukunft mitgenommen werden könnte, brauchten sich die Apotheker vor den kommenden Jahrzehnten nicht zu fürchten. Kammerpräsident Wilhelm Soltau konstatierte dagegen eine wachsende Zukunftsangst in der Gesellschaft und abnehmendes Interesse für naturwissenschaftliche Themen in Schulen und Universitäten. Mit Blick auf Probleme wie Internet-Versandhandel und die Abgabe von Altarzneimitteln durch einen Arzt in Westfalen beklagte er einen wachsenden Werteverfall. Es sei zu fragen, was ein Gesetz noch wert sei, wenn die Exekutive es nicht durchsetzen könne.
Dürfen wir alles, was wir können?
Diese Sorge um gesellschaftliche Werte und die in vieler Hinsicht irritierenden Entwicklungen der modernen Naturwissenschaften, insbesondere der Gentechnik, fordern eine ethische Betrachtung. Der Vortrag von Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß, Konstanz, unter dem Titel "Ethik für eine Leonardo-Welt" bot Orientierungshilfen und bildete zugleich einen idealen Einstieg in die naturwissenschaftliche Thematik. Denn Mittelstraß, einer der bekanntesten Wissenschaftstheoretiker Deutschlands, beschränkt sich in seiner Arbeit nicht auf die wertfreie Analyse moderner Wissenschaftspraxis, sondern schreibt der Wissenschaftstheorie auch eine wichtige normative Funktion zu.
Für ihn ist die moderne Welt eine Welt der Wissenschaft und Technik. Naturbelassene Welten werden immer weniger, stattdessen entsteht eine vom Menschen beeinflusste "Kultur-Natur". So begegnet sich der Mensch in seinen eigenen Werken und wird vom Subjekt, das die Welt verändert, zu einem Objekt seiner eigenen "weltschaffenden Rationalitäten". Dies zeigt sich besonders eindringlich in der Gentechnik und der Psychopharmakologie, wo der Mensch seine eigene Natur verändern kann. Der wissenschaftliche Fortschritt "hat kein Maß in sich selbst". Seine Resultate vergrößern die Welt des Erforschbaren, sodass jede Problemlösung neue Fragen schafft. Ein Maß des Fortschritts - im Sinne einer Begrenzung - kann demnach nur ein bewusst gesetztes Maß sein, d. h. ein ethisches Maß, aber kein inneres Maß.
Doch wächst das Orientierungswissen, d. h. das Wissen um den Zweck, nicht mit dem Verfügungswissen um Ursachen und Mittel. Der Verlust an Orientierungswissen führt zu Selbstzweifeln und Anfälligkeit für Fundamentalismus. Daher sollte ein Ausgleich zwischen Orientierungs- und Verfügungswissen innerhalb der gegebenen naturwissenschaftlich-technischen Rationalitäten angestrebt werden. Dabei können sich aber die Wertvorstellungen den dynamischen Entwicklungen in der Gesellschaft nicht grundsätzlich entziehen, oder wie Mittelstraß fragt: "Warum rückwärts in die Zukunft gehen?" Außerdem gelte es, Widerstand gegen eine vorschnelle Identifikation von Wissen und Information zu leisten. Denn Wissen setzt Wissensbildung voraus, Information erfordert dagegen nur Vertrauen, sofern der Informationsgehalt nicht selbst geprüft werden kann.
Ethische Orientierung für die moderne Welt
Mittelstraß fordert, das Forschungsgebot durch ein Ethikgebot und ein Verantwortungsgebot zu ergänzen. Diese Verantwortung muss immer vom Einzelnen wahrgenommen werden. Es sei eine grundfalsche Vorstellung von Ethik, wenn stets eine einzige ethische Antwort auf jede künftige technologische Frage angenommen wird. Dies verwechsle Ethik mit einem Kochbuch.
