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Arzneimittel und Therapie
Multiple Sklerose: Aktuelle Empfehlungen zur Frühtherapie
Die MS wird als entzündliche Erkrankung des Nervensystems betrachtet, bei der - wahrscheinlich durch autoimmune Mechanismen ausgelöst - die Myelinscheiden zerstört werden, welche die Axone umhüllen. Während eines akuten Schubs öffnet sich die Blut-Hirn-Schranke, autoreaktive T-Zellen wandern ins Gehirn ein und beginnen dort ihr zerstörerisches Werk. Dadurch wird die Funktion der Nerven gestört, und im Nervensystem können unterschiedliche Ausfallerscheinungen auftreten.
Der Vorgang wird als Demyelinisierung oder auch als Entmarkung bezeichnet und kann sich nach Ende der Entzündungsreaktion wieder zurückbilden, indem sich die Myelinscheiden zumindest teilweise regenerieren. An den verletzten Stellen können sich auch Narben bilden (Sklerose). Je nach Ort der Entzündungsreaktion kommt es zu unterschiedlichen Ausfallerscheinungen.
In den letzten Jahren ist bekannt geworden, dass es außer der entzündlichen Entmarkung auch noch zu einem Verlust an Axonen kommt, der allerdings irreversibel ist. Diese axonalen Schäden treten, wie man heute weiß, bereits früh im Krankheitsverlauf auf. Möglicherweise beruht die Krankheitsprogression vor allem auf diesem chronischen Axonverlust, der zwar durch die Entzündung getriggert wird, aber durch nicht-entzündliche Mechanismen langfristig unterhalten wird. Der Axonverlust scheint auch in den klinischen Remissionsphasen unbemerkt fortzuschreiten.
Die Ursachen für die Erkrankung sind ungeklärt. Heute geht man davon aus, dass eine multifaktorielle genetische Disposition und exogene Triggerfaktoren eine wichtige Rolle in der Pathogenese spielen. 85% der symptomatischen Patienten haben bei der Diagnose einen so genannten schubförmig-remittierenden Verlauf. Bei ungefähr der Hälfte bis zwei Dritteln der Patienten mit schubförmig-remittierender MS geht diese innerhalb von 10 Jahren in die schwerere sekundär progrediente Form über. In diesem Stadium der Krankheit - nimmt die MS einen stetig fortschreitenden Verlauf an.
Diagnose schon nach dem ersten Schub stellen
Früher wurden Verdachtsdiagnosen oder auch die Diagnose zu Beginn der Erkrankung dem Patienten häufig nicht mitgeteilt - man wollte ihn nicht unnötig beunruhigen und hatte ohnehin nur wenig therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung. Der Zeitpunkt der Diagnosestellung ist für den Erkrankten einer der nachhaltigsten Erlebnisse in seinem Leben. Vorurteile und Ängste müssen aufgefangen, Therapien müssen vorgestellt und akzeptiert, Lebenspartner und Familienplanung müssen einbezogen werden. Heute lauten die Empfehlungen der MSTKG (Multiple Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe), bei Patienten zum Teil schon nach einem Schub die Diagnose zu stellen und unter Umständen sofort eine immunmodulatorische Behandlung einzuleiten.
Die neuen Diagnosekriterien der Multiplen Sklerose (McDonald-Kriterien) ermöglichen heute unter Einbeziehung von kernspintomografischen Befunden eine frühe Diagnose schon nach den ersten klinischen Symptomen. Nach diesen Kriterien kann eine MS bereits dann diagnostiziert werden, wenn nach einem ersten Krankheitsschub mit deutlichen Störungen in mindestens einem Funktionssystem (z. B. Sehnervenentzündungen, Gefühlsstörungen oder Lähmungen) in einer weiteren Kernspintomografie etwa drei Monate nach dem ersten Schub mehrere entzündliche Herde, von denen mindestens einer aktiv sein muss, nachgewiesen werden. Unterstützend werden die Ergebnisse der Liquoruntersuchung herangezogen.
Frühe Behandlung bremst Progression
Somit kann eine MS frühestens drei Monate nach Auftreten des ersten Schubs diagnostiziert werden, und damit kann auch frühzeitig mit einer Therapie begonnen werden. Dies scheint für den weiteren Verlauf sehr wichtig zu sein: 80% der Patienten, die im initialen Kernspintomogramm typische Veränderungen zeigen, weisen nach 5 Jahren eine manifeste MS auf.
Ein akuter Schub wird heute hochdosiert intravenös (1 g an drei aufeinander folgenden Tagen) oder auch oral mit 500 mg Methylprednisolon täglich über mehrere Tage behandelt, um die Entzündungsreaktion abzubremsen und weitere Schäden zu verhindern. Bereits in der frühen Phase der Erkrankung kommt es zu zahlreichen Veränderungen, die klinisch meistens nicht bemerkt werden. So kommt es bereits von Anfang an zu unterschwelligen entzündlichen und neurodegenerativen Reaktionen. Die im Kernspintomogramm sichtbaren Läsionen und die klinischen Schübe entsprechen damit nur der Spitze des Eisbergs. Permanente neurologische Defizite treten bereits sehr früh im Krankheitsverlauf auf, und später kommt es auch zu einer Atrophie des Gehirns. Zu Beginn der Erkrankung weist das ZNS noch zahlreiche intrinsische Reparaturmechanismen auf: Vorläuferzellen der Oligodendrozyten können das entmarkte Axon wieder neu bemarken.
