Diagnostik

T. Müller-BohnCHAT und Schlaganfall

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die wichtigste Todesursache in Industrieländern. Viele Untersuchungen über Risikofaktoren wie Rauchen, erhöhte Blutfettwerte und Bluthochdruck geben wertvolle Hinweise für die gesunde Lebensführung und die medikamentöse Prävention. Besonders wichtig ist es, Messgrößen mit hohem prognostischem Wert zu finden, um die gefährdeten Personen zu erkennen. Hierfür bieten Erkenntnisse der Chronobiologie zusätzliche Informationen, die bisher noch kaum beachtet werden. So konnte eine übermäßige Schwankung des Blutdrucks im Tagesverlauf als bedeutsamer eigenständiger Risikofaktor für Schlaganfälle identifiziert werden.

Das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen steigt beispielsweise mit fortschreitendem Alter, aber auch mit der Höhe des Blutdruckes an [1 – 8]. Dabei gehen die meisten Betrachtungen von einer permanenten Blutdruckerhöhung aus. Doch erweist sich die zeitliche Schwankung des Blutdruckverlaufes neben der Höhe des Blutdruckes zunehmend als aussagekräftige eigenständige Größe für die Risikoabschätzung.

Analyse des Chronoms

Das zeitliche Schwankungsmuster einer Variablen wird als Chronom bezeichnet [9]. Bei biologischen Größen setzt sich dies zumeist aus einem deterministischen Anteil und chaotischen Veränderungen zusammen. Durch rechnergestützte Analysen lassen sich regelmäßige Rhythmen von zufälligen Schwankungen unterscheiden [9]. Eine Veränderung des Chronoms der Herzfrequenz hat sich bereits als eigenständiger kardiovaskulärer Risikofaktor erwiesen [10].

Als weitere Veränderung eines Chronoms soll hier der zirkadiane Hyperamplituden-Blutdruck (CHAT) betrachtet werden, d. h. die übermäßige Schwankung des Blutdruckes im Tagesverlauf. Der CHAT konnte neben der verminderten zirkadianen Variabilität der Herzfrequenz (DHRV) als eigenständiger Risikofaktor für Schlaganfälle und Nephropathien ermittelt werden [11]. In verschiedenen Studien zeigten sich für beide Syndrome hohe Risiken von Myokardinfarkten. Auch für Normotoniker ist das CHAT-Risiko belegt [9 – 16]. Eine Darstellung der vaskulären Morbidität beider Risikofaktoren zeigt die Abbildung 1.

Risiko durch CHAT

Als Maß der täglichen Schwankungsbreite dient die doppelte zirkadiane Blutdruckamplitude. Die Auswertung der vorliegenden Studien ergab alters- und geschlechtsabhängige Schwellenwerte für ein Gesundheitsrisiko. Beim Überschreiten der Schwelle steigt das Risiko für ischämische Schlaganfälle um 720% und für Nierenerkrankungen um 590% (p < 0,05). Für den Schlaganfall war das CHAT-Syndrom damit eines der beiden schwerwiegendsten Risiken. Die Risikoerhöhung war sogar stärker als bei einem Blutdruck über 130/80 mmHg im 24-Stunden-Mittelwert.

In einer sechs Jahre dauernden prospektiven Studie, an der 297 Patienten in Tokio teilnahmen, wurde eine nicht-lineare Beziehung zwischen der zirkadianen Blutdruckamplitude und den Häufigkeiten von Schlaganfällen, Nephropathien, Myokardinfarkten und Retinopathien gefunden. Auch dies spricht für eine Schwelle, ab der das Risiko erhöht ist [10 – 15]. Einige Ergebnisse zeigt die Abbildung 2.

Um das individuelle Risiko eines Patienten zu ermitteln, sind Messungen während einer Woche mit chronobiologischer Auswertung notwendig. Aussagekräftige Daten über die Blutdruckschwankungen einer Population lassen sich bereits mit wenigen Messungen im Tagesverlauf gewinnen.

Auswertung nach über 28 Jahren

Um dies zu bestätigen und zugleich den langfristigen prognostischen Wert der Blutdruckamplitude zu untersuchen, wurden Daten einer Patientengruppe, bei der im Jahr 1967 manuelle Blutdruckmessungen im Tagesverlauf vorgenommen worden waren, retrospektiv chronobiologisch ausgewertet. Die Patienten waren damals von den Professoren Max Halhuber, heute Bad Berleburg, und Franz Halberg, heute Minneapolis, in der Klinik Höhenried in Oberbayern untersucht worden.