Ethik ist immer eine "Bürgerethik", d. h. ein gemeinsamer Wert aller Bürger. Demnach gibt es keine besondere "Wissenschaftsethik", sondern nur eine "Ethik in der Wissenschaft". Doch tragen Wissenschaft und Technik besondere Verantwortung durch ihre Theoriekompetenz und die Unkontrollierbarkeit durch Nichtwissenschaftler. Diese Verantwortung werde durch Wissenschaft und Technik zunehmend wahrgenommen. Als Konsequenz aus diesen Ausführungen und Schlussthese seines Vortrages postulierte Mittelstraß, dass sich die vernünftige Natur des Menschen nur in der Selbstbestimmung verwirklichen kann. Doch ist mit dieser Subjektivität nicht eine Selbstverwirklichung im Sinne einer einfachen Bedürfnisbefriedigung gemeint. Vielmehr ist eine Selbstbestimmung gemeint, wie sie die griechischen Philosophen als "vernünftiges Leben" bezeichnet haben, oder mit Hegel: "Der freie Wille, der den freien Willen will."
Der lange Weg vom Genom zur Lebensfunktion
Am zweiten Tag der Veranstaltung führte der Vorsitzende der Scheele-Gesellschaft Priv.-Doz. Dr. Thomas Jira in die naturwissenschaftlichen Vorträge ein. Diese umfassten die verschiedensten Teilgebiete der Pharmazie und drückten damit die Vielfalt des Faches aus, das sich in vielen Bereichen inmitten bedeutsamer Innovationsprozesse befindet.
Die Erwartungen, was alles in absehbarer Zeit durch die Gentechnik möglich werden könnte, relativierte Prof. Dr. Hans-Hartwig Otto, Greifswald. Gerade bezüglich der Therapie der Zivilisationskrankheiten würden große Hoffnungen in die Gentechnik gesetzt, doch sei zu fragen, inwieweit diese Krankheiten überhaupt genetisch bedingt sind. Zudem ist das mittlerweile fast vollständig entschlüsselte Genom erst der Anfang einer sehr langen Kaskade bis hin zu den Lebensfunktionen oder Krankheiten, die beeinflusst werden sollen. Neben der gut erforschten Eizelle existieren etwa 200 verschiedene Zelltypen. Für jeden Typ muss das Transkriptom gefunden werden, d. h. der jeweils aktive Satz der Gene. Den nächsten Schritt bildet das Proteom. Dies sind die aktiven Proteine einer Zelle, die letztlich die Lebensfunktionen vermitteln. Um systematisch nach Einflussmöglichkeiten zu suchen, müssen diese Proteine in Struktur und Funktion aufgeklärt werden. Doch stellt das Proteom im Gegensatz zum konstanten Genom jeweils nur eine Momentaufnahme für die einzelne Zelle dar.
So produzieren die etwa 100 000 menschlichen Gene etwa 20 Millionen Proteine, von denen in einer Zelle meist ungefähr 10 000 Proteine aktiv sind, im Zeitverlauf aber immer wieder andere. Zudem stehen die Proteine untereinander in kaum bekannten und ungeheuer komplexen Wechselwirkungen. Über 90% der Proteine sind noch nicht aufgeklärt, und von 70% der aufgeklärten Proteine ist die Funktion unbekannt. Daher dürften Arzneimittelwirkungen in absehbarer Zeit kaum theoretisch aus diesen Zusammenhängen abzuleiten sein. Dagegen ist es bereits heute möglich, das Proteom einer Zellspezies zu isolieren und Zellen in der Gegenwart von Arzneimitteln wachsen zu lassen. So können Veränderungen im Proteom vor und nach Zugabe des potenziellen Arzneistoffes festgestellt werden.
