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Fortbildung
T. Müller-BohnTherapeutische Herausforderungen der
Rückblick und Vorausschau
Aus Anlass des Jubiläums unternahm Prof. Dr. Wolfram Hänsel, Kiel, im ersten Vortrag einen Rückblick auf die Arzneistoffentwicklung der zurückliegenden 25 Jahre, verbunden mit einer Vorausschau auf die sich abzeichnenden Zukunftstrends. Er betonte den wichtigen Unterschied zwischen einer Chemikalie, deren Eigenschaften aus dem Molekül selbst zu beschreiben sind, und einem arzneilichen Wirkstoff, dessen Effekt sich erst intermolekular aus der Wechselwirkung mit einem Organismus ergibt.
Die Entwicklung von Wirkstoffen sei im ausgehenden 20. Jahrhundert unter dem Einfluss der Contergan-Katastrophe langsamer geworden, da die Sicherheitsprüfung viel Zeit benötige. Zur Beschleunigung dient mittlerweile die kombinatorische Chemie, mit der sich schnell ganze Substanzbibliotheken erzeugen lassen. Diese divergente Synthese vieler Substanzen bildet einen Gegensatz zur klassischen konvergenten Synthese einzelner Substanzen. Um die vielen neuen Stoffe zu testen, ist ein Hochdurchsatz-Screening erforderlich.
Als wesentliche Zukunftstechnologien für die Arzneistoffentwicklung seien Computer und die Gentechnik anzusehen. Computer ermöglichen eine gezielte Modellierung von Wirkstoffen anhand der biologischen Zielstruktur, sofern diese bekannt ist. Doch sei dies keinesfalls immer erfolgreich. Angesichts des gesellschaftlichen Diskurses über die Gentechnik sollten die bereits erzielten Durchbrüche auf diesem Gebiet gewürdigt werden. Hierzu gehöre das gentechnisch hergestellte Insulin, das die Versorgung von der Zahl der verfügbaren Schlachttiere unabhängig macht, und das Beta-Interferon, das erstmals eine Hilfe gegen Multiple Sklerose biete.
Wege und Irrwege der Arzneistoffentwicklung
Hänsel erinnerte an diverse etablierte Arzneistoffe, die erst in den zurückliegenden 30 Jahren eingeführt wurden, aber auch an inzwischen obsolete Arzneistoffe und erfolglose Neuentwicklungen. Als wichtige Neuerungen der Gegenwart nannte er monoklonale Antikörper, Protease-Hemmstoffe, Interferone und Acetylcholinesterase-Inhibitoren.
Als Beispiel für die Renaissance eines alten Wirkprinzips sei Metformin zu nennen. Dies wurde zunächst durch Glibenclamid und andere Antidiabetika vom Sulfonamid-Typ verdrängt, die die Insulin-Freisetzung erhöhen. Doch mittlerweile werde wieder verstärkt versucht, die Insulin-Verwertung zu verbessern, insbesondere durch die neuen Glitazone. Ein ähnlicher Strategiewechsel sei in der Ulkus-Therapie vollzogen worden. Diese hatte lange Zeit nur an der Säureproduktion angesetzt, doch ergibt sich nun mit der Eradikation des Helicobacter pylori ein ganz neues Ziel.
Beim Johanniskraut seien zum Wirkprinzip und zum wirksamen Inhaltsstoff im Laufe der langen Anwendung viele Thesen entwickelt worden. In der frühen volkstümlichen Anwendung sei es für die verschiedensten Zwecke und keineswegs nur zur Stimmungsaufhellung eingesetzt worden. Inzwischen gelte Hyperforin als entscheidender Wirkstoff, doch sei noch fraglich, ob dies die Wiederaufnahme von Serotonin oder auch von vielen anderen Transmittern hemmt.
