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Recht
M. RehbornSozialrecht als Hürde oder Hilfe? –
Einer Betrachtung bedürfen hier zum einen die Regelungen im Leistungsrecht, das die Ansprüche der Kassenpatienten, d. h. der in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten, definiert. Daneben kann aber auch das Leistungserbringerrecht nicht unberücksichtigt bleiben; hiernach richtet sich nämlich das Rechtsverhältnis der Vertragsärzte2 zu den Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen.
Leistungsrechtliche Vorschriften
Gemäß § 31 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig und nicht nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind. Damit ist der Grundsatz klar: Der Patient muss nicht selbst zahlen, sondern hat einen Anspruch auf kostenfreie Zurverfügungstellung gegen seine Krankenkasse.
Aber schon die gesetzliche Formulierung macht deutlich, dass nicht etwa alle auf dem Markt befindlichen oder auch alle in Deutschland zugelassenen Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig sind. Vielmehr ist hierfür in § 33 a Abs. 1 SGB V3 eine vom Bundesministerium für Gesundheit zu erlassende Liste verordnungsfähiger Arzneimittel vorgesehen; in diese Liste sind gemäß § 33 a Abs. 7 SGB V (nur) die Arzneimittel aufzunehmen, die "für eine zweckmäßige, ausreichende und notwendige Behandlung, Prävention oder Diagnostik" geeignet sind.
Voraussetzung für die Eignung ist ein mehr als geringfügiger therapeutischer Nutzen, gemessen am Ausmaß des erzielbaren therapeutischen Effektes. Nicht aufzunehmen sind hingegen Arzneimittel, die für "geringfügige Gesundheitsstörungen" bestimmt sind, die für das Therapieziel oder zur Minderung von Risiken nicht erforderliche Bestandteile enthalten oder deren Wirkung wegen der Vielzahl der enthaltenen Wirkstoffe nicht mit ausreichender Sicherheit beurteilbar ist.
Auswahllisten für Arzneimittel
Bereits mehrfach hatte sich der Gesetzgeber bemüht, Auswahllisten für die in der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähigen Arzneimittel einzuführen; diese Versuche sind stets durch die Rechtsprechung – meist aus kartellrechtlichen Erwägungen – gestoppt worden. 4 Nachdem der Gesetzgeber daraufhin zunächst die Zuständigkeit der Zivilgerichte für solche Streitigkeiten beseitigt und sie künftig den Sozialgerichten zugewiesen hat5 sieht § 33 a Abs. 12 SGB V jetzt vor, dass
- Klagen gegen eine der Liste verordnungsfähiger Arzneimittel vorausgehende Vorschlagsliste eines fachkundigen Gremiums unzulässig seien,
- Klagen gegen die gesetzlich vorgegebenen Gliederungen nach Anwendungsgebieten oder Stoffgruppen oder gegen sonstige Teile der Zusammenstellungen unzulässig seien,
- Klagen gegen die Liste selbst keine aufschiebende Wirkung haben, trotz rechtlicher Bedenken also die Liste weiterhin angewendet werden soll.
Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten erscheint das nicht unbedenklich6. Indessen bedarf das hier keiner weiteren Erörterung, da für die hier zu prüfende Fragestellung jedenfalls feststeht, dass der Gesetzgeber eine erhebliche Beschränkung der in der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähigen Präparate nicht nur sieht, sondern trotz der massiven gerichtlichen Bedenken gegen Vorgängerlisten zur Kosteneinsparung7 ausdrücklich will.
Ausschluss von Anwendungsgebieten
Aber auch unter anderen Gesichtspunkten sind bestimmte Präparate gerade auch für ältere Patienten regelmäßig nur auf eigene Kosten zu erhalten. Gemäß § 34 Abs. 1 SGB V sind nämlich von der Arzneimittelverordnung i. S. d. § 31 SGB V Arzneimittel bei Verordnung u. a. in folgenden Anwendungsgebieten ausgeschlossen:
- Arzneimittel zur Anwendung bei Erkältungskrankheiten und grippalen Infekten, u. a. einschließlich hustendämpfender und -lösender Mittel,
- Mund- und Rachentherapeutika (außer bei Pilzinfektionen),
- Abführmittel.
