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Recht
DAZ-Interview"Radikale Änderungen des Arzneimittelv
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Mittlerweile liegt der Entwurf des Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitssystems, das Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz (GMG), vor. Dieser Gesetzentwurf wird zu radikalen Änderungen beim Arzneimittelvertrieb führen, wenn das Vorhaben so umgesetzt wird, wie es der Entwurf vorsieht. Herr Dettling, Herr Lenz, in Ihrem jüngst erschienenen Rechtsgutachten konstatieren Sie, dass der Gesetzgeber sich mit seinem Entwurf von zentralen Prinzipien des Arzneimittel- und Apothekenrechts verabschiedet. Was sind Ihrer Ansicht nach die gravierendsten Änderungen hinsichtlich des Arzneimittelvertriebs im GMG-Entwurf?
Dettling:
Wir sehen im Bereich des Arzneimittelvertriebs vier Bereiche, in denen es zu radikalen Änderungen kommen wird:
Der erste Punkt ist die bisherige flächendeckende, zeit- und ortsnahe Arzneimittelversorgung der Bevölkerung, die zugunsten einer Abgabe durch einige wenige Versandapotheken aufgegeben werden soll. Umgesetzt wird das dadurch, dass man den einheitlichen Abgabepreis für Versandapotheken de facto abschafft.
Der zweite Punkt: Man möchte die Abgabe nicht mehr wie bisher in der Apotheke – persönlich kontrolliert durch den Apotheker und in persönlicher Anwesenheit des Patienten –, sondern der Gesetzgeber favorisiert eine Arzneimittelabgabe im Wege des Versandes: unkontrolliert, massenhaft, anonym.
Drittens: Die freie Apothekenwahl wird aufgegeben. Patienten werden künftig durch finanziellen Druck gezwungen, sich bei bestimmten Apotheken, die zuvor von den Krankenkassen ausgesucht wurden, ihre Arzneimittel zu beschaffen.
Und viertens: Man möchte den Apotheker nicht mehr wie bisher als freien, im Patientenkreis verwurzelten und mit ihm persönlich und örtlich verbundenen Heilberuf, für den die Gesundheit seiner Patienten im Vordergrund steht, sondern als x-beliebigen Kaufmann mit möglichst vielen Filialen und Angestellten – ohne direkten Kontakt zu seinen Patienten. Bei solchen Verhältnissen wird für den Ketteninhaber – gleichgültig, ob Apotheker oder nicht – an die Stelle der Gesundheit der möglichst hohe Umsatz als Unternehmensziel treten. Arzneimittel sind dann nicht mehr Heilmittel, sondern beliebige Handelsware; die Angestellten werden auf Gewinn statt auf Gesundheit getrimmt.
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Zunächst zum Punkt Versandhandel: Ulla Schmidt hat zu Beginn der Debatte immer wieder betont, dass von Seiten des Gesetzgebers keineswegs beabsichtigt sei, Präsenz- und Versandapotheken wettbewerbsrechtlich unterschiedlich zu behandeln. Wettbewerbsverzerrungen, so hieß es, sollten nicht stattfinden. Es war auch vom Prinzip der gleich langen Spieße die Rede. Worauf basiert Ihr Vorwurf, dass die Einführung des Versandhandels zu einer Gefährdung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung in Deutschland führt?
Lenz:
Wir können hier ein Parallelbeispiel betrachten, nämlich den Versandhandel mit Büchern. Bei Büchern besteht auch eine Preisbindung. Aber warum macht der Versandhandel mit Büchern nicht die vielen kleinen Buchhandlungen kaputt? Weil die Bücher gleich viel kosten und es viel angenehmer ist, die Bücher in der Buchhandlung in die Hand zu nehmen, darin zu blättern und zu lesen, bevor man sie kauft.