Doch auch der Wirksamkeitsnachweis chemisch definierter Antidepressiva sei wegen des großen Plazebo-Effektes sehr schwer. Dann würden nur die aussagekräftigen Studien zur Zulassung eingereicht. Wenn aber bei der Bewertung stets die schlechten Ergebnisse weggelassen würden, sei die Astrologie eine Wissenschaft, umschrieb Hänsel die Problematik. Angesichts der vielen noch offenen Fragen stünde die Arzneistoffentwicklung für die Zukunft in einem Spannungsfeld zwischen der Rückkehr der Seuchen und dem Versprechen dauerhafter Gesundheit durch die Gentechnik.
Kognitiver Verfall durch Alzheimer
Aus den vielen Aspekten der Arzneistoffentwicklung hatte Prof. Ziegler die Alzheimer-Forschung als weiteres Thema für den Jubiläumskongress ausgewählt, da die demografische Entwicklung hier zu besonderen Herausforderungen führen dürfte. Dr. Karsten Witt, Kiel, stellte den Forschungsstand zu dieser häufigsten neurodegenerativen Erkrankung des ZNS dar. Die Inzidenz beträgt 5% im 65. Lebensjahr und verdoppelt sich jeweils für alle weiteren fünf Lebensjahre. Morbus Alzheimer führt zu einem stetigen Abfall der kognitiven Leistung, die für wissenschaftliche Zwecke zumeist mit der Mini-Mental-State-Examination (MMSE) gemessen wird.
Wesentlich für die Pathogenese sind senile Plaques, die nicht proteolytisch abgebaut werden können. Doch sind die Ursachen für deren Entstehung noch nicht sicher geklärt. Allerdings sind genetische Variationen bekannt, die zu einem deutlich erhöhten Risiko für die Erkrankung führen.
Beim Morbus Alzheimer leiden nicht alle kognitiven Funktionen gleichermaßen. So wird insbesondere die Wiedererkennung gestört, aber nicht das motorische Lernen oder die Ausbildung von Gewohnheiten. Diese Funktionen können möglicherweise gezielt genutzt werden, um Ausfälle in anderen Gebieten teilweise zu kompensieren.
Die Amyloidplaques betreffen vorwiegend cholinerge Neuronen, was die Symptome im cholinergen System erklärt. Doch daneben sinkt bei der Alzheimer-Erkrankung die Dichte nicotinerger Neuronen erheblich stärker ab, als dies einer normalen Alterung entspricht. An diesen Zielstrukturen setzen die meisten der bisher versuchten Therapiestrategien an.
Arzneimittel gegen Alzheimer
Vorstufen des Acetylcholins wie Lecithin oder Cholin haben sich in der Therapie als nicht erfolgreich erwiesen. Doch sind Acetylcholinesterase-Inhibitoren wirksam. Pyridostigimin ist aufgrund seiner peripheren Effekte nicht akzeptabel, doch das 1995 eingeführte Tacrin brachte erstmals eine signifikante Abschwächung der Krankheitsprogression. Das neuere Donepezil wirkt noch spezifischer. Außerdem wird Rivastigmin eingesetzt. Weitere Substanzen mit diesem Wirkprinzip werden erprobt.
Nicotin als nicotinerger Agonist hat sich nicht als erfolgreich erwiesen. ACE-Hemmer wirken unabhängig von ihrem blutdrucksenkenden Effekt indirekt cholinomimetisch, was einen neuen Therapieansatz darstellen könnte. Memantin als nicht-kompetitiver NMDA-Rezeptorantagonist hat sich in einer Studie mit fortgeschrittenem Alzheimer als positiv erwiesen. Studien mit entzündungshemmenden oder immunmodulatorischen Konzepten seien dagegen enttäuschend verlaufen, obwohl Rheumapatienten nach langer Einnahme nichtsteroidaler Antirheumatika vergleichsweise seltener an Alzheimer erkranken.
Obwohl oxidativer Stress als eine der Ursachen der Alzheimer-Entstehung gilt, haben antioxidative Substanzen nur geringe positive Wirkungen gezeigt. Kontrovers wird die Östrogensubstitution wegen der möglichen Krebsauslösung diskutiert. Gegen die psychiatrischen Symptome werden wie bei anderen Patienten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder Neuroleptika eingesetzt.