In der Tat mag vielleicht der junge Patient ohne solche Präparate auskommen, eine Obstipation mag bei ihm auch ohne medikamentöse Behandlung vorbeigehen, ohne ihn länger zu beeinträchtigen. Erkältung oder grippalen Infekt wird er kaum als schwerwiegend empfinden, häufig nicht einmal seine beruflichen Aktivitäten hierdurch beeinträchtigt sehen. Starker Husten allein wird ihn nicht nennenswert schwächen.
Wie aber wirken sich dieselben Erkrankungen beim älteren Menschen aus? Obstipation, Erkältung oder grippaler Infekt können ihn, insbesondere bei sowieso schon (z. B. altersbedingt) reduziertem Allgemeinzustand, körperlich erheblich betreffen. Psychische Verstimmungen sind nicht fernliegend.
Der ältere Patient verzichtet in diesen Fällen nach Berichten aus der Praxis vielfach nicht auf Arzneimittel, vielmehr erwirbt er sie – in der Überzeugung, sie zu benötigen – auf eigene Kosten. Mag es politisch als ein dem Patienten zumutbarer Beitrag gewollt sein oder nicht, bleibt zu konstatieren, dass das Sozialrecht (außer in hier nicht darzustellenden Einzelfällen) dem Patienten in dieser Situation jedenfalls keine Hilfe ist.
Hinzu kommt noch die gelegentlich geäußerte und nicht von der Hand zu weisende Befürchtung, dass statt der verordnungsunfähigen Präparate ärztlicherseits nur allzu schnell zu schwereren Mitteln, beim grippalen Infekt z. B. zum Antibiotikum, gegriffen wird. Dann werden die Kosten zwar im Grundsatz (abgesehen von einer Eigenbeteiligung) von der Krankenkasse getragen; die Folgen – seien es unerwünschte Wirkungen während der Einnahme, seien es Langzeitwirkungen bis hin zur Immunität der Erreger – können jedoch gravierend sein und Zustände bewirken, die weitaus höhere Kosten zur Folge haben.
Festbetrag und Zuzahlung
Für ein Arzneimittel, für das ein Festbetrag i. S. d. § 35 SB V festgesetzt ist, trägt die Krankenkasse gemäß § 31 Abs. 2 SGB V die Kosten bis zur Höhe dieses Betrages. Der Restbetrag ist gegebenenfalls vom Patienten selbst zu zahlen.
Hervorzuheben sind schließlich auch die vom Patienten gemäß § 31 Abs. 3 SGB V zu tragenden Eigenanteile, die Zuzahlung. Sie beträgt für kleine Packungsgrößen 4 Euro, für mittlere Packungsgrößen 4,50 Euro und für große Packungsgrößen 5 Euro. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Begründung zum Gesetzentwurf für die Reduzierung der Zuzahlungen (damals um jeweils 1,– DM bis 3,– DM pro Arznei- bzw. Verbandmittel):
"Die Neuregelung senkt die Zuzahlungen zu Arzneimitteln ... Da Arzneimittel vor allem chronisch Kranken und älteren Patienten verordnet werden, tritt für diese Patienten eine erhebliche Entlastung ein ..." 8
Mit anderen Worten: Zuvor bestand (in der Tat) eine Belastung. Die vergleichsweise geringfügigen Reduzierungen der Zuzahlungen beseitigen diese Belastung aber keineswegs. Jedenfalls derjenige, der nicht von Zuzahlungen befreit ist, kann hierdurch erheblich getroffen sein. Wie der Gesetzgeber ausweislich des o.g. Zitates selbst erkannt hat, trifft auch das gerade ältere, verstärkt auf Medikamente angewiesene Menschen, in besonderem Maße.
Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass die leistungsrechtlichen Vorschriften des Sozialrechts für den Patienten natürlich grundlegende Bedeutung haben; sie garantieren nämlich eine zwar nicht vollständige, aber doch weitreichende Arzneimittelversorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse bei Zahlung einer – jedenfalls im Vergleich zu sehr teuren Präparaten – überschaubaren Eigenbeteiligung.
Arzneimittelbudgets ...
