Medizin

M. Schubert-Zsilavecz, K. NemecDas Reizdarmsyndrom -

Die Kombination verschiedener Symptome des unteren Gastrointestinaltrakts wird heute, wenn sich keine organische Ursache feststellen lässt, als "Reizdarmsyndrom (RDS)" oder "Irritable Bowel Syndrom (IBS)" bezeichnet. Das Reizdarmsyndrom ist die wahrscheinlich häufigste funktionelle Störung des Gastrointestinaltrakts. Es kann alle Abschnitte des Darms betreffen - nicht nur das Kolon, wie die alte Bezeichnung Colon irritabile vermuten lässt - und darüber hinaus auch in anderen Organen Beschwerden hervorrufen.

Definitionen

Das Reizdarmsyndrom beschäftigt die Medizin seit nunmehr mehr als hundert Jahren. 1892 wurde die Erkrankung von Osler erstmals beschrieben und "Mucous Colitis" genannt. 1967 wurde von DeLor der bis heute gültige Begriff "Irritable Bowel Syndrome" eingeführt. DeLor bezeichnete damit eine funktionelle, nicht auf das Kolon beschränkte Enteropathie, die charakterisiert ist durch abdominelle Schmerzen, Diarrhö, Obstipation, andere Defäkationsstörungen und Schleimabgang.

Im Rahmen eines Expertentreffens in Rom 1988 wurden neue Diagnose- und Klassifizierungskriterien für funktionelle gastrointestinale Syndrome entworfen. Diese wurden ständig weiterentwickelt und erstmals 1992 als Rom-I-Kriterien, 1999 als Rom-II-Kriterien veröffentlicht [1]. Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) hat 1999 als Ergebnis einer Konsensuskonferenz einen Bericht zum Reizdarmsyndrom publiziert. Hier findet sich eine moderne Definition des Reizdarmsyndroms.

Kastentext: Das Reizdarmsyndrom (RDS)

Das Reizdarmsyndrom ist eine funktionelle Magen-Darm-Erkrankung und ist gekennzeichnet durch eine charakteristische Symptomatik bei fehlendem Nachweis biochemischer oder struktureller Normabweichungen unter Verwendung routinemäßig verfügbarer Untersuchungsverfahren.

Kastentext: Rom-II-Kriterien des Reizdarmsyndroms

  • Hauptsymptome Abdominelle Schmerzen oder abdominelles Unwohlsein über mindestens 12 Wochen im vergangenen Jahr begleitet von zwei der folgenden drei Kriterien:

    • Erleichterung beim Stuhlgang und/oder
    • Beschwerdebeginn begleitet von Veränderungen der Stuhlfrequenz und/oder
    • Beschwerdebeginn begleitet von Veränderungen der Stuhlkonsistenz Unterstützende Symptome
    • Weniger als 3x Stuhlgang/Woche
    • Mehr als 3x Stuhlgang/Tag
    • Stuhl hart oder klumpig
    • Stuhl lose oder wässrig
    • Pressen beim Stuhlgang
    • Stuhldrang
    • Gefühl der inkompletten Entleerung
    • Schleimabgang
    • Aufgetriebenes Abdomen, Blähungen

  • DGVS-Kriterien des Reizdarmsyndroms

    • Abdominale Schmerzen oft in Beziehung zur Defäkation (meist Erleichterung durch Defäkation)
    • Veränderung der Defäkation in mindestens 2 der folgenden Aspekte Frequenz, Konsistenz (hart, breiig, wässrig, Veränderung konstant oder wechselhaft), Passage mühsam, gesteigerter Stuhldrang, Gefühl der inkompletten Entleerung, Schleimabgang
    • Gefühl der abdominellen Distension und/oder Blähungen zählen zu den am häufigsten auftretenden und am schlechtesten untersuchten Symptomen

    Symptomatik

    Unter einem Reizdarmsyndrom wird heute eine Erkrankung verstanden, die charakterisiert ist durch abdominelle Schmerzen und Stuhlunregelmäßigkeiten. Diese Symptome gehen gelegentlich mit einem Gefühl des Geblähtseins und mit Meteorismus einher. Die Zusammensetzung des Beschwerdebildes aus den einzelnen Symptomen kann variieren. Die Beschwerden werden von den Patienten als mittelschwer bis schwer empfunden. Sie treten chronisch-rezidivierend oder chronisch-persistierend auf.

    Bei den Betroffenen kann es zu einer erheblichen und anhaltenden Einschränkung der Lebensqualität führen. Das RDS lässt sich in Subtypen unterteilen. Aufgrund der jeweils vorherrschenden Symptomatik lassen sich die meisten Patienten entsprechend der neuen Rom-II-Klassifizierung einer Untergruppe zuordnen:

    • Diarrhö-Typ oder
    • Obstipation-Typ.

    Kastentext: Funktionelle Syndrome des Gastrointestinaltrakts

    • Ösophagusstörungen
    • gastroduodenale Störungen (funktionelle Dyspepsie)
    • Darmstörungen (Reizdarmsyndrom)
    • funktionelle abdominale Beschwerden
    • Gallenwegsstörungen
    • anorektale Störungen

    Kastentext: Begleitbeschwerden beim Reizdarmsyndrom

    • Dyspeptische Symptome - Sodbrennen, nichtsaures Aufstoßen - Übelkeit und Erbrechen - frühe Sättigung, postprandiales Völlegefühl
    • Extraintestinale Beschwerden - Kopfschmerzen - affektive Störungen (Depressionen, Angststörungen) - Schlafstörungen, Müdigkeit - Menstruationsbeschwerden, Dyspareunie - Miktionsbeschwerden - Rückenschmerzen - funktionelle Herzbeschwerden

    Diagnostik

    Die Diagnose erfolgt aufgrund des speziellen Symptommusters und des gezielten Ausschlusses relevanter Differenzialdiagnosen. Sie gilt erst dann als abgesichert, wenn andere Erkrankungen ausgeschlossen worden sind. Dies erfordert verschiedene Basisuntersuchungen, die größtenteils vom Hausarzt durchgeführt werden können. So empfiehlt sich zum Beispiel die rektale Austastung, um ein Rektumkarzinom nicht zu übersehen.

