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Pharma-Tage: Zur Zukunft unseres Gesundheitssystems
Die Versicherten als Opfer
Trotz einiger Stärken (strukturelle Voraussetzungen für Wettbewerb, Wahlfreiheit der Versicherten, Solidaritätsprinzip, Unabhängigkeit vom staatlichen Haushalt) sieht Dr. Stefan Oschmann, Geschäftsführer beim Pharmaunternehmen MSD, das deutsche Gesundheitssystem als vordemokratisch, autoritär, von Funktionären geprägt an. Es sei gekennzeichnet durch das geschlossene System der Selbstverwaltung, durch fehlenden Wettbewerb mit Leistung, Qualität und Innovation und durch eine fehlende Transparenz und Entscheidungsalternativen für die Versicherten. Die Versicherten seien praktisch Opfer, die keine Gestaltungsmöglichkeiten hätten, keine Entscheidungen beeinflussen könnten und keine Eigenverantwortung trügen.
Natürlich hat das, so Oschmann, auch Auswirkungen auf den Arzneimittelmarkt in Deutschland. Der deutsche Arzneimittelmarkt besteht zum größten Teil aus alten Arzneimitteln, die Entwicklung neuer innovativer Arzneimittel wird durch die bestehenden Rahmenbedingungen behindert. Bei vielen Krankheiten gibt es eine gravierende Unterversorgung (bei etwa 77% der Osteoporose-Patienten, bei über 96% aller Depressiven). Der Anteil evidenzbasierter Therapien ist sehr niedrig.
Die medizinische Nutzen-Bewertung sah Oschmann zwar als sinnvoll an, er hält sie aber für schwierig, sie darf nicht zentral, bürokratisch für ein ganzes Land stattfinden. Die so genannte vierte Hürde (Erstattung bzw. Erstattungsgruppe sollen von der Kosteneffektivität und vom Grad der Innovation im Vergleich zu bereits eingeführten Arzneimitteln abhängig gemacht werden) lehnt er ab.
Das deutsche Gesundheitswesen – welche Rolle spielt Pharma?
Prof. Dr. K. W. Lauterbach, Institut für Gesundheitsökonomie und Epidemiologie der Universität Köln, machte klar, dass das deutsche Gesundheitswesen vor erheblichen Reformanforderungen steht, die Reform habe noch nicht begonnen. Probleme sind u. a. das ungelöste Verhältnis zwischen Haus- und Fachärzten, das Fehlen der integrierten Versorgung und die strenge Trennung zwischen ambulantem und stationärem Bereich sowie die für interdisziplinäre Zusammenarbeit und Weiterbildung nicht förderlichen Bedingungen, die Verzögerungen bei den DRG-Rahmenbedingungen, das Fehlen einer ausreichenden Integration von Rehabilitation und Prävention sowie einer leistungsgerechten Vergütung. Dadurch ist die Prozess- und Ergebnisqualität im internationalen Vergleich nur durchschnittlich (Über-, Unter-, Fehlversorgung).
Professor Lauterbach ist, bei aller Wichtigkeit des Wettbewerbs, davon überzeugt, dass ein solcher zwischen den GKVen nur funktioniert, wenn es eine Steuerung gibt, da er sonst zu Lasten der Versicherten und Patienten geht. Er spricht sich für einen Wettbewerb in der Qualität aus, nicht jedoch im Umfang des Leistungsangebots (der Leistungskatalog darf nicht vom Einkommen abhängen und keine Risikoselektion ermöglichen).
Als Möglichkeiten zur Finanzierung werden gesehen: Arbeitslosenquote senken, höheren Anteil der Einkünfte sozialversicherungspflichtig machen, Lebensarbeitszeit verlängern, Rentner stärker heranziehen. Nach Einschätzung Lauterbachs gibt es auf dem deutschen Arzneimittelmarkt einen hohen Anteil von Arzneimitteln ohne belegten Nutzen, einen hohen Anteil mit schlechter Kosten-Nutzen-Relation und einen geringen Anteil evidenzbasierter Arzneimittel.