Beizeiten hatte der Gesetzgeber erkannt, dass der Schlüssel zur Steuerung der Arzneiausgaben nicht beim Patienten, sondern beim Arzt liegt. Schließlich werden im Regelfall von der Krankenkasse nur die Kosten für solche Arzneimittel getragen, die vom Arzt verordnet, nicht aber vom Patienten aus eigener Veranlassung beschafft wurden.
Um die stetig steigenden Arzneikosten zu steuern, führte der Gesetzgeber mit dem Gesundheitsstrukturgesetz9 in § 84 SGB V u. a. ein Arzneimittelbudget10 ein. Dessen Höhe war zwischen Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigung als Obergrenze der insgesamt von den Vertragsärzten veranlassten Ausgaben für Arzneimittel für jeweils ein Jahr im Voraus zu vereinbaren. Überschreitungen des Budgets sollten von der Ärzteschaft im Wege eines Kollektivregresses erstattet werden. Trotz gesetzlicher Änderungen11 trat der erhoffte Erfolg nicht ein; die Ausgaben für Arzneimittel stiegen weiter. So überstiegen die Ausgaben des Jahres 2000 bundesweit das für das Jahr 2001 vereinbarte Budget um ca. 1,84 Milliarden Deutsche Mark.
Politisch schien die Geltendmachung eines solchen Überschreitungsbetrages nicht opportun. Diskussionen um eine hinreichende Arzneimittelversorgung wurden laut; die Einsparbemühungen zahlreicher Ärzte im Hinblick auf ein "erschöpftes Budget" führten dazu, dass Kassen und Patienten behaupteten (und so dürfte es in zahlreichen Einzel- fällen jedenfalls auch gewesen sein), auch notwendige Verordnungen würden nicht mehr getätigt.
Die erhoffte Steuerungswirkung war nicht eingetreten; hingegen sah sich der Gesetzgeber aus den vorgenannten Gründen zum Handeln aufgefordert. Durch das Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz12 wurden folglich die Budgets abgelöst, die Möglichkeit des Kollektivregresses aufgehoben.
... und Arzneimittelvereinbarungen
Nunmehr haben die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung "zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln" jeweils jährlich im Voraus eine Arzneimittelvereinbarung zu treffen. Deren Einhaltung soll nicht mehr durch einen Kollektivregress, sondern über individuelle, auf den einzelnen Arzt bezogene Maßnahmen sichergestellt werden.
Die Zielvereinbarung für das Jahr 2002 sieht einen Ausgabenrahmen von rund 19,4 Milliarden Euro (37,97 Mrd. DM) vor; sie liegt damit deutlich über der den Ärzten ursprünglich für 2001 zugestandenen Summe (34,5 Mrd. DM). Im Gegensatz zur Pharmaindustrie sieht ein Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die Maßnahmen so, dass durch sie "anders als bisher" sichergestellt sei, dass Patienten die notwendigen Medikamente bekämen. 13
Wirtschaftlichkeitsprüfung
Die Einhaltung der Arzneimittelvereinbarung durch die Ärzteschaft erfolgt über Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung, zum einen über die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten, zum anderen im Wege der Richtgrößenprüfung.
Die Prüfung der Wirtschaftlichkeit von Arzneimittelverordnungen nach Durchschnittswerten erfolgt dergestalt, dass die durchschnittlichen Verordnungskosten des Arztes mit den durchschnittlichen Verordnungskosten seiner Fachgruppe (getrennt für Mitglieder, Familienangehörige und Rentner) verglichen werden. Überschreitet er diese um mehr als 40 bis 50%14, so nimmt die Rechtsprechung ein sog. Offensichtliches Missverhältnis an, das als Nachweis der Unwirtschaftlichkeit ausreichend sein soll15.
Dem Arzt droht damit ein Arzneimittelregress, d. h. die Haftung für den dann von den Prüfungsgremien festzulegenden Betrag für die (rein aufgrund der statistischen Feststellungen angenommenen) unwirtschaftlichen Verordnungen. Diesem Regress kann der Arzt praktisch nur noch dadurch entgehen, dass er darlegt und gegebenenfalls nachweist, dass die Überhöhungen nicht auf unwirtschaftliches Verhalten seinerseits, sondern auf Praxisbesonderheiten16 oder kompensatorische Einsparungen17 zurückzuführen sind.