Peptidomimetika als Arzneistoffe
Werden geeignete Targets identifiziert, bietet sich an, möglichst spezifische Enzyminhibitoren als Arzneistoffe einzusetzen. Dies sind in erster Linie selbst Peptide, doch können sie wegen der drohenden Hydrolysierung nur schlecht oral appliziert werden. Als Alternative eignen sich Peptidomimetika. Diese wirken an den spezifischen Bindungsstellen wie die jeweils strukturverwandten Peptide, werden aber aufgrund gezielter Modifikationen nicht hydrolysiert.
Ein klassisches Beispiel hierfür stellen Penicilline und Cephalosporine dar, deren wirksames Prinzip sich aus einer Verbindung von Valin und Cystein ableitet. Ein Beispiel für derzeitige Forschungen bilden Inhibitoren der Cysteinproteasen. Sie könnten neben vielen anderen Indikationen in Zukunft möglicherweise einen therapeutischen Durchbruch gegen den Schnupfen bieten. Nach vielen reversiblen Inhibitoren wurde kürzlich auch ein irreversibler Inhibitor von Cysteinproteasen gefunden. Weitere Beispiele bilden Hemmstoffe des Prostata-spezifischen Antigens und der humanen Leukozytenelastase. Letztere könnten die schädliche Wirkung des Rauchens auf das Lungengewebe verhindern.
Bei der Suche nach solchen Inhibitoren helfen Computermodelle, die den Angriff an der Zielstruktur überprüfen. So kann mit großer Zuverlässigkeit vorhergesagt werden kann, ob die Substanz in vitro wirkt. Doch kann die Anwendung in vivo zu ganz anderen Effekten führen, die aus den noch immer unüberschaubaren Wechselwirkungen des komplexen biologischen Systems resultieren. Trotz dieser Schwierigkeiten sieht Otto in Peptiden und Peptidomimetika die bevorzugten Arzneistoffe der Zukunft, da sie durch ihre Selektivität überzeugen.
Mit Magnetismus zu neuen bildgebenden Verfahren
Mit dem Thema Magnetismus stellte Prof. Dr. Werner Weitschies, Greifswald, ein pharmazeutisches Gebiet ganz anderer Art vor. Im Rahmen der bildgebenden medizinischen Verfahren wird die Magnetresonanztomographie primär zur morphologischen Diagnostik und in geringerem Umfang zur Funktionsdiagnostik eingesetzt. Möglicherweise wird sie in Zukunft eine größere Bedeutung für die molekulare Diagnostik gewinnen.
Zu den magnetischen Diagnoseverfahren gehört auch der Einsatz von Ferrofluiden. Dies sind kolloidale Lösungen magnetischer Nanopartikel, die sich wie eine magnetische Flüssigkeit verhalten. Nach Applikation einer solchen Flüssigkeit werden die magnetischen Partikel phagozytiert. So sind die Hauptaufenthaltsorte der Monozyten-Makrophagen, insbesondere Leber, Milz, Lunge und Lymphknoten, mit bildgebenden Verfahren darstellbar. Doch werden die Magnetpartikel nicht in Tumorgewebe transportiert, das sich damit in dem Organ als Kontrast abzeichnet.
Magnetische Verfahren versprechen auch die Lösung eines grundlegenden Problems vieler bildgebender Verfahren, die auf der Anreicherung eines Kontrastmittels beruhen. Diese Darstellung erfordert ein Konzentrationsgefälle. Dafür muss die Substanz aus dem Kreislauf weitgehend ausgeschleust, an der Zielstruktur aber noch in größerer Konzentration gebunden sein. Die Darstellung ist nur in einem Zeitfenster möglich, das durch die Pharmakokinetik des Kontrastmittels bestimmt wird. Eine Alternative bietet die Magnetrelaxometrie. Sie beruht auf der unterschiedlichen Relaxation der magnetischen Eigenschaften gebundener und ungebundener Partikel.