Doch alle bisherigen Therapieansätze wirken nur symptomatisch und können allenfalls die Krankheitsprogression aufhalten, aber das Geschehen nicht umkehren. Beachtlich sind dagegen die Erfolge, die mit einer aktiven Immunisierung gegen das Beta-Amyloid bei Mäusen erzielt wurden. Bei transgenen Mäusen, die ohne Behandlung sicher an Alzheimer erkranken würden, ist nach der Immunisierung die Krankheit nicht ausgebrochen. Das Beta-Amyloid wurde phagozytiert, bevor es sich zu nicht abbaubaren Aggregaten zusammenlagern konnte. Möglicherweise eröffnen diese Erkenntnisse neue Möglichkeiten.
Bedeutung der Geriatrie
Weit über die Alzheimer-Erkrankung hinaus wird durch den wachsenden Anteil alter Menschen an der Bevölkerung die Geriatrie immer bedeutsamer. Die Problemfelder und die besonderen pharmakotherapeutischen Aspekte dieses Fachgebietes stellte Priv.-Doz. Dr. Dr. Claus Köppel, Berlin, dar. Wer geriatrischer Patient ist, ist eine Frage des biologischen, aber nicht des kalendarischen Alters. Es sind gesunde Alte, akut erkrankte geriatrische Patienten und pflegebedürftige geriatrische Patienten zu unterscheiden. In geriatrischen Einrichtungen sollen erkrankte Alte möglichst so weit therapiert werden, dass sie wieder in ihre Wohnung zurückkehren können und nicht pflegebedürftig werden.
In der Beurteilung der Therapie werden der Lebenszufriedenheit und Lebensqualität zunehmend höhere Bedeutung gegenüber der Lebensdauer zugemessen. Dabei ist das Fremd-Rating durch Außenstehende, die einen Zustand beurteilen, von der eigenen Beurteilung der Betroffenen zu unterscheiden. Nach Erfahrung von Köppel sei erstaunlich, mit wie wenig Lebensqualität viele geriatrische Patienten zufrieden seien. Meist bestehe nur der Wunsch, dass der Zustand nicht schlechter werde.
Die Messung der alltagsrelevanten Fähigkeiten, das geriatrische Assessment, findet in Deutschland sehr regelmäßig statt, da die Geriatrie gegenüber den Kostenträgern stets ihre Existenzberechtigung nachweisen müsse. So stehe ein aussagekräftiges Qualitätssicherungsinstrument zur Verfügung.
Doch andererseits gebe es für die Geriatrie nur sehr wenige qualitätsgesicherte Aussagen über die Therapie nach den Maßstäben der Evidence Based Medicine. Denn die meisten klinischen Studien schließen alte Patienten aus. Auch multimorbide Patienten nehmen meist nicht an Studien teil, doch sind gerade für sie Therapien gefragt. Besonders problematisch ist die Teilnahme nicht-einwilligungsfähiger Patienten an Studien, was zu entsprechenden Erkenntnisdefiziten über Hochbetagte und Demenzkranke führt.
Hauptprobleme alter Patienten
Die Demenz wird als Problem oft erst erkennbar, wenn Alte aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden. Dies wirkt wie eine Demaskierung, da vorher viele Tätigkeiten als Gewohnheiten ablaufen. Ein weiteres typisches Problem ist die Inkontinenz, die zu schlechter Compliance bei Diuretika führen kann. Weitere Probleme sind Immobilität und Osteoporose, die sich gegenseitig verstärken können, und häufige Stürze. Fast 90% der geriatrischen Patienten haben zu hohen arteriellen Blutdruck. Dies bilde mit Diabetes mellitus eine "verheerende Kombination", deren Sterblichkeitsrisiko mit bösartigen Tumoren verglichen werden kann. Daher sollte gerade hier auf eine sorgfältige Prävention geachtet werden, insbesondere auf die Diätcompliance.