Wirtschaftlich noch einschneidender können die Folgen von Richtgrößenprüfungen sein. Gemäß § 84 Abs. 6, 8 SGB V sind Richtgrößenvolumina für Arzneimittel (incl. Verbandmittel) zwischen Kassen und Kassenärztlicher Vereinigung
- arztspezifisch,
- fallbezogen,
- altersgeschichtet und
- morbiditätsbezogen
zu vereinbaren. Die Prüfung setzt gemäß § 106 Abs. 5 a SGB V ein, wenn das Verordnungsvolumen eines Arztes in einem Kalenderjahr das Richtgrößenvolumen um mehr als 15% übersteigt; bei Überschreitungen von mehr als 25% beginnt die Regresszone, sofern der Mehraufwand nicht auf Praxisbesonderheiten beruht. Die Gefahr dieser Maßnahmen zeigt der Fall eines "unwirtschaftlich" arbeitenden Arztes aus dem Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen (s. Kasten).
Die wirtschaftliche Bedeutung eines solchen Regresses liegt auf der Hand: Der Arzt soll an die Krankenkassen (d. h. aus seinem Privatvermögen) etwa soviel zahlen, wie er in dem gesamten Jahr an Einnahmen (nicht etwa: Gewinn) aus seiner vertragsärztlichen Tätigkeit erzielt hat. Hinzu kommt der Umstand, dass der Arzt im November 2001, dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Regressbescheides für 1999, auch das Verordnungsvolumen für 2000 nicht mehr und für 2001 allenfalls noch marginal beeinflussen konnte, sodass bei identischen Verhältnissen in diesen Jahren mit jeweils einem entsprechend hohen Regressbetrag gerechnet werden muss. Praktisch bedeutet das, dass der Arzt mit einem Mal einem Regressrisiko von ca. 370 000 Euro ausgesetzt ist!
Wie kann sich ein Arzt in einer solchen Situation verhalten?
Einerseits kann er die Verordnungen drastisch einschränken, wobei hier nicht auf medizinisch-ethische Erwägungen abgestellt werden soll. Die Konsequenz daraus wäre, dass er damit rechnen muss, im Laufe eines verwaltungs- oder gar sozialgerichtlichen Verfahrens mit dem Argument konfrontiert zu werden, sein Verhalten in den Folgequartalen bzw. -jahren belege ja gerade, dass es auch anders – nämlich preisgünstiger – gehe.
Eine solche Betrachtungsweise hat die Rechtsprechung als "Vertikalvergleich" im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung grundsätzlich zugelassen18. Hinzu kommt das Risiko eines Haftungsfalles, wenn man unterstellt, dass die bisherige Verordnungsweise tatsächlich über das Maß des Notwendigen nicht hinausging, der Arzt dieses also nunmehr unterschreitet, um das latente Regressrisiko jedenfalls für die Folgejahre gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Andererseits ist es denkbar, dass der Arzt im sicheren Glauben an die Richtigkeit seiner Behandlungsweise und in der Hoffnung, spätestens die Rechtsprechung werde den Regressbescheid aufheben, sein Verordnungsverhalten nicht ändert, sondern so wie in den Vorjahren fortsetzt. Geht diese Erwartung indes nicht in Erfüllung, ist spätestens jetzt die Insolvenz kaum noch abzuwenden. Zumindest aber bedürfte es hierzu des Einsatzes umfangreichen Privatvermögens, sofern vorhanden! Zudem drohen Disziplinarverfahren und die Entziehung der Zulassung wegen dauernder Unwirtschaftlichkeit19.
Solche Fälle wie der vorgeschilderte dürfen nicht unbetrachtet bleiben, will man sich ein Bild von der Arzneiversorgung älterer Menschen und der Rolle des Sozialrechts hierfür machen. Wie dargestellt, kommt es nicht nur auf den formalen Anspruch des Patienten nach leistungsrechtlichen Grundsätzen im Einzelfall an, sondern auch auf die Frage, ob und wie ein Arzt dazu beitragen kann, diesen Anspruch durch Verordnung der erforderlichen Medikamente im Einzelfall zu realisieren, ohne sich selbst einem unzumutbaren Regressrisiko auszusetzen.