Was mit einer Kapsel im Menschen passiert
Eine sehr praxisorientierte Anwendung stellen Untersuchungen mit magnetisierten Arzneiformen dar. So lässt sich eine Kapsel als magnetischer Dipol bei der Passage durch den Körper sehr genau verfolgen, wobei sogar die Ausrichtung zu erkennen ist. Weitschies führte eindrucksvolle Aufnahmen solcher Versuche vor, aus denen sich praxisorientierte Einnahmehinweise ableiten lassen. So zeigen Schluckexperimente, dass Kapseln hauptsächlich durch die Schwerkraft und erst am Ende des Schluckvorganges durch den Ösophagusdruck in den Magen befördert werden. Sie erreichen meist innerhalb von 5 Sekunden den Magen. Der Anteil von Kapseln, die lange in der Speiseröhre kleben bleiben, hängt stark von der Trinkmenge und der Körperhaltung ab. Sie lassen sich auch durch Nachtrinken kaum noch herunterspülen und sind allenfalls durch das Essen einer kleinen Menge Brot in den Magen zu bekommen. Im Liegen blieben sogar mit Flüssigkeitsmengen von 100 ml noch 18% der Kapseln stecken. Daher ist dringend zu empfehlen, feste Arzneiformen in wenigstens 45 Grad angewinkelter Position und mit mindestens 60 ml Flüssigkeit einzunehmen. Die Verweildauer im Magen hängt sehr stark von der Nahrungsaufnahme ab. Doch die anschließende Duodenalpassage nach dem Auswurf aus dem Magen dauert zumeist nur einige Sekunden bis zu wenigen Minuten. Nach Einschätzung von Weitschies kann diese Zeit nicht ausreichen, magensaftresistente Überzüge aufzulösen. Das Duodenum spielt demnach als Resorptionsort nicht die Rolle, die ihm weithin zugeschrieben wird.
Vielmehr findet ein großer Teil der Resorption im Jejunum statt. Dort wechseln sich Phasen von Ruhe und Bewegung schnell ab. Die etwa 3 m lange Strecke wird in etwa 3 +/- 1 Stunden passiert, was für die Resorption der meisten Arzneistoffe ausreichen dürfte. Doch bei schlecht bioverfügbaren oder carrierabhängig resorbierten Arzneistoffen kann sich dies als kritisch erweisen. Bei der anschließenden Dickdarmpassage wechseln lange Ruhezeiten mit wenigen sehr schnellen Bewegungen ab.
Aus diesen Erfahrungen leitete Weitschies die folgenden Empfehlungen für die Arzneimitteleinnahme ab, die teilweise in Beipackzetteln (noch) nicht berücksichtigt werden:
- Magensaftresistente Arzneiformen sollen nie mit oder nach dem Essen, sondern stets mindestens eine Stunde vor dem Essen eingenommen werden. Eine Ausnahme bilden Pankreasenzyme in Pelletform.
- Retardarzneimittel sollten immer zu den Mahlzeiten genommen werden, damit die Magenfüllung den Retardeffekt weiter verstärkt.
- Für weitere Empfehlungen sind die pharmakologischen Wirkungen und die Chronopharmakologie der jeweiligen Arzneistoffe, unabhängig von der Arzneiform, zu beachten.
Ozeane als riesiges Arzneistoffreservoir
Für Prof. Dr. Gabriele König, Bonn, geht die Faszination der ganzen Pharmazie vom biologischen Kontext aus. Die Mittel der Chemie dienen dazu, in biologische Vorgänge einzugreifen. Dieses grundlegende Prinzip jeder Arzneistoffanwendung findet sich auch in der Natur selbst. Fast alle Organismen produzieren irgendwelche Wirkstoffe, sodass die Natur eine Fülle von Arzneistoffen bereit hält.
