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Berichte
Humangenom: Viele Antworten und noch mehr Fragen
Gleich zwei wissenschaftliche Konsortien publizierten vor mehr als einem Jahr eine erste Version des menschlichen Genoms. Was zu Anfang euphorisch als "Landung auf dem Planeten Erbgut" gefeiert wurde, erwies sich bei näherer Betrachtung erst als Beginn einer Reihe von Fragen und Forschungsansätzen. Neben großen Hoffnungen – beispielsweise individuelle Medikamente kreieren zu können – machten sich bald auch Befürchtungen breit. Die Vision des "gläsernen Menschen" schien mit einem Mal real geworden.
Maßgeschneiderte Arzneimitteltherapie
Tatsächlich eröffnet dieses neue Wissen eine Vielzahl an Möglichkeiten. In der Vergangenheit war es für den Molekularbiologen ein großes Problem, abzuschätzen, wie viele Gene ersatzweise einspringen können, wenn ein bestimmtes Gen erfolgreich ausgeschaltet wurde. Zum ersten Mal wird jetzt ein Gesamtbild sichtbar; Gene können in Kategorien wie z. B. zelluläre Infrastruktur, Stoffwechsel, Wachstum oder Proteintransport eingeteilt werden. Der "Gegner" ist somit berechenbar geworden.
Der genetische Fingerabdruck ist heutzutage weder aus der Forensik noch aus dem Bereich des Vaterschaftsnachweises wegzudenken. Relativ jung ist die Entdeckung der SNPs (single nucleotide polymorphisms). Diese geringfügigen Veränderungen der DNA-Sequenz könnten es ermöglichen, Therapien individuell auf den einzelnen Patienten zuzuschneiden. Allein die Betrachtung der entsprechenden SNPs eines Menschen würde genügen, festzustellen, wie dieser auf ein bestimmtes Medikament reagiert.
Fortschritte sind auch auf dem Gebiet der Gentherapie zu verzeichnen. So ist es in einem Fall gelungen, körpereigene weiße Blutzellen zu entnehmen, mit einem intakten ADA-Gen zu versehen und sodann wieder in den Körper einzuschleusen. Der Defekt dieses Gens, das für die Bildung der Adenosin-Desaminase (ADA) verantwortlich ist, ruft eine schwere Form der Immunschwäche hervor. Vielversprechend sind auch die Ansätze für die Therapie der Mukoviszidose, bei der das entsprechende intakte Gen in Form eines Nasensprays verabreicht werden kann. Trotz dieser Erfolge machte Müller-Esterl jedoch auch deutlich, dass zum momentanen Zeitpunkt die Zahl der Misserfolge – zum Teil mit tragischen Konsequenzen – bei weitem überwiegt.
Nicht Quantität, sondern Qualität entscheidet
Als "Alphabet der Gene" bezeichnete Müller-Esterl die Basenpaare Adenin und Thymin, Guanin und Cytosin, aus denen sich die DNA zusammensetzt. Die Gesamtheit der Erbinformation eines Organismus wird als Genom bezeichnet; gespeichert ist diese Erbinformation in den Chromosomen in Form der DNA.
Das menschliche Genom umfasst ca. 3,2 Milliarden Basenpaare – und liegt damit noch lange nicht an erster Stelle: Das Genom von Amphibien beispielsweise besteht aus 1010 Basenpaaren, das von manchen Blütenpflanzen sogar aus 1011 Basenpaaren. Verblüffen mag auch, dass nur rund ein Drittel des humanen Genoms aus Abschnitten besteht, die für Ribonucleinsäuren codieren. Davon werden wiederum lediglich fünf Prozent in Boten-RNA (mRNA) umgeschrieben und anschließend in Proteine übersetzt. Die Zahl der Gene, die für ein Protein codieren, beschränkt sich somit auf ca. 40 000. Die Funktion der verbleibenden zwei Drittel des Genoms ist weitgehend unbekannt.