Insbesondere in der Behandlung schwerer (gerade bei älteren Menschen vermehrt auftretender) Erkrankungen hat die Pharmakologie in den letzten Jahren manchen Fortschritt zu verzeichnen gehabt; beispielhaft seien nur die (jeweils freilich teuren) modernen Arzneitherapien von Depressionen oder der multiplen Sklerose erwähnt. Dass ein Arzt sich im Hinblick auf das stetig drohende und unter Umständen existenzielle Regressrisiko bei solchen Therapien versucht sehen kann, aus rein ökonomischen Erwägungen von der Verordnung teurer, aber auch besonders wirksamer Präparate abzusehen, scheint jedenfalls nicht fernliegend.
Insofern ist zu konstatieren, dass die Ausgestaltung des Leistungserbringerrechts20 faktisch eine erhebliche Hemmschwelle auf dem Weg des Patienten zu dem von ihm benötigten Arzneimittel darstellen kann.
Zusammenfassung
Das deutsche Krankenversicherungsrecht gewährt dem Patienten trotz mittlerweile erheblicher Eigenanteile und trotz des Ausschlusses zahlreicher, gerade für einen älteren Menschen oftmals erforderlicher, zumindest aber hilfreicher Präparate, immer noch einen vergleichsweise weitgehenden Anspruch auf kostenfreie Versorgung mit Arzneimitteln. Gleichwohl kann es, gerade auch durch die im Leistungserbringerrecht vorgesehenen Kostendämpfungsregelungen zur (unter Umständen unüberwindlichen) Hürde für den Patienten werden.
Kasten Der Fall eines "unwirtschaftlich" arbeitenden Arztes
Der ausgebildete Chirurg ließ sich als praktischer Arzt direkt an einem Pflegeheim nieder. Im Jahre 1994 wurde bezüglich seines Arzneimittel-Verordnungsverhaltens im ersten Halbjahr 1993 ein Beratungsgespräch geführt, nachdem eine an einem Institut für Klinische Pharmakologie tätige Ärztin die Rezepte und Behandlungsscheine des betr. Arztes analysiert hatte.
Sie stellte u. a. fest, dass die Pflegeheimbewohner ca. 75% des gesamten Patientenklientels ausmachten, dass 41% des Patientenklientels als schwere psychiatrische Fälle einzustufen seien und ein für praktische Ärzte "unumgänglich" unüblich hohes Maß an Psychopharmaka erforderten, sodass "der größte Teil der Verordnungskosten ... erklärbar und aufgrund des ausgewählten Patientengutes berechtigt" sei.
Einen von den Krankenkassen dennoch gestellten Regressantrag für das 2. Quartal 1994 lehnte der für die Wirtschaftlichkeitsprüfung zuständige Prüfungsausschuss bei der Kassenärztlichen Vereinigung im Sommer 1995 ab, obwohl die durchschnittlichen Verordnungskosten je Fall um 135,7% über dem Fachgruppendurchschnitt lagen.
Als Gründe für die Mehraufwendungen gestand der Ausschuss dem Arzt die Betreuung von 4 Pflegeheimen zu; insgesamt mehr als 53% der Patienten seien Pflegeheimbewohner. 30% der Patienten seien über 80 Jahre alt, überdurchschnittlich viele multimorbid. Zu betreuen seien 177 psychiatrische und 122 geriatrische Fälle. Diese anerkannten Besonderheiten rechtfertigten weitgehend den Mehraufwand.
Durch Bescheid aus November 2001 wird dann für das Jahr 1999 im Rahmen einer Richtgrößenprüfung (nach damaligem Recht) ein Regress in Höhe von 126 315,31 Euro (247 051,28 DM) festgesetzt. Das für ihn geltende Richtgrößenvolumen hatte er nachgewiesen (bereits rentnerbereinigt) um 125,17% überschritten. Praxisbesonderheiten werden jetzt allerdings nicht mehr wie vorher in ihren Auswirkungen geschätzt, obwohl der Arzt mittlerweile sogar 5 Pflegeheime betreut. Vielmehr werden (lediglich) 21 Fälle mit Insulintherapie und 5 Epilepsie-Fälle als Praxisbesonderheiten anerkannt und herausgerechnet. Gegen den Regressbescheid hat der Arzt Widerspruch eingelegt, über den noch nicht abschließend entschieden ist.