In den traditionellen Quellen der Naturstoffforschung werden immer wieder bekannte Strukturen gefunden. Daher bieten sich als neue noch weitgehend unerforschte Quellen die marinen Organismen an, zumal diese eine sehr große Strukturdiversität aufweisen. Viele biologische Taxa kommen ausschließlich in den Meeren vor, sodass hier ganz neue, an Land nicht auffindbare Stoffe zu erwarten sind. Doch ist von den etwa 10 000 bekannten Stoffen aus marinen Organismen bisher noch keiner als Arzneistoff im Handel.
Die Vielfalt der Arten bietet enorme Chancen, erschwert aber zugleich die Suche. Neben dem systematischen Screening bietet sich daher die gezielte Suche nach ökologischen Nischen an. Unter dem Selektionsdruck außergewöhnlicher Lebensbedingungen können besonders gut wirksame Substanzen entstanden sein. Ein Beispiel für eine ökologische Nische bilden Organismen in Wattengewässern, die bei Niedrigwasser unmittelbar dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Aus solchen Organismen konnte eine neue Klasse von UV-filternden Substanzen isoliert werden.
Neue Therapieprinzipien
Ein weiteres Beispiel bildet die in australischen Gewässern vorkommende Rotalge Delisea pulchra, deren Oberfläche keinen Bewuchs und keinen bakteriellen Film aufweist. Hierfür dürften halogenierte Furanone verantwortlich sein, die in hoher Konzentration in der Rotalge vorkommen und die in die Kommunikationsmechanismen von Bakterien eingreifen. Diese Substanzen können die Bildung bakterieller Filme auf Transplantaten oder medizinischen Geräten verhindern, die durch Sterilisationsmaßnahmen schwer zu beeinflussen sind.
Noch interessanter erscheint der mögliche Einsatz in der Lunge, insbesondere bei Mukoviszidose oder Infektionen mit Problemkeimen. Dies könnte eine ganz neue Art der Therapie von Infektionskrankheiten einleiten. Denn die Bakterien werden nicht getötet, vielmehr werden ihre Pathogenitätsfaktoren gehemmt. Demnach wären erheblich geringere Resistenzen zu erwarten.
Daneben werden viele Substanzen aus marinen Organismen als mögliche Antitumorwirkstoffe erforscht. Beispiele bilden Ecteinascidin-743 und Bryostatin 1. Letzteres wirkt über die Proteinkinase C und greift damit in den Signaltransduktionsweg der Tumorzellen ein. Es könnte Dosisreduktionen in der Zytostatikatherapie ermöglichen.
Der vermutliche erste zugelassene Arzneistoff aus einem marinen Organismus dürfte aber eher aus der Kegelschnecke Conus magus stammen. Diese Schnecken töten ihre Beute mit Giftpfeilen. Das Gift enthält etwa 100 Peptide, die selektiv auf bestimmte Subtypen von Ionenkanälen wirken und den Beutefisch in kürzester Zeit paralysieren. Ein Omega-Conotoxin mit 25 Aminosäuren wird als Zellprotektivum für Schlaganfallpatienten erforscht, befindet sich aber auch in einer Phase-III-Studie als Analgetikum. Es wirkt 10 000fach stärker als Morphin, muss aber intrathekal appliziert werden. Dies könnte bei Patienten mit schwersten Schmerzen über intrathekal implantierte Pumpen ermöglicht werden.
Große Selektivität bringt neue Chancen
Neben dem Einsatz als potenzielle Arzneistoffe können Naturstoffe auch zu Fortschritten in der Theorie führen. Das Beispiel der Peptide im Gift der Kegelschnecke veranschaulicht die oft enorme Selektivität der Naturstoffe. Daraufhin eignen sie sich zum Auffinden und Charakterisieren von Rezeptoren. So können neue Mechanismen für die Arzneistoffwirkung gefunden werden, was dann auch neue Möglichkeiten für die Arzneistoffsynthese bietet. Die Erkenntnis über die Wirkung eines Naturstoffes ist dann bedeutsamer als der Einsatz des Stoffes selbst.