Moderne Therapie ist mehr als Schubprophylaxe
Nach einem Schub werden die modernen Arzneimitteln zur Schubprophylaxe eingesetzt. Sie sollen neben der Entzündung auch die axonalen Schäden verhindern. Ein wichtiges Ziel ist es, den Krankheitsverlauf zu verzögern und damit bleibende Behinderungen so lange wie möglich zu vermeiden. Dieses Ziel kann heute mit den Beta-Interferonen und mit Glatirameracetat (Copaxone®) erreicht werden, das bei uns seit Ende 2001 auf dem Markt ist.
Von den Beta-Interferonen stehen seit einigen Jahren drei verschiedene Präparate zur Verfügung: Betaferon® von Schering, Avonex® von Biogen und Rebif® von Serono. Alle Präparate sollten möglichst früh im Krankheitsverlauf eingesetzt werden. Für Avonex® liegt jetzt eine Zulassung für die Frühtherapie nach dem ersten Schub bei entsprechender Aktivität vor. Rebif® und Betaferon® zeigen bei mehrmaliger Applikation pro Woche eine dosisabhängige Wirksamkeit. Die Beta-Interferone können, ebenso wie Glatirameracetat, die Schubrate um etwa ein Drittel reduzieren. Für welchen Patienten welches Präparat geeignet ist, hängt von zahlreichen Faktoren ab.
Beta-Interferone und Glatirameracetat
Die Wirksamkeit der Beta-Interferone ist sehr gut dokumentiert. Sie empfehlen sich vor allem bei einem aktiveren Krankheitsverlauf zu Beginn. Nachteilig bei den Beta-Interferonen sind die grippeartigen Nebenwirkungen sowie die Reaktionen an den Einstichstellen zu beurteilen. Besser verträglich scheint Glatirameracetat zu sein, das als einzige Unverträglichkeitsreaktion eine unangenehme sofortige Postinjektionsreaktion aufweisen kann, die jedoch ungefährlich und eher selten ist und sich meist folgenlos zurückbildet.
Glatirameracetat benötigt etwa sechs Monate, bis die Wirkung eintritt und ist deshalb für weniger aktive Verlaufsformen besser geeignet. Als Zeichen der Wirkung können unter der Behandlung mit Glatirameracetat die Lymphdrüsen anschwellen. Für Glatirameracetat liegen Langzeitdaten aus acht Anwendungsjahren vor. Viele Patienten profitieren von der anhaltenden Wirkung dieses Arzneimittels und konnten ihre Schubfrequenz deutlich reduzieren.
Schützt Glatirameracetat die Nervenzellen vor dem Untergang?
Glatirameracetat ist ein synthetisches Polypeptid, das sich aus den L-Aminosäuren Glutaminsäure, Lysin, Alanin und Tyrosin zusammensetzt und in seinem Aminosäureverhältnis einem Hauptbestandteil des Myelins, dem myelinbasischen Protein (MBP), vergleichbar ist. Glatirameracetat besitzt einen anderen Wirkungsmechanismus als die Interferone.
Die Therapie mit Glatirameracetat soll zur spezifischen Bildung von Immunzellen führen, die vor Ort protektiv wirken. Die tägliche Behandlung führt über längere Zeit zu einer Veränderung des Zytokin-Sekretionsmusters und zu einer Veränderung der Effektorfunktion spezifischer T-Helferzellen (Th-Zellen). Insgesamt scheint sich die T-Helferzellantwort von der entzündlichen Th1-Reaktion zu einer Th2-Antwort zu verschieben. Th1-Zellen produzieren bevorzugt proinflammatorische Zytokine, Th2-Zellen setzen dagegen bevorzugt antiinflammatorische Zytokine frei. Die unter der Behandlung mit Glatirameracetat gebildeten spezifischen Th-Zellen können nach der Aktivierung nicht nur antientzündliche Wirkstoffe bilden, sondern produzieren auch neuroprotektive Faktoren, wie zum Beispiel den Brain-derived neurotrophic factor (BDNF). Da Glatirameracetat täglich appliziert wird, werden auch die spezifischen Th-Zellen jeden Tag neu aktiviert. Dieser Effekt bleibt erhalten: Die Veränderungen sind auch nach sechs bis neun Jahren Therapiedauer noch nachweisbar. Neben diesen Wirkungen gibt es auch Hinweise im Kernspintomogramm, dass Glatirameracetat den irreversiblen Axonverlust aufhalten kann.