    Unverzichtbare Laborparameter sind: Blutbild, Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG), C-reaktives Protein, Urinstatus und Stuhluntersuchung auf okkultes Blut. Werden vorwiegend Diarrhöen beklagt, so müssen außerdem Elektrolyte, Leber- und Pankreasenzyme, das TSH und der Blutzucker bestimmt werden. Außerdem ist die bakteriologische Untersuchung des Stuhls auf pathogene Erreger empfehlenswert.

    Eine wichtige, im Alltag häufig übersehene Differenzialdiagnose ist die Lactoseintoleranz, die sehr viel häufiger ist als vermutet. Diese Malabsorption kann mittels eines Atemtests nachgewiesen werden, einfacher jedoch durch Dokumentation des Blutzuckerverlaufs nach Lactosegabe.

    Zur Basisdiagnostik gehört auch die abdominelle Sonographie. Bezüglich einer hohen Koloskopie wird ein differenziertes Vorgehen allgemein empfohlen: Unverzichtbar ist sie bei Patienten jenseits des 40. Lebensjahres und bei positiver Familienanamnese für ein kolorektales Karzinom. Wichtig ist es, auf entsprechende Alarmsymptome zu achten. Zu diesen gehören u.a. Gewichtsverlust, nächtliches Aufwachen wegen Abdominalschmerzen, Fieber oder BSG-Beschleunigung. Solche Befunde machen das Vorliegen eines Reizdarmsyndroms eher unwahrscheinlich.

    Die Diagnose eines Reizdarmsyndroms ist dann gerechtfertigt, wenn mindestens während der letzten zwölf Wochen abdominelle Schmerzen und sonstige Beschwerden in Zusammenhang mit Darmpassage und Stuhlgang aufgetreten sind. Zusätzliche Kriterien sind die Veränderungen der Stuhlfrequenz und/oder -konsistenz im Sinne von Obstipation oder Diarrhöen.

    Das Reizdarmsyndrom betrifft in großer Zahl Menschen im mittleren Lebensalter. Ungefähr 40% der Patienten sind zwischen 35 und 50 Jahre alt. Bei der Hälfte zeigen sich die ersten Symptome vor dem 35. Lebensjahr. Nicht Wenige berichten über einen Beginn der Erkrankung in der Kindheit. Ein Erkrankungsbeginn nach dem 60. Lebensjahr ist selten. Beim Reizdarmsyndrom im Alter muss immer eine organische Ursache ausgeschlossen werden.

    Die Unterteilung des Reizdarmsyndroms nach Subtypen - wobei das Symptom Schmerz nahezu immer vorhanden ist - ist vor allem für die Auswahl der Therapie und Arzneimittel von Bedeutung, da es sich um ein pathogenetisch nicht einheitliches Krankheitsgeschehen handelt. Bezüglich des Stuhlverhaltens ist das Bild sehr uneinheitlich: Ca. 30% der Patienten klagen über Diarrhö, rund 30% über Obstipation. Bei weiteren 30% finden sich Diarrhöen und Obstipation im Wechsel; beim Rest steht nur der Schmerz im Vordergrund der Beschwerden; Diarrhö und Obstipation sind hier ohne Bedeutung.

    Das Reizdarmsyndrom ist ein chronisches Leiden, das zu verminderter Lebensqualität und bei vielen Patienten auch zu Arbeitsausfällen führt. Endoskopische, radiologische oder Laboruntersuchungen zeigen keinerlei Veränderungen, und es existieren keine pathophysiologischen Marker. Um die Erkrankung von einer Befindlichkeitsstörung abzugrenzen, müssen die Beschwerden mittelschwer bis schwer sein, längerfristig rezidivieren oder chronisch persistieren, meist unabhängig von äußeren Faktoren auftreten und die Lebensqualität anhaltend beeinträchtigen. Neben den genannten charakteristischen Symptomen des Reizdarmsyndroms leiden viele Patienten auch unter funktionellen Beschwerden außerhalb des Gastrointestinaltrakts.

    Kastentext: Ursachen von rezidivierenden abdominellen Beschwerden

    • Diätetische Faktoren: Coffein, Alkohol, Fett, blähende Speisen, Süßstoffe
    • Malabsorption, z. B. Lactoseintoleranz
    • Darminfektion
    • Chronisch entzündliche Darmerkrankungen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa
    • Psychiatrische Krankheitsbilder: Depression, Angst, Paniksyndrome
    • Seltene Ursachen wie endokrine Tumoren, Endometriose oder HIV-Infektion
    • Kolonkarzinom
    • Reizdarmsyndrom

    Epidemiologie und Pharmakoökonomie

    Die Wichtigkeit einer genauen Definition des Reizdarmsyndroms wird deutlich, wenn man die Prävalenzangaben in der Literatur betrachtet. Je nach Definition finden sich Prävalenzen zwischen 5 und 25% einer Bevölkerung, wobei nur etwa 10 bis 20% der betroffenen Patienten einen Arzt aufsuchen [2]. Diese Zahlen wiederum beeinflussen die Daten der Medizin- und Pharmakoökonomie und machen exakte Berechnungen der Kosten für diese Erkrankung unmöglich.

    Bei circa 50% der Patienten zeigen sich die Symptome erstmals vor dem 35. Lebensjahr, bei vielen reichen die Anfänge auch bis in die Kindheit zurück. Etwa 40% der Patienten sind zwischen 35 und 50 Jahre alt, nach dem 60. Lebensjahr nimmt die Prävalenz ab. Das Verhältnis weiblicher zu männlichen Personen, die unter Reizdarmbeschwerden leiden ohne einen Arzt aufzusuchen, liegt bei 2:1, bei Patienten, die sich in ärztliche Behandlung begeben, sogar bei 3-5:1, wobei bei Frauen Obstipation, das Spannungsgefühl im Oberbauch und Symptome außerhalb des Magen-Darm-Trakts - vor allem im Urogenitalbereich - im Vordergrund stehen.