Fußnoten
1 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien erwähnt das Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz vom 22.12.1981, BGBl. I 1568, Krankenhaus-Neuordnungsgesetz vom 20.12.1984, BGBl. I 1716, Gesundheitsreformgesetz vom 20.12.1988, BGBl. I 2477, Gesundheitsstrukturgesetz vom 21.12.1992, BGBl. I 2266, 1. GKV-Neuordnungsgesetz vom 23.6.1997, BGBl. I 1518, GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 vom 22.12.1999, BGBl. I 2626, GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz vom 19.12.1998, BGBl. I 3853, Festbetrags-Anpassungsgesetz vom 27.07.2001, BGBl. I 1948, Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz vom 19.12.2001, BGBl. I 3773. 2 Der herkömmliche Begriff "Kassenarzt" ist durch den Gesetzgeber vor einigen Jahren in "Vertragsarzt" geändert worden. 3 Eingefügt durch das GKV-Gesundheitsreformgesetz vom 22.12. 1999, BGBl. I 2626. 4 Vgl. dazu BVerfG, NJW 1995, 1606 mwN. 5 Vgl. dazu jetzt § 51 Abs. 2 SGG; zu den Änderungen, ihrer Legitimation und den Auswirkungen Peikert/Kroel, MedR 2001, 14. 6 Rehborn, Arzt Patient Krankenhaus, 3. Aufl. 2000, 89. 7 Dass die Kosteneinsparung Ziel ist, ergibt sich aus den gesetzlichen Motiven, vgl. RegE-GRG, BT-Drucksache 11/4452, S. 138 f. 8 BT-Drucksache 14/24. 9 Vom 21.12.1992, BGBl. I 2266. 10 Zu dessen Bedeutung in der Wirtschaftlichkeitsprüfung Rath, MedR 1999, 245. 11 Vgl. Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SolG) vom 19.12.1998, BGBl. I 3853. 12 Gesetz zur Ablösung des Arznei- und Heilmittelbudgets (Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz – ABAG) vom 19.12.2001, BGBl. I 3773. 13 So Hansen, Zweiter Vorsitzender der KBV, lt. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 24 vom 29.1.2002, S.13. 14 Eine starre Grenze gibt es nicht, vielmehr wird den Prüfungsgremien hier ein sog. Beurteilungsspielraum zugestanden, vgl. BSG, SozR 2200, § 368n Nr. 31. 15 BSG, SozR 3-2500, § 106 Nr. 11. 16 Vgl. hierzu im Einzelnen Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht 1994, Rn. 650 ff; in Betracht kommen unter Umständen die Anfängerpraxis, Niederlassung in unterversorgtem Gebiet, niedrige Fallzahl/kleine Praxis, besondere Spezialisierungen, schwere – insb. chronische – Fälle, gezielte Überweisungsaufträge u. ä. 17 Hier kommen insb. geringere Mengen an physikalisch-medizinischen Leistungen in Betracht. 18 Vgl. BSGE 75, 220. 19 Vgl. dazu anschaulich BSGE 34, 253; BSG, SGB 1993, 558. 20 Auf die besonderen Schwierigkeiten, die für einen Arzt aus der Beachtung der für ihn verbindlichen Arzneimittel-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen resultieren, soll hier nicht näher eingegangen werden, zumal die letzte Fassung der betr. Richtlinien nicht umgesetzt werden kann (OLG München, OLG-Report München 2000, 98).
In immer kürzeren Abständen versucht der Gesetzgeber seit über 20 Jahren die gesetzliche Krankenversicherung zu reformieren, allerdings ohne Erfolg: Die Kreation neuer Versorgungsmodelle, diverse Einschränkungen des Leistungsanspruchs der Patienten und die Anordnung von Festbeträgen und Budgets haben es nicht vermocht, den kontinuierlichen Anstieg der Beitragssätze zum Stillstand zu bringen. Da gerade ältere Patienten als Kostentreiber gelten, erscheint ihre Versorgung durch gesetzliche Maßnahmen besonders bedroht.
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