DAZ aktuell

Wenn die Uhr stehen bleibt: die neue Approbationsordnung und der Gegenstandskata

Von Joachim E. Schultz, Tübingen

Zum Wintersemester 2001/2002 ist die novellierte Approbationsordnung (AAppO) in Kraft getreten, die dritte nach 1971 und 1989. Dazu erschien im Januar der Gegenstandskatalog 2002 (GK) für den ersten Prüfungsabschnitt, erstellt von der Abteilung Pharmazie des Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen in Mainz (IMPP) in Zusammenarbeit mit 26 Hochschullehrern aus 16 Universitäten. Die AAppO 2001 wollte einen Modernisierungsschub und eine Hinwendung zu Patienten bezogenen Ausbildungsinhalten bringen. Daher wurden z. B. die chemischen Praktika um ca. 15% gekürzt. Man denkt, dies würde sich im GK 2002, der stofflichen Basis des Grundstudiums, niederschlagen. Weit gefehlt, von Reform keine Spur! Abgesehen von geringen Kürzungen in der pharmazeutischen Biologie, die durch Humanbiologie ergänzt wurde, wurde im GK 2002 wie immer nur draufgesattelt. An die ungekürzte Physik wurden Lehrinhalte der Technologie angehängt, die Analytik als typisch pharmazeutische Disziplin wurde ebenso wie die bereits aus allen Nähten platzende allgemeine, anorganische und organische Chemie etwas erweitert. Liebe Kollegen, der Pharmaziestudent muss auch künftig (Kostproben nach GK 2002) die Gewinnung von Fluor, Chlor, Brom und Jod wissen (2.3.1), die Syntheseplanung organischer Stoffe, konvergente, lineare Synthese und Retrosynthese an Beispielen vornehmen können (3.2.1), Synthesen von Furan-, Pyrrol-, Thiophen-, Pyrazol-, Imidazol-, Thiazol-, Pyridin-, Pyrimidin-, Pyrazin-, Indol-, Chinolin-, Isochinolin- und Purinderivaten (3.15.3), die Synthese der proteinogenen Aminosäuren samt Racematspaltung und der Möglichkeit asymmetrischer Synthesen lernen (3.17.5), die Verdampfungsenthalpie des Wassers auswendig drauf haben, die Möglichkeiten der Wärmedämmung (Isolierung; 3.4.1), thermische Elektronenemission (4.4.6) und den Aufbau, Betrieb und Wirkungsweise einer Röntgenröhre (7.2.5) kennen. Sie können ihren Patienten sogar Auskunft über Dosimetrie erteilen (7.3.7). Wenn nur die in der allgemeinen Chemie auf 15 Seiten ausgebreitete Themenvielfalt ernsthaft gelehrt und gelernt wird, schlägt jeder Pharmaziestudent seine Kommilitonen aus der Chemie um Längen. Oder ist das alles nicht so ernst gemeint? Muss man jeden Pharmazeuten durch die gesamte anorganische und organische Chemie (und die halbe Physik) jagen, damit er sein Berufsziel erreicht, nämlich die Fähigkeit Kranke in der Apotheke fachlich kompetent und vernünftig zu beraten? Der GK 2002 ist in der Lehre in vier Semestern schlicht nicht zu vermitteln. Was sind die Folgen? Die Professoren lehren mehr denn je, und beklagen das mangelnde studentische Interesse. Die meisten Pharmaziestudierenden lernen meist nur so viel, dass sie die Klausuren bestehen, und entleeren dann den Speicher. Wir fördern und perpetuieren einen Lernstil des Auswendigpaukens, Antidot der Kreativität. Man lernt für den ersten Teil des Staatsexamens nach den verfügbaren Fragensammlungen (teilweise mit Repetitor!), während sich die Dozenten vergeblich mühen, wissenschaftliche Begeisterung zu wecken. Die Zwangsjacke GK tötet jede kreative Regung im Keim ab. Zwei Jahre eines dergestalt prägenden Grundstudiums vereiteln alle Mühen, noch im Hauptstudium wissenschaftliches Interesse und Freude zu wecken. Wie konnte es dazu kommen? Ein Blick in die AAppO der Jahre 1971, 1989 und 2001 und in die GKe 1975, 1982, 1990 und 2002 genügt. Man