    Pathogenese

    Wie die typischen Beschwerden des Reizdarmsyndroms entstehen, ist noch nicht umfassend geklärt. Es sind verschiedene pathogenetische Faktoren und Mechanismen in der Diskussion. Offen ist die Frage, ob sich die interindividuell unterschiedlichen klinischen Bilder des Reizdarmsyndroms aufgrund unterschiedlicher Pathomechanismen entwickeln. Von zentraler Bedeutung dürfte das ENS (enterisches Nervensystem) und seine Beziehung zum ZNS sein. Als ENS wird das neuronale Netzwerk bezeichnet, das sich in den Wänden von Speiseröhre, Magen und Darm befindet und Verdauungsvorgänge semi-autonom reguliert.

    Kastentext: Mögliche Ursachen des Reizdarmsyndroms

    • Motilitätsstörungen
    • Darminfektionen
    • Stress und psychische Faktoren
    • Ernährungsfaktoren
    • viszerale Überempfindlichkeit

    Motilitätsstörungen

    Jahrzehntelang als Ursache des Reizdarmsyndroms betrachtet, wurde die veränderte Motilität im Gastrointestinaltrakt wohl am genauesten untersucht, obwohl sie keine Erklärung für die auftretenden Schmerzen bietet. Ergebnis dieser Untersuchungen ist die Erkenntnis, dass es keine spezifische Motilitätsstörung gibt, die für das Reizdarmsyndrom charakteristisch ist.

    Darminfektionen

    Bei vielen Patienten ist eine vorangegangene bakterielle Darminfektion (zum Beispiel durch Salmonellen oder Campylobacter) als Auslöser der Erkrankung in Betracht zu ziehen, wobei die Symptome der Infektion weiterbestehen können, auch wenn kein Erregernachweis mehr möglich ist. Die genaue Ursache hierfür und warum nicht alle Patienten nach einer Darminfektion ein Reizdarmsyndrom entwickeln, ist noch unklar [3, 4].

    Stress, psychische Faktoren und geschlechtsspezifische Unterschiede

    Stress, egal welcher Genese, kann die Symptome des Reizdarms verschlimmern oder neuerlich auslösen, wird jedoch nicht als Ursache für dessen Entstehung betrachtet. Viele Patienten - Schätzungen nennen Zahlen bis zu 50% - zeigen psychopathologische Auffälligkeiten wie Depressionen und Angsterkrankungen, die möglicherweise eine Folge, nicht aber die Ursache des Reizdarmsyndroms darstellen. Eine psychische Prädisposition zur Entwicklung der Erkrankung ist denkbar, psychosoziale Probleme oder Schwierigkeiten sind aber nicht Teil der Krankheitsdefinition.

    Der Zusammenhang zwischen psychiatrischen Störungen und Reizdarmsyndrom ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und Studien. Über den Einfluss sexuellen Missbrauchs auf das Entstehen oder die Verschlimmerung einer funktionellen gastrointestinalen Störung gibt es mehrere Arbeiten [5, 6, 7], in einer neuen Studie mit wenigen Probandinnen wurde erstmals untersucht, ob bei Frauen mit diagnostiziertem Reizdarmsyndrom eine Verbindung zwischen der Erkrankung und emotionalem Missbrauch sowie psychosozialer Konstrukte wie Schuldgefühlen besteht[1].

    Als Kontrollgruppe dienten Frauen mit entzündlichen Darmerkrankungen. Es zeigte sich ein signifikant stärkeres Auftreten von emotionalem Missbrauch und Schuldgefühlen bei Frauen mit Reizdarmsyndrom als bei den Patientinnen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Breitere Untersuchungen in diesem Zusammenhang stehen allerdings noch aus [8].

    Eine der Theorien über die höhere Prävalenz weiblicher Reizdarmpatienten geht davon aus, dass die von der Gesellschaft erwartete Geschlechterrolle der Frau bei vielen Patienten eine mögliche Ursache für das Entstehen des Reizdarmsyndroms darstellt. In der Arbeit von Toner und Akman [9] kommen die Autoren zu dem Schluss, dass man nicht nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern suchen sollte, vielmehr sollten die psychologischen Gemeinsamkeiten männlicher und weiblicher Reizdarmpatienten untersucht werden.

    Nach Ansicht der Autoren zeichnen sich sowohl weibliche wie männliche Reizdarmpatienten durch typische, von der Gesellschaft als "feminin" definierte Charakteristika aus, wozu gehört, immer für andere da zu sein und eigene Bedürfnisse zu leugnen oder hintanzustellen. Können diese Ansprüche nicht erfüllt werden, stellen sich Schuldgefühle ein.

    Bevor allerdings endgültige Aussagen über Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der Geschlechter getroffen werden können, müssen zukünftige Studien über das Reizdarmsyndrom mehr männliche Patienten einschließen und sowohl Fragen nach physiologischen als auch psychologischen und psychosozialen Gesichtspunkten beinhalten.

    Ernährungsfaktoren und Lactasemangel

    Ernährungsfaktoren können die Symptome beeinflussen, die Mechanismen hierfür sind noch unklar. Da Lactasemangel ähnliche Beschwerden wie das Reizdarmsyndrom hervorruft, ist eine mögliche Lactoseintoleranz vor Diagnosestellung auszuschließen. Beim Lactasemangel gelangt Lactose - anstatt im Dünndarm gespalten zu werden - in den Dickdarm, wo es aufgrund der erhöhten Osmolarität zu Diarrhö und aufgrund der bakteriellen Fermentierung zu Blähungen und krampfartigen Bauchschmerzen kommt. Ein gleichzeitiges Vorliegen von Lactasemangel und Reizdarmsyndrom ist möglich, wenn bei Ausschluss von Lactose die Symptome bestehen bleiben.