Auch die zahnmedizinische Versorgung geriatrischer Patienten sei oft sehr schlecht, doch bilde die Kaufähigkeit eine wichtige Voraussetzung für die Gesundheit. Eine Investition in zahnmedizinische Leistungen verspreche daher mittelfristig erhebliche Einsparungen an anderer Stelle.
Geriatrische Pharmakotherapie
Die Pharmakotherapie alter Patienten sollte die beeinträchtigte Resorption berücksichtigen, die durch geringere Säureproduktion im Magen, verminderte Resorptionsfläche und Darmmotilität bedingt ist. Außerdem sinken der Wasseranteil des Körpers und die Plasmaalbuminkonzentration im Alter ab. Über altersabhängige Besonderheiten in der Pharmakodynamik lägen nur wenige gesicherte Erkenntnisse vor.
Antidepressiva haben eine besondere Bedeutung für Schlaganfall-Patienten. Oft können diese nur durch eine antidepressive Therapie für Rehabilitationsmaßnahmen gewonnen werden. So lasse sich die Krankenhausliegezeit verkürzen, was angesichts des bestehenden Kostendrucks große Bedeutung habe. Nach ersten Erfolgen kann sich diese Medikation erübrigen. Köppel setzt hierfür moderne Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder das altbekannte Lofepramin in niedriger Dosis ein.
Neuroleptika führen teilweise bei geriatrischen Patienten zu paradoxen Effekten. Bei Benzodiazepinen ist die erhöhte Sturzneigung zu bedenken. Die Therapie der Parkinson-Krankheit sollte sehr sorgfältig erfolgen und neuere Substanzen einbeziehen, da jede Verbesserung der Beweglichkeit entscheidend sein könne, um die Pflegebedürftigkeit zu verhindern. Digitalisglykoside können nicht die Lebenserwartung, aber die Lebensqualität verbessern. Bei Überdosierung oder Flüssigkeitsmangel seien allerdings Verwirrtheitszustände möglich.
Die Wirkung von Testosteron und DHEA sei umstritten, doch werde die Gefahr, damit ein Prostata-Karzinom auszulösen, viel zu wenig beachtet. Antioxidanzien seien prophylaktisch empfehlenswert, kämen aber als Therapie zu spät. Substanzen, die als Lifestyle-Arzneimittel bezeichnet werden, seien für typische Patienten in geriatrischen Einrichtungen irrelevant, da sie deren Probleme nicht tangieren.
Was ist Evidence Based Medicine?
Eine weitere wichtige Neuentwicklung für die Medizin und das gesamte Gesundheitswesen stellt die Evidence Based Medicine (EBM) dar. Diese ist auch für Apotheker interessant, da sie auch die Pharmakotherapie betrifft. Nach Einschätzung von Prof. Ziegler werde sie in Zukunft gebraucht, vielleicht sogar missbraucht, um die Arzneitherapie zu regulieren und in Leitlinien festzuschreiben. Daher sei auch nach den Grenzen der EBM zu fragen.
Als besonders engagierter deutscher EBM-Experte gilt Prof. Dr. Dr. Hans-Heinrich Raspe, Lübeck, der das Konzept vorstellte. Er charakterisierte die EBM als "Bewegung aus der Klinik für die Klinik" und betonte damit ihren Praxisanspruch. Die EBM geht von der Behandlung einzelner Patienten aus und ist von der Evidence Based Health Care abzugrenzen, die sich mit ganzen Gesundheitssystemen befasst.
Ausgangspunkt der EBM sei die Unsicherheit über die angemessene Therapie für einen einzelnen Patienten. Zunächst müssten klinisch relevante und beantwortbare Fragen formuliert werden. Dabei seien geeignet ausgewählte Suchbegriffe entscheidend für den folgenden Schritt, die systematische Suche nach anscheinend relevanter Literatur. Als Datenbasis biete sich hierzu insbesondere die Cochrane Library an, die nach den Kriterien der EBM erstellt und aktualisiert wird. Sie ist auch auf CD-ROM erhältlich.