Erstrebenswert wäre natürlich, wenn die Industrie nur Arzneimittel mit guter Kosten-Nutzen-Relation und guter Wirksamkeit bewerben würde. Er spricht sich für die o. g. vierte Hürde für die Erstattungsfähigkeit in der GKV aus, aber nicht über die Selbstverwaltung, sondern eine staatlich kontrollierte, völlig transparente Behörde mit Patienten- und Versichertenbeteiligung, die aber keine Arzneimittel "abschießen" dürfe, für die es keine Alternative gebe. Auch wenn es in Deutschland bisher einfacher war, nicht evidenzbasierte Arzneimittel zu vermarkten, haben seiner Ansicht nach mittelfristig die Firmen, die mit dem Strom schwimmen (evidenzbasiert) die größeren Chancen.
Wachstumspotenziale im Pharmamarkt
Erich Dambacher von der Aventis Pharma sieht verschiedene Hürden im deutschen Arzneimittelmarkt – bei den patentfreien Arzneimitteln Festbeträge und aut idem, bei der innovativen Arzneitherapie das Disease Management, die Nutzenbewertung (vierte Hürde), Me too und Importe.
Der deutsche Markt sei, was neue Präparate angehe, sehr beschränkt. Die Entwicklung neuer Präparate werde immer teuer. Anhand vieler eindrucksvoller Beispiele über die Arzneimittelversorgung, insbesondere das Vertriebswesen, beschrieb er Handlungsbedarf auf folgenden Gebieten: Modifizierung der Arzneimittelpreisverordnung (für kostenadäquate Vertriebszuschläge, gegen Quersubventionierung, Schattenwirtschaft und "Rosinenpickerei"), Herausnahme von OTC-Arzneimitteln aus der GKV-Erstattung (für geringfügige Gesundheitsstörungen kann der Patient wie in vielen anderen Ländern eigenverantwortlich aufkommen, Einsparpotenzial 3 Mrd. Euro jährlich), Abschaffung der Importquote (der Verlust durch den Steuerausfall in Deutschland ist wesentlich höher als die Ersparnis der GKV durch die Reimporte, Ersetzung von aut idem durch Festbeträge Stufe I (Festbeträge sind methodisch sauberer, z. Z. sind große Naturalrabatte von Pharmafirmen für Apotheken möglich, davon haben die GKVen nichts), Maßnahmen für mehr Wettbewerb und günstigere Generika-Preise).
Erfolgreiche Konzepte für den Mittelstand
Henning Fahrenkamp vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) wies darauf hin, dass über 80% der Mitgliedsunternehmen Forschung betrieben. Innovation sei wichtig, aber nur dort, wo sie auch wirklich notwendig sei. Die Erhaltung bewährter Arzneimittel ermögliche erst Innovation. Die Arzneimittelvielfalt sollte unbedingt erhalten werden. Verschreibungsfreie Produkte, deren Sicherheit gewährleistet ist, dürfen seiner Meinung nach keinesfalls aus der Erstattungsfähigkeit herausgenommen werden.
Die von der Politik vorgesehenen Kostendämpfungsmaßnahmen zielen hauptsächlich auf Arzneimittel (die tatsächlich nur ein kleines Segment der Kosten ausmachen). Tatsächlich führt der medizinisch-therapeutische Fortschritt zu neuen Konstellationen (teurere ambulante Behandlung spart Krankenhausaufenthalt, früher nicht behandelbare Krankheiten können heute behandelt werden).
Die Politik fördert Innovationen, gefährdet aber bewährte Arzneimittel (der Hausarzt behandelt 80% aller Erkrankungen, leichte bis mittelschwere). Aut idem und die "vierte Hürde" sind nach Fahrenkamps Ansicht klassische Beispiele, wie Wettbewerb ausgehebelt werden soll. Arzneimittel- und Patientensicherheit sowie Arbeitsplätze werden gefährdet und Innovationen verhindert, die Compliance wird nicht gefördert. Der Mittelstand, der auf den GKV-Markt angewiesen ist, wird bedroht.
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