    Viszerale Hyperalgesie

    Da sich mit den beim Reizdarmsyndrom vorhandenen Motilitätsstörungen die Schmerzen kaum erklären ließen, richtete sich in den letzten Dekaden das Augenmerk auf die viszerale Sensibilität. Patienten mit Reizdarmsyndrom reagieren bereits mit Schmerzen auf Dehnungsreize im Darm, die von anderen Personen noch nicht als schmerzhaft empfunden werden. Die Reizschwelle ist erniedrigt. Viszerale Überempfindlichkeit ist ein neuro-enterisches Phänomen, das unabhängig von abnormer Motilität oder psychologischen Beeinträchtigungen auftritt und nicht nur Dick- und Dünndarm, sondern auch Magen und Speiseröhre betrifft.

    Die Kenntnis der physiologischen und pathophysiologischen Vorgänge hat, von den Beziehungen zwischen ENS und ZNS bis hinab auf Überträgersubstanz- und Rezeptorenebene, stetig zugenommen. Seit dem Beginn der 80er-Jahre wird deshalb die Erklärung des Reizdarmsyndroms auf einer Gehirn-Darm-Achse gesucht. Die Funktion der afferenten spinalen Neuronen und die zentrale Verarbeitung der viszeralen Reize kann - zum Beispiel durch Verstärkung spinaler Nozizeptoren nach Entzündungen oder Verletzungen - derart verändert sein, dass es zu einer Überempfindlichkeit aller an der Reizweiterleitung beteiligten Teile des Nervensystems kommt [10].

    Die erhöhte synaptische Aktivität nach Irritation der afferenten Fasern dürfte zu einer Veränderung der Erregbarkeit der Projektionsneuronen im Dorsalhorn führen. Lässt die periphere Irritation nach, kann dennoch ein "Schmerzgedächtnis" zurückbleiben. Diese Überempfindlichkeit, an deren Entstehung und Aufrechterhaltung Überträgersubstanzen wie Serotonin eine wichtige Rolle spielen, kann jahrelang bestehen bleiben. Die Veränderungen in der Weiterleitung und Verarbeitung viszeraler Informationen würde auch das bei Reizdarmpatienten oft charakteristische Auftreten von Symptomen in anderen Organen des Bauchraums wie dem Urogenitaltrakt erklären [11, 12].

    Es scheint, als gebe es auch ein unterschiedliches Schmerzempfinden und eine unterschiedliche Schmerzverarbeitung der Geschlechter. Frauen klagen häufiger über persistierende, episodenhafte oder chronische viszerale oder muskulo-skeletale Schmerzen, besonders im Abdomen- oder Beckenbereich. Viele Patientinnen berichten über eine Verschlechterung der Symptomatik während der Menstruation, die Diagnose RDS wird bei Patientinnen mit Dysmenorrhö dreimal häufiger gestellt als bei Frauen mit normaler Menstruation.

    Welche Rolle Schwankungen im Sexualhormonspiegel beim Auftreten der Beschwerden spielen, bedarf ebenso einer endgültigen Klärung wie die Frage, ob Männer vor der Entstehung eines Reizdarmsyndroms durch Testosteron geschützt werden [13, 14].

    Neuronale Modulation der Darmmotilität und -sensibilität

    Die wichtigsten pathogenetischen Faktoren bei der Entwicklung eines Reizdarmsyndroms sind die Störungen der Schmerzperzeption und der Motilität. Kurz zusammen gefasst liegt dem Reizdarm eine gestörte Darmsensibilität bei normaler oder pathologischer Motilität zugrunde.

    Die gastrointestinalen Funktionen kommen durch das Zusammenspiel des intrinsischen und autonomen (vegetativen) Nervensystems zustande und werden über vier nervale Kontrollebenen gesteuert (Abb. 1). Das enterische oder intrinsische Nervensystem (ENS), das oft als "Darmgehirn" bezeichnet wird, kann unabhängig vom autonomen Nervensystem mittels Chemo-, Mechano- und Thermorezeptoren in der Schleimhaut, die durch ein Ganglienzellgeflecht miteinander verbunden sind, die motorische und sekretorische Aktivität im Magen-Darm-Trakt steuern. Die Neuronen des ENS sind in zwei großen, miteinander verbundenen Plexus organisiert:

    • Der Auerbach-Plexus (Plexus myentericus) liegt im schmalen Raum zwischen Längs- und Quermuskulaturschicht des Darmrohres und hat gitterförmige Struktur.
    • Der Meissner-Plexus (Plexus submucosus) bildet in der ganzen Dicke der Submukosa ein dreidimensionales Geflecht.

    Das ENS schickt afferente Fasern zum ZNS und unterliegt den Einflüssen des vegetativen Nervensystems (Sympathikus und Parasympathikus).

    Das autonome oder extrinsische Nervensystem, das mit seinen paravertebralen Ganglien die Funktionen des ENS beeinflussen kann, ist mit der übergeordneten Kontrollebene und deren spinalen, subkortikalen und kortikalen Kontrollzentren durch Reflexbögen verbunden. So werden sowohl afferente wie efferente Informationen vermittelt, ohne dass sie zur bewussten Wahrnehmung führen. Bei funktionellen Störungen wie dem Reizdarmsyndrom gelangen Signale und Information ohne entsprechende Modulation und Filterung ins Zentralnervensystem.

    Da die viszeralen sensorischen Aktivitäten und die intestinalen motorischen Funktionen mit Zentren im Kortex verbunden sind, können Sinneseindrücke (wie Gerüche, Geräusche, Bilder) und Gefühle oder Gedanken die gastrointestinale Sekretion, Empfindung und Motilität beeinflussen. Umgekehrt können nozizeptive Reize im Gastrointestinaltrakt die zentrale Schmerzempfindung, die Stimmung und das Verhalten des Patienten verändern.