Den dritten Schritt bildet das "critical appraisal", d. h. die kritische Auswahl der im Einzelfall tatsächlich relevanten Literatur. Dabei sind doppelblind gestaltete, randomisierte und plazebokontrollierte Studien zu bevorzugen. Als relevant für den fraglichen Einzelfall gelten Studien, die für das Problem "typische" Patienten einschließen und angemessene Outcomes messen. Um die Angemessenheit von Studien für den Einzelfall bewerten zu können, sei Urteilskraft nötig. Die EBM sei keinesfalls ein "Automat", sondern erfordere Nachdenken, und gerade das mache Spaß. Doch könne der Arzt seine Entscheidungen nicht aus der rein persönlichen Kenntnis treffen, sondern müsse sie aus den Ergebnissen systematischer evaluativer Forschung ableiten. Allerdings sei der beschriebene Ablauf zur Suche nach der relevanten Evidenz in der Praxis oft nicht zu leisten. Dafür sollten nach diesem Verfahren Leitlinien erstellt werden, die dann ebenso kritisch zu lesen sind.
Probleme und Grenzen der EBM
Als spezielles Problem der EBM in Deutschland beschrieb Raspe den Mangel an klinisch-evaluativer Forschung im Vergleich zu den Ländern mit angelsächsischer Forschungstradition wie Großbritannien, den Niederlanden und Skandinavien. Demgegenüber werde in Deutschland viel über Wirkungsmechanismen geforscht. Doch ist die EBM eine Handlungs- und keine Erklärungswissenschaft. Die EBM fragt nur nach der geeigneten Therapie, aber nicht nach dem Wirkungsmechanismus. So würden auch alternative Therapieverfahren nicht abgelehnt, weil ihre Wirkung nicht zu erklären sei, sondern sie könnten vorurteilsfrei geprüft werden.
Ein grundsätzliches Problem bilde das Ausblenden nicht-medizinischer Therapieformen, wie z. B. Diät oder Beendigung des Rauchens, in der vergleichenden Bewertung in vielen Studien. Außerdem müsse stets kritisch mit den Ergebnisdaten umgegangen werden, da durch geschickte Wahl der Darstellung geringe Effekte "aufgeblasen" werden könnten. Beispielsweise erscheint eine Therapie bei gleicher relativer Risikoreduktion in einem Hochrisikokollektiv besonders wirksam, weil dort eine vergleichsweise größere absolute Risikoreduktion resultiert.
Die EBM zielt allein auf Zweckrationalität, lässt die Wertrationalität aber unbeachtet. So bleibt offen, ob eine bestimmte Risikoreduktion als viel oder wenig bzw. finanziell angemessen oder nicht anzusehen ist. Diese Diskussion müsse nun geführt werden, da im deutschen Sozialrecht sowohl die EBM als auch eine "humane Krankenbehandlung" vorgeschrieben sind.
Psychische Komponenten der Therapie
Doch neben der Zweckrationalität bei der Auswahl der Mittel sind auch psychische Komponenten für den Erfolg einer Therapie unabdingbar, wie Prof. Dr. Hubert Speidel, Kiel, erläuterte. Die Tätigkeit in der Apotheke erklärte er über drei Modelle. Aus Sicht der angewandten Sozialphilosophie sind die niedrige Zugangsschwelle und das kaufmännische und soziale Verhalten des Apothekers kennzeichnend. Die Pharmazeuten selbst sehen ihre Kernidentität in der angewandten Naturwissenschaft, die auf die Heilung oder Linderung der Krankheit gerichtet ist. Die Ausbildung widmet sich nur diesem Aspekt. Die dritte Perspektive bildet die Beziehungsebene aus dem Blickwinkel der Psychotherapie. Auch dies ist für die Wirksamkeit der Therapie wichtig.