Therapeutische Wirkung bei Patienten mit primär-progredienter Multipler Sklerose
Patienten mit einem schnell fortschreitenden Krankheitsverlauf die schon zu Beginn der Erkrankung eine sekundär progrediente Verlaufsform zeigten waren bis jetzt noch schwerer zu behandeln als Patienten mit einer schubförmig-remittierenden MS. Die primär-progrediente MS, die ca. 15% aller diagnostizierten MS-Fälle darstellt, zeichnet sich durch ein stetiges Fortschreiten der Krankheit und nur seltene Remissionen aus. Im Hinblick auf Behinderungsgrad und Mortalität haben diese Patienten eine weitaus weniger günstige Prognose gegenüber der schubförmig-remittierenden und sekundär-progredienten Multiplen Sklerose und hatten bis jetzt auch keine therapeutische Option. Jetzt zeigen erste Daten zu Interferon beta-1b (Betaferon®), dass diese Therapieform auch noch in späteren Stadien wirkungsvoll ist.
Im Rahmen der doppelblinden, monozentrisch durchgeführten Studie wurden 73 Patienten randomisiert und erhielten zwei Jahre lang jeden zweiten Tag entweder 8 Mio. IE (250 µg) Interferon beta-1b oder Plazebo. 96% aller Patienten erreichten das Studienende. Sicherheitsparameter, Blutuntersuchungen und klinische Ergebnisse wurden alle drei Monate erhoben. MRT-Messungen sowie eine neuropsychologische Beurteilung wurden jährlich durchgeführt. Am Studienende wurden statistisch signifikante Unterschiede für die Läsionslast sowie die Anzahl aktiver Läsionen zu Gunsten der mit Betaferon<® behandelten Gruppe festgestellt. Ferner lag der Anteil von Patienten mit bestätigter Progression nach sechs Monaten bei 22,2% in der Betaferon®-Gruppe gegenüber 32,4% in der Plazebo-Gruppe.
Kastentext: Multiple Sklerose
Die Multiple Sklerose ist in unseren Breiten die häufigste entzündliche Erkrankung des ZNS. Sie entsteht durch einen Angriff des Immunsystems auf körpereigene Strukturen. In Deutschland sind zwischen 120 000 und 150 000 Menschen von der MS betroffen. Normalerweise beginnt eine MS zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr, wobei Frauen etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Bei 80% der Erkrankten beginnt die Krankheit mit einem schubförmig-remittierenden Verlauf, in dem sich Schübe mit oft langen, klinisch unauffälligen Remissionsphasen abwechseln.
Aber auch während der klinisch stummen Phasen ist die Krankheit aktiv. Entzündungsprozesse und irreversible Nervenschädigungen finden unbemerkt statt. Anfangs kann das ZNS diese Schäden zumeist noch funktionell kompensieren. Bei über zwei Drittel der Patienten geht der schubförmige Verlauf später in eine sekundär-progrediente Verlaufsform über, in der permanente neurologische Ausfälle akkumulieren.
Die klinischen Symptome der MS hängen von Lokalisation und Schwere der neuronalen Entzündung und Schädigung im ZNS ab. In der Frühphase macht sich ein Schub häufig durch unspezifische Gefühlsstörungen bemerkbar. Bei vielen Betroffenen wird die Erkrankung das erste Mal durch eine Optikusneuritis klinisch manifest. Bei rund 90% aller MS-Patienten treten im Krankheitsverlauf zahlreiche Bewegungsstörungen auf. Etwa die Hälfte der Betroffenen benötigen nach 15-jähriger Krankheitsdauer eine Gehhilfe.
Quellen: Dr. Tjalf Ziemssen, Martinsried; Prof. Dr. Hans-Peter Hartung, Düsseldorf; Fachpressegespräch Copaxone®: First-line bei Multipler Sklerose; und Prof. Dr. Hans-Peter Hartung, Düsseldorf; Prof. Dr. Peter Rieckmann, Würzburg; Priv.-Doz. Dr. Michael Sailer, Magdeburg; Satellitensymposium Copaxone - Entzündungshemmung und Neuroprotektion zugleich?, Mannheim, 25. September 2002, veranstaltet von Teva Pharma GmbH, Mörfelden-Walldorf, und Aventis Pharma Deutschland GmbH, Bad Soden.
Prof. Dr. Peter Rieckmann, Würzburg; Dr. Thomas Börner, Stade; Ronja Gref, Oberursel; Schering-Fachpressegespräch Frühe Therapie der Multiplen Sklerose, Mannheim, 26. September 2002, und Satellitensymposium Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Mannheim, 26. September 2002, veranstaltet von der Schering Deutschland GmbH, Berlin.
Die Multiple Sklerose ist eine sehr häufige entzündliche Erkrankung des Nervensystems, von der vor allem junge Erwachsene betroffen sind. Bei der Behandlung dieser Erkrankung hat sich in den letzten 10 Jahren viel geändert. Durch die neuen immunmodulatorischen Therapieformen hat sich vor allem die Behandlung im Frühstadium verbessert, aber auch Erkrankte in späteren Stadien können mit Therapieeffekten rechnen.
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