Doch neben diesen vielen Chancen birgt die Erforschung mariner Organismen auch besondere Schwierigkeiten im Vergleich zu terrestrischem Material. So sind die Proben oft sehr schwer zu sammeln oder nur in geringer Menge vorhanden. Die oft unklare Taxonomie erschwert das Sammeln reproduzierbarer Proben. Auch bei identischen Arten können die Sekundärstoffe in qualitativer und quantitativer Hinsicht sehr erheblich variieren.
Teilweise ist nicht einmal klar, welche Organismen den Wirkstoff produzieren. Denn sehr viele marine Organismen bilden symbiontische Lebensformen. Möglicherweise werden viele interessante Wirkstoffe von Mikroorganismen gebildet, die auf einem Wirtsorganismus keineswegs immer und überall in gleicher Weise anzutreffen sind. Da die Biosynthesewege zumeist unbekannt sind, lässt sich nur schwer bestimmen, aus welchem Organismus ein Wirkstoff stammen kann. Auch die biotechnologischen Verfahren zur Kultivierung sind noch kaum erforscht.
Trotz dieser Probleme betrachtet König die Meere als wichtige Quelle für viele aussichtsreiche Arzneistoffe der Zukunft.
Gentechnisch hergestellte Arzneistoffe
Zurück zum Schlagwort Gentechnik führte Prof. Dr. Theo Dingermann, Frankfurt/M., der einen Überblick über die bereits heute verfügbaren gentechnisch hergestellten Arzneimittel gab. Diese sind definitionsgemäß immer Proteine bzw. Peptide. Bemerkenswerterweise enthält die Definition der DNA-rekombinationstechnisch hergestellten Produkte im Arzneibuch einen Hinweis auf die Extraktions- und Reinigungsschritte des Herstellungsverfahrens. Damit wird der Herstellungsprozess zu einer begriffsbestimmenden Eigenschaft des Produktes. Dies stellt in der Tradition der Definitionen des Arzneibuches eine grundlegende Neuerung dar, die den vielfältigen Verfahrensproblemen und Verunreinigungsmöglichkeiten gentechnisch hergestellter Produkte Rechnung trägt.
Als Konsequenz müssen auch chemisch und therapeutisch identische Produkte mit unterschiedlichen Herstellungsverfahren komplett eigenständige Zulassungsverfahren durchlaufen. Ein Beispiel hierfür bilden die vier zugelassenen gentechnisch hergestellten Humaninsuline unterschiedlicher Hersteller.
Bisher sind in Deutschland fast 60 verschiedene gentechnisch hergestellte Peptide in über 60 Handelspräparaten zugelassen, mehr als in jedem anderen Land der Welt.
Zur Herstellung dient fast immer eine der vier optimal erforschten Zelllinien. Als prokaryontische Zellen sind dies Escherichia coli oder Saccharomyces cerevisiae. Als Eukaryonten-Zellen kommen die CHO-Zellen (chinese hamster ovary) und die BHK-Zellen (baby hamster kidney) zum Einsatz. Die Prokaryonten können nur die genetische Information umsetzen. Posttranslationale Vorgänge wie eine komplexe Glykosylierung gelingen dagegen nur in den Eukaryonten erfolgreich. Glykosylierte Proteine lassen sich daher nur in eukaryontischen Zellen naturidentisch erzeugen.
Vielfältige Anwendungsgebiete
Als Beispiele für gentechnisch hergestellte Arzneistoffe nannte Dingermann u. a. Insuline, Hypophysen-Hormone, Fibrinolytika, Gerinnungsfaktoren, Wachstumsfaktoren, Epoetin alfa, Imiglucerase gegen die Gaucher-Krankheit Typ I und DNAse. Letztere wird bei Kindern mit zystischer Fibrose eingesetzt. Der zähe Schleim, der bei dieser Krankheit in den Atemwegen entsteht, wird durch DNA verursacht. Diese wird aus zerstörten Makrophagen freigesetzt, die die Bakterien in diesem Schleim angreifen. Die topisch eingesetzte DNAse spaltet die DNA und macht damit den Schleim dünnflüssig. Dies stellt eine reine symptomatische, aber sehr wirksame Therapie dar.