Kranke Menschen regredieren häufig auf ein kindliches Verhaltensniveau, da sie auf Hilfe angewiesen sind oder dies zumindest so empfinden. So wie Kinder bei ihren Eltern Sicherheit finden, folgten Patienten dem Rat des Arztes, was einen psychobiologisch sinnvollen Ablauf darstelle. Dies widerspreche allerdings dem Konzept des "mündigen Patienten".
Gute Ärzte nutzen diesen Effekt. Wenn Ärzte dies vernachlässigen, oder auch in der Selbstmedikation biete sich eine Chance für Apotheker zum Aufbau einer solchen Beziehung. So könne die genaue Erklärung von Einnahmemodalitäten und ein Gespräch über den Sinn der Therapie vor dem Hintergrund möglicher Nebenwirkungen die Compliance erheblich verbessern und damit den Wirkungsgrad der ärztlichen Tätigkeit erhöhen.
Die häufigste Ursache für geringe Compliance sei eine schlechte Arzt-Patienten-Beziehung. Erstaunlicherweise korreliere die Compliance nicht mit der Schwere der Krankheit und sei gerade bei schweren Erkrankungen oft erschreckend schlecht, weil die Patienten damit gegen ihre Erkrankung protestieren.
Als besonders empfänglich für psychotherapeutische Maßnahmen beschrieb Speidel die Patienten mit Erkrankungen, bei denen verhältnismäßig große Plazebo-Effekte erzielt werden. Dies gelte beispielsweise für Asthma und Angstkrankheiten. Erstaunlicherweise zeigen Patienten mit guter Compliance zumeist sogar dann bessere therapeutische Ergebnisse, wenn sie Plazebos anwenden.
Als Fazit aus den vielfältigen psychotherapeutischen Effekten auf die Therapie rät Speidel der Apothekerschaft, diese Thematik in das Studium zu integrieren. Apotheker sollten sich nicht auf ihre naturwissenschaftliche Expertenposition zurückziehen. Stattdessen sollten sie Beziehungen zu den Patienten aufbauen und die Apotheke als psychosoziale Institution betrachten. Dies diene auch der Zufriedenheit der Apotheker mit ihrem Beruf.
Kollidieren Therapie und Ökonomie?
Angesichts der vielen Anforderungen an eine wirkungsvolle Therapie ist auch zu fragen, ob therapeutische und wirtschaftliche Interessen miteinander kollidieren. Dem ging Pater Dr. Albert Ziegler, Zürich, aus ethischer Perspektive nach. Eine langfristige ökonomische Betrachtung muss nach seiner Einschätzung auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sein. Außerdem dürfe eine nachhaltige therapeutische Betrachtung die Ökonomie nicht ausschließen. So müssten Ökonomie und Therapie langfristig nicht kollidieren. Es gebe allenfalls eine Spannung zwischen beiden Aspekten.
Das Gesundheitswesen müsse verantwortbare Ziele, Wege und Mittel festlegen. Ein verantwortbares Ziel sei, ein hohes biologisches Alter ohne künstliches Sterben zu erreichen. Maßnahmen zur Sterbensverlängerung seien ebenso abzulehnen wie zur Lebensverkürzung. Aus ökonomischer Sicht sei zu bedenken, dass die letzten Lebensjahre die teuersten sind.
Die Menschen sollten vor, während und nach der Krankheit nötige Maßnahmen ergreifen, aber unnötige und unwirtschaftliche Maßnahmen unterlassen und aus den sinnvollen die finanzierbaren Maßnahmen auswählen. Daher sollten auch die Kosten in Studien über therapeutische Maßnahmen einbezogen werden. Jeder sei erstrangig selbst für seine Gesundheit verantwortlich und sollte sich dementsprechend verhalten. Subsidiär könne dann die Gemeinschaft in Anspruch genommen werden. So sei es beispielsweise in der Schweiz schon lange selbstverständlich, dass die zahnmedizinische Versorgung selbst zu bezahlen ist, da der Bedarf wesentlich von der Zahnpflege abhängt. Doch in Deutschland würde eine solche Regelung als Problem angesehen.