    Das Zusammenspiel von Gehirn und Magen-Darm-Trakt wird durch eine Vielzahl von Neurotransmittern gesteuert, wie Enkephaline und Endorphine, Substanz P, vasoaktives intestinales Polypeptid (VIP), Calcitonin-gene-related polypeptide (CGRP), Stickstoffmonoxid (NO), Cholecystokinin (CCK) und vor allem Serotonin. Hier scheint der Schlüssel zum Verständnis des Reizdarmsyndroms zu liegen.

    Serotonin als Angelpunkt der Pathophysiologie des Darms

    Grundlegende Forschungsarbeiten der letzten Jahre haben das Interesse an Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) und an den zugehörigen 5-HT-Rezeptoren stark anwachsen lassen. Heute sind sieben Klassen von 5-HT-Rezeptoren (5-HT1 bis 5-HT7) mit 14 Subtypen bekannt. Die endgültige Erfassung aller Rezeptoren und die Klärung ihrer Funktionen steht jedoch noch aus [15].

    Etwa 95% des körpereigenen Serotonins finden sich im Darm (die höchste Konzentration in den Enterochromaffinzellen der Mucosa) und nur 5% im Gehirn. Über die Darmschleimhaut erhalten auch Thrombozyten, die die Substanz nicht selbst synthetisieren können, große Mengen an Serotonin, die dann bei der Thrombozytenaktivierung freigesetzt werden.

    Serotonin spielt eine Rolle beim chemischen Transfer von Informationen in nahezu allen Bereichen der neuronalen Steuerung der gastrointestinalen Funktionen und beeinflusst Vorgänge und Reaktionen wie Übelkeit, Erbrechen, intestinale Schleimsekretion, Sensibilität und Motilität der Magen-Darm-Muskulatur.

    Serotonin kann afferente Neuronen aktivieren, die Signale ins Zentralnervensystem weiterleiten, ohne dass diese ins Bewusstsein gelangen. Eine Schädigung oder Reizung der Darmschleimhautzellen durch Entzündungen, Schadstoffe oder durch mechanische Stimulation induziert ebenfalls eine Freisetzung von Serotonin aus den Vesikeln der enterochromaffinen Zellen und eine Sensibilisierung der afferenten Bahnen. Diese Art der Information erreicht das Bewusstsein und wird als unangenehm oder schmerzhaft empfunden.

    Sensibilisierungsreaktionen auf Nahrungsmittel oder Infektionen werden durch eine Freisetzung von Serotonin aus den Mastzellen induziert, über Serotoninrezeptoren werden auch Überempfindlichkeitsreaktionen wie Hypersekretion oder verstärkte propulsive Motorik reguliert.

    Serotonin entfaltet seine Wirkungen über spezifische Rezeptoren. Serotoninrezeptoren sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, die mit dem Adenylatcyclasesystem gekoppelt sind. Eine Ausnahme bildet der 5-HT3-Rezeptor, bei dem es sich um einen ligandengesteuerten Ionenkanal handelt.

    An den sensorischen Neuronen im Gastrointestinaltrakt finden sich vorwiegend 5-HT3- und 5-HT4-Rezeptoren mit unterschiedlicher Bedeutung: Während die Stimulation der 5-HT4-Rezeptoren die Magenentleerung und die intestinale sowie die Kolontransitzeit beschleunigt, führt die Aktivierung der 5-HT3-Rezeptoren - neben der Verkürzung der Kolontransitzeit - zu Übelkeit, Erbrechen und verstärkter gastrointestinaler Sekretion.

    Dementsprechend führt die Blockade der 5-HT3-Rezeptoren zur motorischen Beruhigung des Darms. An der Verstärkung der viszeralen Empfindlichkeit sind beide Rezeptorsubtypen (5-HT3 und 5-HT4) beteiligt. Die zentrale Rolle von Serotonin bei der Entstehung der Symptome des Reizdarmsyndroms wird gestützt durch Daten bei Frauen mit Diarrhö-prädominantem Reizdarmsyndrom, deren postprandiale Serotonin-Serumspiegel 4,3fach so hoch sind wie die von gesunden Probandinnen.

    Therapie des Reizdarmsyndroms

    Eine rational begründete Therapieempfehlung für das Reizdarmsyndrom ist gegenwärtig aufgrund des Fehlens von umfassend gesicherten pathogenetischen Kenntnissen nicht möglich. Die Therapie des RDS stützt sich zurzeit auf drei Säulen:

    • auf Allgemeinmaßnahmen,
    • auf die medikamentöse Therapie und
    • auf psychologische und psychotherapeutische Maßnahmen.

    Die Intensität der Therapie richtet sich nach der Schwere der Erkrankung, die Art der Therapie nach den auftretenden Leitsymptomen.

    Kastentext: Therapie des Reizdarmsyndroms

    • Allgemeinmaßnahmen Stressabbau, Ernährungsberatung, Arzt-Patienten-Verhältnis
    • Medikamentöse Therapie meist symptomatisch, da zur Zeit keine spezifischen Therapeutika verfügbar sind
    • Psychotherapie

    Allgemeinmaßnahmen

    Wichtigste Voraussetzung für einen Therapieerfolg ist ein gutes und vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis mit klarer Diagnosevermittlung und besonderer Aufklärung seitens des Arztes unter Miteinbeziehung und Förderung der Eigenverantwortlichkeit des Patienten. Wie wichtig eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist, zeigt die Tatsache, dass bis zu 40 oder 70% der Reizdarmpatienten auf eine Plazebotherapie ansprechen.

    Dabei kommt aber nicht nur dem Therapeuten eine große Verantwortung zu. Auch die Apothekerin und der Apotheker müssen insbesondere dem Aufklärungs- und Informationsbedürfnis der Patienten hinsichtlich der Wirkungsweise und sicheren Anwendung von verordneten Arzneimitteln gerecht werden. Viele Patienten sind bereits beruhigt, wenn sie vom Apotheker hören, dass bezüglich des physiologischen Stuhlverhaltens eine erhebliche Bandbreite besteht und nicht jede vorübergehende Obstipation oder Diarrhö ein Alarmsymptom darstellt.