vergleiche zum Beispiel die Anlagen 9 und 13 der AAppO von 1971, 1989 und 2002. Dort steht der Prüfungsstoff für die Fächer des ersten Prüfungsabschnitts. Man reibt sich die Augen und meint, die Welt sei stehen geblieben. So hat sich zum Beispiel der Abschnitt I. Allgemeine, anorganische und organische Chemie in den AAppO von 1971, Ď89 und 2002 abgesehen von Sprachkosmetik wenig geändert (das Wort Synthese kommt nie vor, sondern wird mit dem deutbaren Begriff Herstellung umschrieben). Was immer in den vorhergehenden Paragraphen mit guten Intentionen geändert worden ist, in diesen Anlagen ist festgezurrt, was im Studium der Pharmazie gelehrt und gelernt werden soll. Die Welt hat sich in den vergangenen 30 Jahren dramatisch gewandelt. Die Wissenschaftsdidaktik hat sich erheblich entwickelt. Die beruflichen Anforderungen an den Apotheker sind von 1971 bis 2002 einschneidend verändert worden, und im pharmazeutischen Grundstudium bleibt fast alles beim Alten. Beratungs- und Informationsauftrag, Pharmazeutische Betreuung, Disease Management, Gesundheitsberatung, Ernährungsberatung, Präventivmedizin, onkologische Beratung, Diabetesberatung, Versandhandel, Internet-Apotheke, Fachapotheker, Fortbildung, Weiterbildung, Zertifikatsfortbildung, Schlagworte, die größtenteils 1971 im Zusammenhang mit der pharmazeutischen Berufsausübung nicht gefallen sind, werden heute permanent angerufen. Die Bemühungen der Apothekerschaft, mit der AAppO 2001 eine zeitnahe Ausbildung zu schaffen, deren Inhalte mehr auf die in der Mehrzahl in der öffentlichen Apotheke tätigen Apotheker auszurichten sind, sind m. E. schlicht nicht umgesetzt worden. Neukonzeption: Fehlanzeige; Hinzufügungen: ja, Streichungen: nein, schon ausgelaugte Teeblätter wurde erneut mit heißem Wasser gebrüht, das warís mit der AAppO 2001. Es wurden die alten Begriffe in den Prüfungsstofflisten der zitierten Anlagen belassen und das Füllen mit zeitgemäßen Inhalten verpasst, obwohl dies doch Intention und gesetzlicher Auftrag war. Vielleicht sollte man die den GK verfassenden Kommissionen am IMPP durch Berufsvertreter der ABDA ergänzen, damit die Absichten des Verordnungsgebers umgesetzt werden, oder man schafft die Prüfung durch das IMPP ab und überlässt den Universitäten den Wettstreit um eine zeitnahe Ausbildung. Und wie lautet die Begründung für das rituell wiederkehrende Einbalsamieren dieser Mumie? Wir bilden nicht für den praktischen Beruf aus, sondern für die Berufsfähigkeit. Die Apotheker in der Industrie, in Patentämtern, bei der Bundeswehr, in Krankenhäusern, in Personalabteilungen, bei Versicherungen benötigen schließlich die detaillierte Breite des pharmazeutischen Wissens (ohne dass dafür irgendwelche besonderen Curricula angeboten werden). Hat das etwas mit der Realität der wesentlichen pharmazeutischen Tätigkeiten zu tun? Nein, denn die Gesamtheit der pharmazeutischen Berufswelt definiert sich in der Öffentlichkeit faktisch ausschließlich über die Tätigkeitsfelder in der öffentlichen Apotheke. So wird der Apothekerstand von den Standesorganisationen vertreten und so wird er durch die Öffentlichkeit und Politik wahrgenommen. Haben Sie in der ganzen Debatte um eine Modernisierung der Ausbildung einmal die Stimme der Industrieapotheker, der Apotheker in der Verwaltung oder bei der Bundeswehr vernehmlich gehört? Die überwiegende Mehrheit der Apotheker will ihre Patienten fachgerecht beraten können und mit dem Arzt eine Kooperationsroutine zur Entwicklung optimaler Therapien aufbauen. Dazu benötigen sie