Zur Verantwortlichkeit gehörten auch eine rücksichtsvolle Gesundheitspolitik und ein umfassender Gesundheitsbegriff, der beispielsweise auch auf die Landwirtschaft wirkt. Dort sollte eine verantwortliche Tierhaltung auf gesunden Böden betrieben werden. Ob Gesundheitsleistungen teuer sind, stelle eine politische Wertung dar. Die Kosten sollten beispielsweise mit den Ausgaben für Reisen, Alkohol oder Tabak verglichen werden. Daher sollte nicht vorschnell vom teuren Gesundheitswesen gesprochen werden. Vielmehr sei zu fragen, was der Gesellschaft bzw. den Menschen die Gesundheit wert ist.
Außerdem gelte es, die Anspruchshaltung zu senken und die "Vollkaskomentalität" abzuschaffen. Auch unabhängig von ökonomischen Aspekten könne Rationierung notwendig werden. Doch sei dies nicht negativ, sondern sogar positiv zu sehen. Denn es bedeute, dass jeder seine nötige Ration bekomme und keine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehe. Die Rationierung müsse nur gerecht vorgenommen werden.
An die Beschäftigten im Gesundheitswesen und speziell die Apotheker appellierte Pater Ziegler, sie müssten die Menschen gern haben, so wie sie sind. Sie sollten die Probleme aus der Sicht der Kunden sehen. Nur dies führe zu den richtigen Lösungen. Apotheker und Ärzte seien die berufenen Treuhänder der Gesundheit und sollten dies auch gesellschaftspolitisch zum Ausdruck bringen. Dieses Terrain sollten sie keinesfalls den Grünen überlassen.
Wissenschaft oder Esoterik?
Auf der Grundlage dieser Vorträge befasste sich eine Podiumsdiskussion mit der Abgrenzung zwischen naturwissenschaftlich begründeter Pharmazie und alternativen oder esoterischen Konzepten. Unter der Moderation von Prof. Dr. Dr. Andreas Kappos, Hamburg, diskutierten die Referenten beider Veranstaltungstage und Dr. Gregor Huesmann, Marburg.
Kappos fragte, ob die Apotheken sich esoterischen Strömungen entziehen könnten, wenn doch sogar viele schulmedizinische Therapien nicht nach Kriterien der EBM überprüft sind. Auch sei fraglich, ob eine scharfe Unterscheidung überhaupt möglich ist. Raspe führte aus Sicht der EBM nur die Zweckmäßigkeit als Auswahlkriterium an, die auch für alternative Therapien im Rahmen von Programmevaluationen getestet werden könne. Hänsel betonte, dass gerade die meisten alternativen Therapierichtungen die Erfahrungen aus dem Handlungswissen und nicht das Erklärungswissen für sich in Anspruch nehmen. Daher sei das Ergebnis kontrollierter Studien mit Spannung zu erwarten.
Speidel erklärte das große Interesse an alternativen Therapien mit dem Bedürfnis nach Spiritualität. Wer dies in der Kirche nicht befriedigt sehe, wende sich an Heilpraktiker. Köppel verwies auf die haftungsrechtlichen Probleme alternativer Verfahren. Manche Patienten hielten diese für den Therapiestandard. Doch müssten sie stets über mögliche Risiken aufgeklärt werden. Anderenfalls drohen Haftungsprozesse, falls sich nach einiger Zeit mögliche Spätfolgen irgendeines alternativen Verfahrens herausstellen.
Psychosoziale Unterstützung durch Plazebos?
Huesmann machte deutlich, dass fast jeder schwerkranke Patient irgendwann über alternative Therapien nachdenke, wenn auch oft hinter dem Rücken des Arztes. Dies sei daher speziell in der Apotheke ein wichtiges Problem. Apotheken sollten sich als psychosoziale Auffangstationen anbieten und ggf. auch Plazebos als "Katalysator" für eine psychotherapeutische Maßnahme einsetzen. Solange diese keine hohen Kosten verursachen und die Apotheker bewusst auf den Patienten eingehen, sei dies auch ein lauteres Vorgehen. Nach Ansicht von Witt ist dieser Erfolg jedoch nur auf Gesprächsebene zu erzielen und erfordere keine Plazebos.