    Zu den allgemeinen Maßnahmen gegen das Reizdarmsyndrom zählen die Identifizierung und der Abbau von Stressfaktoren sowie eine gezielte Ernährungsberatung, deren erstes Ziel die Erkennung und Vermeidung von Nahrungs- und Genussmitteln sein sollte, die Beschwerden auslösen oder verstärken (wie Hülsenfrüchte, Alkohol, Gewürze oder Milchprodukte). Generell empfehlenswert ist die Einnahme kleinvolumiger Mahlzeiten und die Vermeidung größerer Fettanteile, da ein spezifischer Effekt fetthaltiger Nahrungsbestandteile auf die viszerale Sensibilität möglich ist.

    Bei den meisten Erscheinungsformen des Reizdarmsyndroms mit Ausnahme des reinen Schmerztyps empfiehlt sich die Zufuhr von Ballaststoffen, wobei wasserlösliche Gelbildner (wie Pektine, Mucilaginosa oder Flohsamenprodukte) den Faserstoffen (enthalten in Kleie, Hafer, Weizen oder Leinsamen) aufgrund der geringeren Gasbildung vorzuziehen sind. Eine zu hohe Einnahme von Ballaststoffen ist wegen der verstärkten Fermentation, der Druckerhöhung im Kolon und der damit verbundenen Verschlechterung der Beschwerden zu vermeiden.

    Medikamentöse Therapie

    Medikamente sollten beim Reizdarmsyndrom zeitlich begrenzt und symptomorientiert eingesetzt werden. Das Spektrum der zur Behandlung des Reizdarmsyndroms angepriesenen Substanzen ist sehr breit. Die DGVS-Konsensuskonferenz zum Reizdarmsyndrom hat verschiedene gängige Wirkstoffe und Verfahren, die in der Therapie eingesetzt werden, einer Bewertung unterzogen. Dabei zeigte sich, dass für viele Therapeutika valide Studien fehlen oder aber widersprüchliche Ergebnisse vorliegen.

    Prinzipiell wird ein symptomorientiertes Vorgehen empfohlen. Im Hinblick auf die therapeutischen Konsequenzen ist es deshalb unerlässlich, Patienten mit einem Reizdarmsyndrom genau zu klassifizieren.

    Symptomorientierte Therapiemöglichkeiten

  • Anticholinergika Anticholinergika wie Hyoscin-N-Butylbromid (Buscopan®) können bei akuten krampfartigen Schmerzen zum Einsatz kommen, wobei bei den neurotropen Spasmolytika die anticholinergen Nebenwirkungen zu beachten sind.

  • Muskelrelaxanzien Muskulotrope Spasmolytika wie Mebeverin (Duspatal®) oder (in wesentlich schwächerer Form) Pfefferminzöl, die einen direkten erschlaffenden Effekt auf die glatte Muskulatur aufweisen, werden vor allem beim Schmerztyp empfohlen. Die muskelrelaxierende Wirkung des Pfefferminzöls auf den Darm ohne anticholinerge Nebenwirkungen kommt möglicherweise durch die Blockierung des Calciumioneneinstroms zustande, die zusätzliche karminative Wirkkomponente ist bei vielen Reizdarmpatienten von Nutzen. Auch Kombinationen von Pflanzenauszügen mit muskelrelaxierender und karminativer Wirkung können die Schmerzen beim Reizdarmsyndrom vermindern. Bewährt hat sich das pflanzliche Kombinationspräparat Iberogast®, das bereits in den 1998 aufgestellten Leitlinien (Konsensusbericht) der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten als Therapieoption genannt wurde. Die Wirksamkeit von Iberogast® beim Reizdarmsyndrom ist durch eine Anwendungsbeobachtung mit 2548 Patienten und eine plazebokontrollierte Doppelblindstudie mit 208 Patienten eindeutig belegt.

  • Prokinetika Die Prokinetika der ersten Generation, Metoclopramid (Paspertin®) und Domperidon (Motilium®), sind Dopaminantagonisten. Sie blockieren die inhibitorischen Effekte des Dopamins auf die Motilität des oberen Gastrointestinaltrakts, nicht aber auf das Kolon und zeigen daher keinen Effekt beim Reizdarmsyndrom mit Obstipation. Gleiches gilt für die "Motilinagonisten" der Makrolide mit 14-gliedrigem Ring wie Erythromycin, die ebenfalls nur auf den oberen Verdauungstrakt wirken. Der 5-HT4-Agonist Cisaprid bewirkt eine propulsive peristaltische Vorwärtsbewegung im Gastrointestinaltrakt und führt zu einer Zunahme der Stuhlfrequenz. Cisaprid wurde allerdings wegen schwerer kardiologischer Nebenwirkungen vom Markt genommen.

  • Antidiarrhoika Loperamid (Imodium®) vermindert durch die Bindung an die Opiatrezeptoren in der Darmwand den intestinalen Transit, erhöht die Wasser- und Elektrolytresorption und den Darmwand- und Analsphinktertonus, senkt Stuhlfrequenz und -drang und verbessert die Stuhlkonsistenz. Da es die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann, ist es anderen Opioiden als Antidiarrhoikum vorzuziehen. Die Therapie soll nur bei Bedarf erfolgen (2 - 4 mg bis zu 4u täglich), zur Langzeittherapie ist es nicht geeignet. Loperamid kann auch mit Ballaststoffen kombiniert werden.

  • Oberflächenaktive Substanzen Gasbindende Arzneistoffe wie Dimeticon oder Simethicon werden bei Blähungen eingesetzt. Ihre Wirkung ist durch Studien nicht belegt, die Akzeptanz dieser Arzneimittel bei den Patienten jedoch groß.

