Feuilleton

Kindheitserinnerung: Die Königsberger Bären-Apotheke anno 1884

Die als "Mutter Ostpreußens" bekannte Schriftstellerin Agnes Miegel (1879 bis 1964) schrieb kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als sie sich im Flüchtlingslager OksbŅl in Jütland aufhielt, ihre Kindheitserinnerungen an die Königsberger Bären-Apotheke auf. Als sie etwa fünf Jahre alt gewesen war, scheint das geduldige Warten auf die rezepturmäßig hergestellten Arzneimittel noch fester Bestandteil der Therapie gewesen zu sein. Die Apotheke war ein gern besuchter Ort der Begegnung, und gerade für Kinder gab es dort immer viel zu sehen und zu bestaunen. Besonders reizvoll war ein Besuch der Apotheke zur Weihnachtszeit. Der folgende Text ist gekürzt, aber ansonsten wortgetreu.

Alle Medikamente wurden in den schmalen, grautapezierten Apothekerstuben zur Seite des engen Korridors selbst hergestellt. Hier auf der Bank vor der Windfangtür (durch die man den Hausflur bis zur Kellertür und der alten Treppe sah) wartete man geduldig mit den vielen Andern, die da saßen und standen ..

All diese Menschen, groß und klein, alt und jung, brachten lange, dicht beschriebene Rezeptzettel mit oder kleine unordentlich abgerissene selbstgeschriebene Papiere. Sie sahen alle keineswegs sehr leidend aus, waren aber eingehenden Flüstergesprächen über ihr eignes Leiden und das der Nächsten gar nicht abgeneigt, sprachen auch gerne und ausführlich über Geburt und Tod ...

Wenn es mir beim Zuhören langweilig wurde, glitt ich unbemerkt an die Schranke und reckte mich, um herüberzusehn und zwischen den großen Medizinflaschen den Herrn Provisor zu bewundern, wie er das Pincenes (Nasenklemmer HGL) zurechtrückte, um ein Rezept zu entziffern ...

War ein Rezept gar zu unleserlich, ... wurde Herr Kunze, der Apotheker, gerufen ... Er legte vorsichtig Hornwaage und winzige Messinggewichte an ihren Platz, kam näher, rückte die Brille zurecht, las aufmerksam und sann nach. Nie lachte er wie vorwitzige junge Lehrlinge. Er belehrte nicht. Er empfahl nur "etwas ebenso Gutes". Oder er füllte aufs Zierlichste ein winziges Spanschächtelchen mit ... grünlicher "Meiransbutter" zum Einreiben des steifen Genicks oder des schmerzenden Bäuchleins ...

Ich war schon zufrieden, wenn ich zusehn durfte, wie Herr Kunze, rascher und geschickter als selbst der Provisor, die langen Rezeptfahnen mit dem Zeichen der Bärenapotheke an den schmalen Hals der großen Medizinflaschen band. Sie gaben dem anisduftenden hellgelben Hustensaft, dem strengen braunen Rhabarberwein, dem säuerlich-süßen rosenroten Salzsäuresaft für weihnachtskranke Mägen erst das richtige ernste Ansehn.

Aber dann kam der große, festliche Schluß, der dazu gehörte: auf den Korken wurde ein Mützchen aus buntem Glanzpapier gestreift und dabei rundum in winzige, feine Plisseefältchen geknüfft, dann zuletzt noch mit kunstvoll geknoteter weißer Leinenschnur umbunden ...

Das Schönste aber war doch vom Eintreten an der unbeschreibliche Duft, der hier über allem lag, – ein Hauch von gedörrten Kräutern, Kamille-, Pfefferminz-, Baldrian-, Schafgarbe-, Thymian- und Nadelduft, süßer als Heuduft auf der Wiese, würzig wie ein besonnter Küchengarten.