Für die retrospektive Auswertung war es erforderlich, das weitere Schicksal der Patienten aufzuklären. In einer mühevollen Detailarbeit konnte 1996 in einzelnen Fällen ermittelt werden, ob die Patienten noch lebten bzw. verstorben waren. Erfolgreich war die Suche über einige Krankenkassen und insbesondere über die Einwohnermeldebehörde der Stadt Salzburg. Über alte Patientenakten und die damals behandelnden Ärzte ließ sich dagegen nach so langer Zeit kein Kontakt mehr herstellen.

Die Patientengruppe von 1967 bestand aus 63 Männern im Alter zwischen 20 und 55 Jahren. Bei ihnen war mithilfe eines einfachen Quecksilber-Sphygmomanometers

  • für jeweils zwei Tage
  • sechs bis sieben Mal täglich
  • in Intervallen von zwei bis drei Stunden während der Wachphase
  • der systolische und der diastolische Blutdruck gemessen worden.

    Mithilfe der Methode der kleinsten Quadrate wurde eine Cosinusfunktion mit 24-stündiger Periode angepasst, mit der die Blutdruckverläufe charakterisiert wurden. Dadurch erhält man auch den "Midline-Estimating Statistic of Rhythm" (MESOR), einen Mittelwert, der die Unregelmäßigkeiten der Probennahme, insbesondere durch die Pause in der Schlafphase, ausgleicht und daher zumeist aussagekräftiger als ein arithmetischer Mittelwert ist.

    Von zunächst 19 und später 21 ermittelten Personen waren im Januar 1996 noch neun bzw. zehn am Leben, die übrigen zehn bzw. elf verstorben. Die Verstorbenen hatten im Vergleich zu den Überlebenden einen höheren MESOR sowohl des systolischen Blutdrucks (158,3 vs. 118,2 mmHg, p < 0,001) als auch des diastolischen Blutdrucks (DBD4, d. h. diastolischer Blutdruck mit Abschwächung des Korotkoff-Geräusches: 96,0 vs. 81,5 mmHg, p = 0,006; DBD5, d. h. mit Verschwinden des Korotkoff-Geräusches: 93,5 vs. 78,1 mmHg, p = 0,007) und zudem eine größere zirkadiane Amplitude (systolisch: 18,9 vs. 9,9 mmHg, p = 0,025; DBD4: 11,4 vs. 7,1 mmHg, p = 0,071; DBD5: 10,6 vs. 6,6 mmHg, p = 0,024), wie es der Arbeitshypothese entsprach (Daten bei den Autoren an der Universität von Minnesota).

    Erwartungsgemäß waren die Verstorbenen im Durchschnitt fast acht Jahre älter als die Überlebenden. Bemerkenswert erscheint jedoch, dass nur einer der zehn Überlebenden einen CHAT hatte, aber sieben der elf Verstorbenen [18]. Dabei korreliert der CHAT keineswegs mit dem Alter, denn in einer anderen Untersuchung wurde eine Abnahme des CHAT mit zunehmendem Alter gefunden [17].

    Erkenntnisse der Chronobiologie

    Die geschilderte retrospektive Auswertung von Daten, die bei wenigen Patienten mit einfachen Messverfahren erhoben worden waren, erbrachte Ergebnisse, die für die gesamte Patientengruppe statistisch aussagekräftig sind. Denn das Ergebnis deckt sich mit den Auswertungen von 48-Stunden- oder 1-Wochen-Untersuchungen an über 1000 Patienten [11 – 16]. Dies unterstreicht das günstige Kosten-Nutzen-Verhältnis chronobiologischer Studien.

    Demgegenüber stützen sich teure multizentrische Studien an großen Patientengruppen oft nur auf zeitlich nicht gezielte Einzelmessungen des Blutdrucks. Solche Studiendesigns berauben sich a priori der Möglichkeit, den prognostisch so wichtigen zirkadianen Verlauf zu untersuchen und CHAT-Fälle aufzudecken.

    In der vorliegenden Untersuchung sind allerdings die geringe Zahl der Probanden und das Fehlen von Daten über Therapien, Todesursachen und -umstände zu bemängeln. Wegen der geringen Zahl der Patienten lassen sich die Effekte der unterschiedlichen Risikofaktoren auch nicht hinreichend trennen. Doch konnte bei einer früheren sechsjährigen prospektiven Studie zwischen dem Beitrag

  • des Altersunterschiedes,
  • des Hypertonus als solchem und
  • des CHAT unterschieden werden. Demnach ist der CHAT ein von anderen Risiken unabhängiges Risiko für einen Schlaganfall, wie die Fälle von Normotonikern sowie von Personen unter 60 Jahren und ohne weitere Risikofaktoren gezeigt haben (s. Tab. 1).