  • Laxanzien Sie werden in Kombination mit Ballaststoffen eingesetzt, wenn diese nicht ausreichen. Osmotische (wie Lactulose) oder sekretorisch-antiresorptive (wie Bisacodyl) sind den Anthrachinonderivaten vorzuziehen, eine länger dauernde Einnahme sollte vermieden werden.

  • Antimykotika Selbst bei positivem Nachweis von Candida in der Stuhlkultur sind Antimykotika beim Reizdarmsyndrom nicht indiziert.

  • Trizyklische Antidepressiva und Serotoninwiederaufnahmehemmer Trizyklische Antidepressiva und Serotoninwiederaufnahmehemmer haben neben ihren antidepressiven und anxiolytischen Hauptwirkungen auch neuromodulatorische, analgetische oder anticholinerge Effekte. Die neuromodulatorische Wirkung tritt schon bei einer Dosierung auf, die unter jener liegt, die gegen Depressionen effektiv ist. Antidepressiva sollten Patienten vorbehalten sein, die neben Beschwerden des Reizdarmsyndroms unter Depressionen, Angst- und/oder Zwangsstörungen leiden. Studien an Patienten mit Reizdarmsyndrom haben eine Wirksamkeit in erster Linie bei Patienten mit Schmerzen und Diarrhöen gezeigt [16].

  • Kastentext: Probleme der Arzneistoffentwicklung

    • Das Reizdarmsyndrom liegt meist als Symptomgemisch vor.
    • Viele Patienten zeigen einen Wechsel der Beschwerden zwischen Obstipation und Diarrhö, die Intensität kann stark schwanken.
    • Die Steuerung der Magen-Darm-Funktionen erfolgt durch eine Vielzahl von Neurotransmittern, die alle potenzielle Targets der Arzneimittelforschung darstellen.
    • Design und Durchführung klinischer Studien gestalten sich durch die Symptomatik des Reizdarmsyndroms und durch die Überlagerung somatischer Beschwerden mit psychischen Faktoren als schwierig.

    Neue Therapiekonzepte

    Die Ansprüche, die an zukünftige Therapieformen gestellt werden, sind hoch. Aus den bisherigen Erfahrungen weiß man, dass eine symptomatische Behandlung des Reizdarmsyndroms nicht sehr erfolgversprechend ist. Die wichtigste Symptomkomponente des Reizdarmsyndroms stellt die viszerale Hyperalgesie bzw. Überempfindlichkeit dar, die es mit neuen Arzneistoffen zu verringern oder zu hemmen gilt. Bei der Entwicklung neuer Medikamente gegen das Reizdarmsyndrom ergibt sich jedoch eine Reihe von Problemen.

    Die Erkrankung zeigt sich meist in Form eines Symptomgemischs mit zum Teil entgegengesetzten funktionellen Störungen, die einander abwechseln können, wie insbesondere der Wechsel zwischen Obstipation und Diarrhö. Auch die Intensität der Beschwerden kann schwanken, Phasen mit verschlimmerten Beschwerden wechseln mit Phasen geringerer Symptomatik. Somit fehlt ein definiertes Target, wie das bei anderen Erkrankungen der Fall ist.

    Ähnliche Probleme wie bei der Entwicklung neuer Therapiekonzepte ergeben sich auch für das Design und die Durchführung von klinischen Studien. Das Reizdarmsyndrom ist charakterisiert durch mehrere Symptome, die in unterschiedlichsten Kombinationen auftreten, verschwinden und in geänderter Zusammensetzung wiederkehren können. Es gibt eine Vielzahl von möglichen Studienendpunkten, und für jeden Therapieansatz gibt es Patienten, die davon profitieren könnten. Allerdings müssten hierfür zunächst Patientensubgruppen sauber definiert werden [17 - 20].

    Bei der Entwicklung neuer Arzneimittel gegen das Reizdarmsyndrom unterscheidet man zwischen Substanzen, die eine rein symptomatische Therapie ermöglichen, und solchen, die in der Lage sind, die viszerale Überempfindlichkeit und Hyperreaktivität zu hemmen (vgl. (Tab. 1).

    5-HT3-Antagonisten

    5-HT3-Antagonisten - wie Ondansetron oder Granisetron - sind schon seit längerer Zeit als Antiemetika bei zytostatikainduziertem bzw. postoperativem Erbrechen zugelassen und stellen potenzielle Arzneimittel gegen das Reizdarmsyndrom dar. Für Granisetron konnte eine gewisse Wirksamkeit gegen viszerale Überempfindlichkeit nachgewiesen werden [21 - 24]. Seit langem ist bekannt, dass bei vielen Patienten die Einnahme dieser Arzneistoffe im Rahmen einer antiemetischen Therapie zu Obstipation führen kann.

    Alosetron (Lotronex®) wurde Anfang 2000 von der FDA als erstes Präparat speziell und ausschließlich für die Indikation "Reizdarmsyndrom ohne Obstipation oder mit Diarrhö bei Frauen" zugelassen. Alosetron ist ein spezifischer 5-HT3-Antagonist, der abdominelle Schmerzen reduziert und die Transitzeit bei Patientinnen mit nicht-obstipiertem oder Diarrhö-dominiertem Reizdarmsyndrom verlängert.

    In den Monaten nach der Markteinführung in den USA traten bei einigen Patienten aufgrund des reduzierten Blutflusses in den Gastrointestinaltrakt als schwerwiegende Nebenwirkungen Perforationen, toxisches Megacolon oder ischämische Colitis auf, die in manchen Fällen eine chirurgische Intervention notwendig machten. Im November 2000 kam es auf Veranlassung der FDA zur Marktrücknahme von Lotronex®.

    Kastentext: 5-HT3-Rezeptor und Alosetron

    Der 5-HT3-Rezeptor ist ein ligandengesteuerter Ionenkanal, der auf peripheren und zentralen Nervenzellen sowie auf Enterochromaffinzellen zu finden ist und auf repetitive Reize schnell mit Sensibilisierung reagiert. Der 5-HT3-Rezeptorantagonist Alosetron reduziert abdominelle Schmerzen, erhöht die Transitzeit und vermindert Stuhldrang und -frequenz. Schwerwiegende Nebenwirkungen sind starke Obstipation und ischämische Colitis.