Nach Auffassung von Professor Ziegler ist es unlauter, wenn Arzneimittelhersteller für Phytopharmaka Wirkungsmechanismen wie bei synthetischen Arzneimitteln postulieren, dann aber behaupten, die diesbezüglichen Nebenwirkungen würden hier nicht auftreten. Auch wenn solche Phytopharmaka nach EBM-Kriterien wirksam sein mögen, dürfe hinsichtlich des Wirkungsmechanismus nicht so argumentiert werden.
Speidel rief zu mehr Toleranz gegenüber Außenseitermethoden auf. Er sei früher auch für die Psychotherapie belächelt worden, die heute anerkannt werde. Je randständiger ein Verfahren sei, umso wichtiger sei dabei die Überzeugung. So könne beispielsweise die Anthroposophie als Glaubensrichtung angesehen werden, die möglicherweise gerade ihren Anhängern helfe.
Kappos resümierte, dass ein gewisses Maß an "Zaubermedizin" wohl immer akzeptiert werden müsse. Doch sollten die Patienten vor Täuschung, finanziellem Ruin und gesundheitlichen Schäden bewahrt werden.
Kastentext: Das Wichtigste in Kürze
- Die moderne Arzneistoffentwicklung wird geprägt durch Wirkstoffdesign am Computer, Methoden der Gentechnik und Substanzbibliotheken, die im Hochdurchsatz-Screening getestet werden.
- Morbus Alzheimer ist die häufigste neurodegenerative Erkrankung des ZNS und führt zu fortgesetztem kognitivem Verfall. Kennzeichnend sind proteolytisch nicht abbaubare Amyloidplaques, doch bleiben die Ursachen für ihre Entstehung unklar.
- Die Therapie des Morbus Alzheimer ist bisher nur symptomatisch, aber nicht kausal möglich. So lässt sich die Krankheitsprogression nur verzögern. Im Tierversuch erscheint eine aktive Immunisierung vielversprechend.
- Über die Therapie geriatrischer Patienten sind kaum evidenzgestützte Aussagen möglich, weil gerade diese Patienten von den meisten Studien ausgeschlossen werden.
- Nach Schlaganfällen eröffnen Antidepressiva den Weg zu Rehabilitationsmaßnahmen.
- Beim Einsatz von Testosteron oder DHEA sollte die Gefahr der Auslösung eines Prostata-Karzinoms bedacht werden.
- Die Evidence Based Medicine ist auf die praktische Arbeit an individuellen Patienten ausgerichtet. Sie führt nicht zu automatischen Antworten, sondern erfordert stets Urteilskraft und enthält Abwägungsschritte.
- Die Evidence Based Medicine zielt allein auf Zweckrationalität und prüft alle Therapieansätze vorurteilsfrei.
- Die Apotheke kann als psychosoziale Anlaufstelle die Compliance der Patienten deutlich verbessern und zur Gesundung beitragen, wenn auf die psychischen Bedürfnisse der Patienten eingegangen wird.
- Ökonomie und Therapie kollidieren bei nachhaltiger Betrachtung nicht. Das Gesundheitswesen sollte verantwortliche Ziele, Mittel und Wege festlegen. Dazu gehört die Stärkung der Eigenverantwortung ebenso wie die Verantwortlichkeit der Gesellschaft.
- Die Apotheke kann sich alternativen Therapien nicht verschließen, muss die Patienten aber vor Täuschung, finanziellem Ruin und gesundheitlichen Schäden bewahren.
Der 25. Frühjahrskongress der Apothekerkammer Schleswig-Holstein in Timmendorfer Strand bot eine Mischung aus Rückblick und Vorausschau. Das Spektrum reichte von Strategien der Arzneistoffentwicklung über geriatrische Pharmakotherapie und Evidence Based Medicine bis zur Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Esoterik.
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