Das alles mischte sich mit fremdartigen Gerüchen, wie von Perubalsam und Theriakpflaster, vermischte sich mit bitterlichen, beinah widrigen, die sich aber mit den andern gut vertrugen. Und die alle zusammen mit dem scharfen von Essig und Spiritus, dem Dampf der kochenden Absude aus den geheimnisvoll-brodelnden Tiegeln, mit dem Fetthauch der Öle und Salben in den Reibschalen erst den richtigen wie milde Hexerei verzaubernden Apothekengeruch ergaben ...

Um die Weihnachtszeit mischte sich in diese Düftesymphonie ... Rosenwasser und Orangeblüte, manchmal auch ... gestoßne Pomeranzenschale. Dann waren Groß und Klein gleich eifrig dabei, für erkrankte Nachbarn in die Apotheke zu laufen, um sie durch Hoffmannstropfen, Baldrian- und Pfefferminzgeist zu erquicken oder durch Schweizerpillen ihr Inneres für das Fest vorzubereiten.

Man wollte sich doch gerade in diesen Wochen bei dem Provisor in freundliche Erinnerung bringen, um am Tag vor dem Heiligen Abend möglichst vernehmlich "Frohe Feiertage" und eine Empfehlung des Hausherrn oder der Eltern damit anzubringen, um dann mit gleichfalls bester Empfehlung und den ebenfalls besten Wünschen für frohe Feiertage eine längliche flache kleine Pappschachtel mit Magen-Morsellen in Empfang zu nehmen, ... das einmalige Festgeschenk aus der Wunderküche, das höchsten Wohlgeschmack mit größter Bekömmlichkeit vereinte, ja dessen Heilkraft erst den "Bunten Teller" ertragen ließ ...

Sie waren darin den "Essenzen" ähnlich, die es auch hier gab ... Da war das "Haarlemer Öl" für Steinleidende, der "Melissengeist" und "Pfefferminzgeist" altberühmter bayrischer Klosterapotheken (stets mit dem Bild einer langverschleierten Nonne) auf anscheinend uraltem Papier umwickelt.

All diese und ähnliche "Geister" erwiesen sich als besonders wirksam auf Zucker oder in Zuckerwasser, wenn die alten Damen bei Familiensonntagen nach zuviel Räderkuchen in Ohnmacht fielen. Allerdings mußte die Kur – begleitet von Besprengen mit Eau de Cologne und mühsamem Öffnen der engen Taille – meist noch durch einen Kurfürstlichen Magenbitter aus dem Danziger Lachs unterstützt werden ...

Mitgeteilt von Hannsgeorg Löhr, Göschenstr. 14, 04317 Leipzig

Das Manuskript "Von alten Apotheken, Drogerien, Heilmethoden usw. in Königsberg" befindet sich mit dem Nachlass von Agnes Miegel im Deutschen Literaturarchiv, Schillerhöhe 8 – 10, 71672 Marbach. Es existiert auch ein 32-seitiger Faksimiledruck.

Kasten Erläuterungen

Schweizerpillen. Sie werden noch heute im Zusammenhang mit der Vermarktung von "Aloe vera" vertrieben. Um 1900 wurden sie mit folgenden Rezepturbestandteilen hergestellt: Aloe, Enzianwurzelpulver, Enzianextrakt, Bitterkleeextrakt, Wertmutextrakt. Harlemer Öl.

Eine Art Schwefelbalsam (Oleum Terebinthinae sulfuratum), der nach dem DAB 1 von 1872 aus einem Teil geschwefeltem Leinöl und drei Teilen Terpentinöl hergestellt wurde.

Magenmorsellen. Eine alte Apothekerspezialität, die heute industriell hergestellt wird, aber nach dem Zeugnis älterer Personen nur echt ist, wenn sie von Hand rezeptiert wird. Rezepturbestandteile (z. B.): Zucker, Mandeln, Sukkade, Orangeade, Anis, Piment, Muskat, Nelken, Ingwer, Kardamom.

Danziger Lachs. Name einer einst weltberühmten Likörfabrik, gegründet von dem Mennoniten Ambrosius Vermeulen aus Lier in Brabant, der 1598 Bürger von Danzig geworden war. cae

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