Eine Besonderheit bilden die Hirudin-Analoga, die als einzige gentechnisch hergestellte Arzneimittel nicht humane genetische Information, sondern solche aus dem Blutegel nutzen. Eine weitere wichtige Gruppe gentechnisch gewonnener Arzneistoffe bilden Zytokine. Sie wirken im Gegensatz zu den Hormonen physiologischerweise autokrin oder parakrin, d. h. über sehr geringe Distanzen innerhalb einer Zelle oder auf unmittelbar benachbarte Zellen. Daher kann der systemische Einsatz leicht zur Überdosierung führen.
Zu den Zytokinen gehört Interferon alfa, das zunächst nur für extrem seltene Indikationen verwendet wurde. In erheblich geringerer Dosierung wird es inzwischen gegen die chronische Hepatitis C als neue Indikation eingesetzt. Es dient hierbei als gut verträgliche Dauertherapie.
Interferon beta stellt mittlerweile eine Konsensus-Therapie der Multiplen Sklerose dar und bewährt sich besonders als Dauertherapie gut. Die Präparate Avonex und Rebif stammen aus CHO-Zellen und sind glykosyliert, d. h. humanidentisch. Betaferon wird dagegen von E. coli produziert und ist daher nicht glykosyliert. Dies werde teilweise als Kritikpunkt gegenüber dem Präparat hervorgebracht, doch verwies Dingermann auf aussagekräftige Untersuchungen, die alle verfügbaren Interferon-beta-Präparate als gut wirksam und in akzeptablen Grenzen verträglich ausweisen.
Eine besonders große therapeutische Bedeutung erwartet Dingermann künftig von den Antikörpern, da sie sehr wirksam und dabei gut verträglich sind. Schon heute sind zahlreiche Antikörper als Arzneimittel verfügbar, z. B. Infliximab gegen Morbus Crohn und Trastuzumab gegen bestimmte Formen des Mammakarzinoms. Es werden zunehmend "humanisierte" Antikörper eingesetzt, die möglichst wenig genetische Information aus der Maus und möglichst viel humane Information tragen. Dies soll die Verträglichkeit verbessern.
Moderne Insulintherapie
Obwohl einerseits die Authentizität der gentechnisch hergestellten Arzneistoffe gegenüber den physiologischen Substanzen sehr wichtig erscheint, bieten sich andererseits in manchen Fällen gezielte Abwandlungen an. So werden mit Insulin lispro und Insulin aspart besonders schnell wirksame und mit Insulin glargin ein besonders langsam wirksames Insulin-Derivat angeboten. Dabei wird die Aminosäurensequenz des Humaninsulins geringfügig verändert. So werden beim Insulin glargin zwei Aminosäuren angehängt, was den isoelektrischen Punkt verschiebt. Es ist bei pH 7,2 löslich und muss daher nicht als Kristallsuspension eingesetzt werden. Nach der Injektion fällt es dagegen aus und bildet ein Depot.
Pharmazeutische Betreuung: Chance für Apotheker und Patienten
Nach den vielen neuen Arzneistoffen, die den Arzneimittelmarkt in Zukunft prägen werden, stellte Dr. Martin Schulz, Eschborn, ein Zukunftsprojekt der Apotheker vor, die Pharmazeutische Betreuung. Er berichtete insbesondere über die Studie zur Pharmazeutischen Betreuung bei Asthma in Hamburg.