Offensichtlich ist demnach nicht die Anzahl der Gene für den Entwicklungszustand einer Spezies entscheidend. Mehr noch: Vergleicht man das Genom des Menschen mit dem des Schimpansen, entsprechen sich die Gene zu 98,2 Prozent. Wie also erklären sich die großen Unterschiede, die sich im Laufe der Evolution zwischen Mensch und Schimpanse entwickelt haben?
Weg vom Genom –hin zum Proteom
Verantwortlich für die Vielfalt des menschlichen Organismus sind laut Müller-Esterl Transkription und Translation – und damit der Weg von der DNA über die RNA bis hin zum Protein. Aus einer einzelnen DNA-Sequenz können bei der Transkription durch RNA-Editing bzw. Spleißen verschiedene mRNA-Varianten entstehen. "Editing" beschreibt die Veränderung der Sequenz einer Prä-mRNA; durch das Spleißen werden auf unterschiedliche Weise Introns aus der DNA-Sequenz entfernt und somit die Länge einer mRNA-Sequenz variiert.
Durch Modifikationen nach der Translation – beispielsweise durch den Einbau von Disulfidbrücken oder durch proteolytische Spaltung – ergibt sich eine noch größere Vielfalt der Proteine. So entstehen aus den ca. 40 000 codierenden Genen 100 000 bis 150 000 verschiedene Proteine, die zusätzlich modifiziert werden. Alles in allem ergeben sich somit nach grober Schätzung bis zu 400 000 Proteinvarianten, die wiederum auf verschiedene Weise interagieren.
Die Gesamtheit aller Proteine eines Organismus oder eines Teils davon – z. B. einer Organelle, einer Zelle, eines Organs – wird als "Proteom" bezeichnet; die Proteomik beschäftigt sich dementsprechend unter anderem mit Struktur, Aktivität, Interaktion und Funktion der Proteine. Die Forschung auf diesem äußerst komplexen Gebiet steckt sozusagen noch in den Kinderschuhen. Die neuen Erkenntnisse versprechen jedoch eine effektivere Entwicklung von Medikamenten, deren Zielstrukturen (targets) Proteine sind. So wird es möglich sein, therapierelevante Proteine noch gezielter antagonisieren, aktivieren und steuern zu können.
Eine weitere große Herausforderung für die Wissenschaft ist das strikt geordnete Beziehungsgeflecht zwischen den Proteinen – das Interaktom. Dadurch, dass ein Protein nicht genau eine Funktion erfüllt, sondern durchaus verschiedene Aufgaben wahrnehmen kann bzw. ein Vorgang durch eine Vielzahl von Proteinen provoziert werden kann, ergeben sich eine Reihe von neuen Forschungsansätzen.
Balanceakt zwischen Fortschritt und Bedenken
Bei allen erfreulichen Fortschritten wirft die Genomik eine Reihe von ethischen und auch rechtlichen Problemen auf. Kaum ein Thema wird emotionaler diskutiert als das Experimentieren mit den Genen.
Immer noch nicht zur Zufriedenheit geklärt ist das Problem des Datenschutzes: Allzu leicht könnten Datenspeicher zur Kommerzialisierung von Informationen missbraucht werden; gewisse Informationen zögen unweigerlich die Diskriminierung am Arbeitsplatz oder auch von Seiten der Krankenkassen nach sich.
Auch für den Arzt ergeben sich Probleme: Diagnostiziert er eine Erbkrankheit bei einem Patienten, liegt es in seinem Ermessen, ob er den Betroffenen darüber informiert. Der Arzt begibt sich auf dem Gebiet der Haftbarkeit auf rechtliches Glatteis: Ist es ein Kunstfehler, wenn er beispielsweise SNPs nicht richtig zuordnet und dadurch das falsche Medikament verschreibt?
Zwar scheint es naheliegend, dominierende Bevölkerungsgruppen bei der pharmakogenomischen Entwicklung von Medikamenten zu bevorzugen – jedoch wäre dies ein weiterer Schritt in der Manifestierung der Zweiklassenmedizin.
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