    Chronobiologische Blutdruckdiagnostik

    Mit der heute üblichen Blutdruckdiagnostik wird der CHAT nicht erfasst, insbesondere wenn er nicht mit einem erhöhten Blutdruckmittelwert verbunden ist, was oft der Fall ist [11, 19]. Aufgrund verschiedener Studien sind Messungen über einen Zeitraum von sieben Tagen alle drei Stunden, mit einer Messung in der Mitte der Schlafphase, zu empfehlen, um den Blutdruckverlauf zuverlässig zu charakterisieren. Doch in manchen Fällen sind zur chronobiologischen Auswertung sogar mehrwöchige Überwachungen erforderlich. Denn vorübergehende Blutdruckerhöhungen können auch durch das ungewohnte Messen oder besondere emotionale Situationen ausgelöst werden, ohne dass man von einem Dauer-CHAT im strengen Sinne reden kann. Ein CHAT, der auf einer Überwachung von weniger als sieben Tagen beruht, wird als "transienter CHAT" bezeichnet.

    Zur Auswertung der Messwerte liegen in der Universität von Minnesota Referenzwerte für Blutdruck und Herzfrequenz in allen Altersgruppen von Neugeborenen bis zu Hundertjährigen vor. Diese werden derzeit durch Referenzwerte für siebentägige EKG-Erfassungen ergänzt. Für die Selbstmessung empfiehlt sich der Einsatz automatischer Geräte, die ganztätig getragen werden und mittlerweile durchaus erschwinglich geworden sind. Interessenten (auch aus der Apothekerschaft) können sich für Analysen per E-Mail an corne001@tc.umn.edu wenden [20].

    Durch eine chronobiologische Blutdruckdiagnostik könnten bisher asymptomatische Personen, die trotz normalen mittleren Blutdrucks wegen eines CHAT ein deutlich erhöhtes kardiovaskuläres Risiko aufweisen, identifiziert und einer blutdruckkoordinierenden Therapie zugeführt werden. Hier bietet sich besonders autogenes Training als nicht-medikamentöse Therapie an. Auch Hypertoniker könnten von einer chronobiologischen Blutdruckdiagnostik profitieren. Bei ihnen könnte die Pharmakotherapie an die zirkadianen Schwankungen angepasst werden, um Nebenwirkungen und Gesamtdosis der Arzneimittel zu reduzieren.

    Herausforderung für die Allgemeinheit

    Die chronobiologische Blutdruckdiagnostik kann als Herausforderung für alle Beteiligten im Gesundheitswesen und die gesamte Öffentlichkeit angesehen werden. Neben der individuellen ärztlichen Diagnostik eröffnet sich hier Bedarf für groß angelegte Screening-Untersuchungen, die im Ausland beispielsweise schon auf kommunaler Ebene realisiert wurden [16].

    Doch auch für die Pharmazeutische Betreuung von Blutdruckpatienten in der Apotheke ergeben sich neue Perspektiven. Möglicherweise könnte ein breit angelegtes Screening auf Initiative der Apothekerschaft sowohl ein verstärktes Bewusstsein für die Chronobiologie schaffen als auch die Pharmazeutische Betreuung in der Öffentlichkeit besser bekannt machen und letztlich vielen Patienten nutzen.

    Kastentext: Definition

    CHAT (Circadian Hyper-Amplitude-Tension = Zirkadianer Hyperamplituden-Blutdruck) ist definiert als Blutdruckamplitude, die im Tagesverlauf (d. h. zirkadian) das obere akzeptable Vorhersageintervall des Blutdruckes überschreitet, und zwar bei 95%iger Akzeptanzwahrscheinlichkeit, im Vergleich zu gesunden Vergleichspersonen entsprechenden Alters und Geschlechtes.

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    Anschrift für die Verfasser: Thomas Müller-Bohn, Seeweg 5a, 23701 Süsel

  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die wichtigste Todesursache in Industrieländern. Um die gefährdeten Personen zu erkennen, bieten Erkenntnisse der Chronobiologie Informationen, die bisher noch kaum beachtet werden. So konnte der CHAT, eine übermäßige Schwankung des Blutdrucks im Tagesverlauf, als bedeutsamer eigenständiger Risikofaktor für Schlaganfälle identifiziert werden.

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