Die Betreuungstätigkeit hat das Wissen, die Fertigkeiten und den Umgang der Patienten mit ihren Arzneimitteln verbessert. Der Asthmaschweregrad wurde nach harten Kriterien von Ärzten und Patienten sechs und zwölf Monate nach Beginn der Betreuung besser als zu Beginn eingeschätzt. Auch die Lebensqualität, gemessen mit dem international anerkannten Fragebogen SF-36 und dem asthmaspezifischen FLA, wurde klinisch relevant verbessert.
Insgesamt konnte die Studie deutlich zeigen, dass die Pharmazeutische Betreuung effektiv ist. Aufgrund des Studienkonzeptes und -umfanges lassen sich jedoch keine Aussagen zur ökonomischen Effizienz ableiten. Dazu soll künftig ein Folgeprojekt dienen, das sich auf Zentren in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und den Raum Trier konzentrieren wird, aber prinzipiell für alle geschulten Apotheker(innen) offen ist. Doch hängt die Durchführung noch von der Beteiligung der Krankenkassen ab, ohne deren Daten die relevanten ökonomischen Fragestellungen nicht zu untersuchen sind.
Während im Rahmen von Studien die Ergebnisqualität gezielt erhoben werden kann und muss, ist dies im praktischen Alltag nicht zu leisten. Daher kann in der täglichen Praxis nur ein Qualitätsmanagementsystem die nötige Struktur- und Prozessqualität sicherstellen, die letztlich das Vertrauen in die Ergebnisqualität rechtfertigen.
Als grundlegende inhaltliche Voraussetzungen für die Umsetzung der Pharmazeutischen Betreuung verwies Schulz auf zertifizierte Schulungen und die EDV-Unterstützung zur Basisbetreuung. Diese ermöglicht es, Patientenmerkmale und Medikationsdaten zu erfassen und Medikationsprofile zu erstellen. Die halbautomatisierte Nutzung des CAVE-Moduls liefert dann die wichtigsten Informationen als Grundlage für das Patientengespräch.
Weitere Schritte der Pharmazeutischen Betreuung sind die Anleitung zum Selbstmonitoring und die Dokumentation aller Medikationsdaten und Interventionen. Nur so ist eine kontinuierliche Betreuung mit regelmäßiger Erfolgskontrolle zu gewährleisten und die Leistung auch nachzuweisen. tmb
Kastentext: Das Wichtigste in Kürze
- Das Genom enthält genetische Information, die tatsächlichen Lebensfunktionen werden aber durch das Proteom bestimmt.
- Viele künftige Arzneistoffe werden Peptidomimetika sein, die sich durch große Selektivität auszeichnen.
- Orale Arzneiformen sollen in mindestens 45 Grad angewinkelter Position mit mindestens 60 ml Flüssigkeit eingenommen werden.
- Magensaftresistente Arzneiformen sollen mindestens eine Stunde vor dem Essen genommen werden.
- Retardarzneimittel sollen mit dem Essen genommen werden.
- Marine Organismen halten eine Vielzahl von Wirkstoffen bereit, die an Land nicht anzutreffen sind, und könnten in Zukunft neuartige Therapieprinzipien ermöglichen.
- Die Eigenschaften gentechnisch hergestellter Arzneimittel werden wesentlich durch den Herstellungsprozess bestimmt.
- Die Pharmazeutische Betreuung ist effektiv. Ihre Umsetzung sollte sich auf die automatisierte Basisbetreuung stützen.
Die Apothekerinnen und Apotheker in Mecklenburg-Vorpommern verbanden nach bewährter Tradition ihren Apothekertag mit der Scheele-Tagung. Während es beim Apothekertag hauptsächlich um das Thema Pharmakoökonomie ging, erörterten die wissenschaftlichen Vorträge der Scheele-Tagung die Arzneimittelgewinnung mithilfe der Gentechnik, Arzneistoff-Ressourcen aus dem Meer, Diagnoseverfahren mit neuen Kontrastmitteln, neue Erkenntnisse zu altbekannten Arzneiformen und Aspekte der Pharmazeutischen Betreuung.
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