weder (Beispiele) Detailkenntnisse von Arzneistoffsynthese, NMR, NIR, HPLC-MS, GC-MS oder Zirkulardichroismus, noch von der Mechanik ruhender Flüssigkeiten und Gase. Die Art der Hochschulausbildung, die mit den Anforderungen an den öffentlichen Apotheker immer weniger zu tun hat, wird mit Argumenten für eine verschwindende, in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Minderheit begründet. Zwar ist auch die Pharmazie der zunehmenden Spezialisierung tributpflichtig, aber das Grund- und Hauptstudium können nicht alle pharmazeutischen Teilaspekte detailliert abdecken. Für eine Spezialisierung ist die Promotion die richtige Qualifikation. Mit der derzeitigen Art von Universitätsausbildung ist der Hochschulabgänger unzureichend für die vielfältige Beratungstätigkeit in der öffentlichen Apotheke gewappnet, welche die Berufsorganisationen zu Recht und mit Nachdruck für den Apothekerstand reklamieren. Man sieht es überdeutlich an der Herkunft der Referenten bei Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen, die auf die öffentlichen Apotheker zentriert sind. Dort sind Hochschullehrer aus der Pharmazie eine Minderheit. Warum? Weil das, was diese den Apothekern im Studium vermittelt haben, für sie weitgehend irrelevant ist. Aber Hand aufs Herz, wer in der Apothekerschaft interessiert sich gerade für die entrückte universitäre Ausbildung? Dafür, dass der Quotient des verwendbaren und des vermittelten Wissens gefährlich im roten Bereich pendelt? Allenfalls ein paar Idealisten bei den Berufsvertretungen. Es ist hier zwar nicht der Platz für detaillierte Reformkonzepte, aber aus dem Stand kann man nicht weit springen. Deshalb, mit Anlauf, ein paar mutige Denkvorschläge, über das beanstandete Grundstudium hinausreichend: ein chemisches Großpraktikum weitgehend ohne didaktisch fragwürdige richtig/falsch Analysen im Grundstudium und zwei im Hauptstudium (instrumentelle Analytik und das zusammengefasste Arzneibuch- und Stas-Otto-Semester); Kappung der Technologiethematik im Hauptstudium; erhebliche Straffung der Physik; Integration aller pharmazeutisch-biologischen Praktika; klinische Pharmazie in die Pharmakologie; Anleihen bei den Studiengängen Biomedizin (es stimmt doch etwas nicht in der Pharmazie, wenn immer mehr Fakultäten derartig pharmazeutisch orientierte Ausbildungsgänge neu einführen); Rechtsgebiete, Zulassungsverfahren regulatory affairs; interdisziplinärer Unterricht mit Medizinstudenten um die Kommunikationsfähigkeit der Heilberufe vorzubereiten. Auch ein Blick in vergleichbare Prüfungsstofflisten der Medizin (einschließlich der Ausfüllungen durch den dortigen GK) wäre nützlich, nicht zuletzt um die Wissensschnittflächen der Gesundheitsberufe zu vergrößern. Sollte man an die Schaffung von Organisationsstrukturen ähnlich den Health Science Centers der USA denken? Können wir Lehrinhalte aus den Schools of Public Health der USA in Betracht ziehen (Fachbeispiele aus Harvard: Biostatistics; Environmental Health; Epidemiology; Health Policy and Management; Health and Social Behavior; Immunology and Infectious Diseases; Nutrition)? Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Meinen Sie, wir können es uns leisten, mit einer Anpassung der Lehrinhalte an unsere beruflichen Verpflichtungen noch lang zu warten? Vielleicht sollten wir uns unverzüglich an die Erneuerung des verfehlten GK 2002 wagen und damit Schwung holen für eine Neukonzeption der pharmazeutischen Ausbildung im 21. Jahrhundert.

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