    5-HT4-Agonisten

    Tegaserod (Zelmac®, Abb. 2) ist ein partieller 5-HT4-Agonist, mit dem zurzeit mehrere groß angelegte klinische Studien bei Patienten mit "Reizdarmsyndrom mit Obstipation" durchgeführt werden; erste Ergebnisse wurden bereits auf der "United European Gastroenterology Week" 1999 und der "Digestive Disease Week" 2000 präsentiert [25, 26].

    Tegaserod erhöht die Kontraktionsaktivität im Dünndarm und Kolon, beschleunigt die intestinale Transitzeit bei Patienten mit Obstipation-prädominantem Reizdarmsyndrom und vermindert abdominelle Schmerzen und Blähungen in einer Dosierung von 2u täglich 2 bis 6 mg. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Flatulenz, Diarrhö, Kopf- und Bauchschmerzen; kardiovaskuläre Nebenwirkungen wie QT-Intervall-, Blutdruck- oder Pulsveränderungen wurden auch bei hohen Dosen (25 - 100 mg) bis dato nicht beobachtet [27, 28].

    Mit Tegaserod steht ein Wirkstoff zur Verfügung, der gezielt bei Frauen mit RDS vom Obstipation-Typ eingesetzt wird. Bei Männern war Tegaserod nicht wirksam. Der Nutzen gegenüber Plazebo ist als eher gering einzustufen, weshalb Zelmac® in der EU noch nicht zugelassen wurde. In der Schweiz wurde die Zulassung unter dem Vorbehalt erteilt, dass das pharmazeutische Unternehmen weitere Untersuchungen zur Wirksamkeit durchführt. Da Tegaserod prokinetische Effekte auch in den oberen Abschnitten des Gastrointestinaltrakts zeigt, wird daran gedacht, die Indikationen auf den gastroösophagealen Reflux (GERD) und die funktionelle Dyspepsie auszuweiten.

    Kastentext: 5-HT4-Rezeptor und Tegaserod

    Die Stimulation der 5-HT4-Rezeptoren erhöht den Tonus und die Motilität des Magen-Darm-Traktes. Der partielle 5-HT4-Rezeptoragonist Tegaserod (Zelmac®) führt im Darmtrakt zu einer Erniedrigung der peristaltischen Reizschwelle und Steigerung der Peristaltik. Die Kontraktionsaktivität im Dünndarm und Kolon wird erhöht, die intestinale Transitzeit beschleunigt und abdominelle Schmerzen vermindert. Erste Studien mit 5-HT4-Rezeptorantagonisten zeigen eine Verlängerung der Transitzeit bei Reizdarmpatienten mit Diarrhöen.

    Fazit

    Obwohl das Reizdarmsyndrom keine "neue" Erkrankung darstellt, erfolgte erst vor kurzem seine genaue Definition und die Abgrenzung zu anderen funktionellen Störungen des Gastrointestinaltrakts. Auch Konsensusempfehlungen zur Therapie existieren erst seit wenigen Jahren.

    Nach wie vor erfolgt die Behandlung symptomatisch, aufgrund des besseren Grundlagenwissens ist man jedoch mittlerweile in der Lage, Substanzen zu entwickeln, die auf die pathophysiologischen Gegebenheiten des Reizdarmsyndroms zugeschnitten sind. Ob diese Arzneistoffe eine effiziente und sichere Therapieoption darstellen werden, kann aus heutiger Sicht noch nicht abgeschätzt werden.

    Die Autoren

    Prof. Manfred Schubert-Zsilavecz studierte von 1979 bis 1985 Pharmazie an der Universität Graz (dort Promotion 1989). 1989 Post-doc an der Universität Bayreuth. 1992 - 1993 Erwin-Schrödinger-Stipendiat an der Universität Ulm. 1994 Habilitation für das Fach Pharmazeutische Chemie an der Universität Graz. 1997 Berufung auf eine C3-Professur für Pharmazeutische Chemie am Biozentrum der Universität Frankfurt am Main. Generalsektretär der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, Schriftleiter der Pharmazie in unserer Zeit, Studiendekan des Fachbereichs Chemische und Pharmazeutische Wissenschaften. Arbeitsgebiete: Oligosaccharide; Entwicklung von neuen PDT-Wirkstoffen; Entwicklung, Validierung und Anwendung analytischer Verfahren für die Pharmazeutische Analytik.

    Anschrift: Institut für Pharmazeutische Chemie, Marie-Curie-Straße 9, 60439 Frankfurt

    Mag. pharm. Karin Nemec (Jg. 1964) studierte von 1983 bis 1989 Pharmazie an der Universität Wien; 1990 Fachprüfung für den Apothekerberuf. Von 1990 bis 1993 in öffentlichen Apotheken, dann bis 1994 in der Generaldirektion des Wiener Krankenanstaltenverbunds, seither als Krankenhausapothekerin im Donauspital des Sozialmedizinischen Zentrums Ost in Wien tätig. Seit 1999 Erstellung einer Dissertation in Pharmazeutischer Chemie an der Universität Graz unter Anleitung von Prof. Dr. Schubert-Zsilavecz.

    Anschrift: Mag. pharm. Karin Nemec, Gladbeckstraße 1/12a/10, A-2320 Schwechat

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    Die Kombination verschiedener Symptome des unteren Gastrointestinaltrakts wird heute, wenn sich keine organische Ursache feststellen lässt, als Reizdarmsyndrom bezeichnet. Dieses Syndrom ist die wahrscheinlich häufigste funktionelle Störung des Gastrointestinaltrakts. Es kann alle Abschnitte des Darms betreffen – nicht nur das Kolon – und darüber hinaus auch in anderen Organen Beschwerden hervorrufen.  

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