Die Leistung der Buchhandlung vor Ort ist deshalb besser als die des Buchversenders. Ähnlich ist es bei gleichen Arzneimittelpreisen. Deshalb sollen Versandapotheken mit einem Preisvorsprung in den Wettbewerb geschickt werden. Sie dürfen ihre Preise niedriger festsetzen als Präsenzapotheken, die zwingend an den einheitlichen Arzneimittelabgabepreis gebunden sind.
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Soll denn für Versandapotheken die Arzneimittelpreisverordnung nicht gelten?
Lenz:
Die Versandapotheke wird ein Privileg genießen, sie darf Arzneimittel preiswerter abgeben als die Präsenzapotheke, für die weiterhin die Arzneimittelpreisverordnung gilt. Ähnlich wie Versandapotheken können auch von den Krankenkassen ausgesuchte Apotheken, die sich an besonderen Versorgungsformen beteiligen – wir nennen sie "Kassenapotheken" -, die gesetzlich festgesetzten Preise unterbieten. Preisreduktionen lassen sich erreichen, indem man die Nachfrage künstlich konzentriert. Wenn die Krankenkassen möglichst viel Rabatt von den Apotheken haben wollen, werden sie diese Verträge nur mit ganz wenigen Apotheken abschließen, die dann eine große Nachfrage poolen können. Dafür bieten sich Versandapotheken an, weil die noch den zusätzlichen Vorteil haben, dass sie viel weniger Personal benötigen und keine Betriebsräume in Patientennähe vorhalten müssen. Außerdem können preisungebundene Versandapotheken keinem Kontrahierungszwang unterworfen werden. Sie müssen deshalb – im Gegensatz zu Präsenzapotheken – Patienten kein Arzneimittelvollsortiment anbieten.
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Und die Konsequenz?
Lenz:
Wir glauben, dass 90 Prozent aller Präsenzapotheken sterben werden.
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Haben wir richtig verstanden: 90 Prozent?
Dettling:
Ja, wir meinen, dass 90 Prozent aller Präsenzapotheken es langfristig nicht überleben werden, wenn das GMG so umgesetzt wird, wie es jetzt im Entwurf vorliegt. Denn wir haben die Situation, dass die Versandapotheken durch den Gesetzgeber gefördert werden. Präsenzapotheken werden vom Gesetzgeber wettbewerblich gefesselt, Versandapotheken gedopt.
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2000 statt gut 20000 Apotheken: Nach der Rechtsprechung der obersten Gerichte und des Bundesverwaltungsgerichts erfordert eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung der Bevölkerung, dass Medikamente von Patienten innerhalb einer zumutbaren Zeit von ca. einer Stunde beschafft werden können...
Dettling:
Das ist der Grund, weshalb wir davon sprechen, dass die preisliche Privilegierung der Versandapotheken die Aufgabe der flächendeckenden Versorgung mit Arzneimitteln bedeutet. Darin liegt zugleich eine Gesundheitsgefährdung für die gesamte Bevölkerung. Wenn jemand ein kleines Kind hat, das nachts Atemnot bekommt, und schnell ein Medikament besorgen muss – der wird dann zur nächsten Apotheke sehr weit fahren müssen, bis er dieses Medikament erhält.
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Da stellt sich die Frage: Inwieweit werden dadurch Rechte von Patienten beeinträchtigt?
Dettling:
In erster Linie geht es in der Tat um diese Patientenrechte. Im Grundgesetz ist in Art. 2 Abs. 2 das Recht auf Gesundheit und Leben verankert. Im Krankheitsfall geht es eben nicht nur um die Gesundheit; wenn man schwer krank ist, geht es auch um das Leben. Deshalb muss der Staat eine Infrastruktur vorhalten, die es ermöglicht, schnell und rasch Arzneimittel besorgen zu können.
Diese Infrastruktur haben wir in Deutschland. Sie funktioniert. Und sie wird nun zerstört, weil man meint, gerade hier sparen zu können. Wir sind der Ansicht, dass damit gegen Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes verstoßen wird.
Lenz:
Dann noch ein zweiter Aspekt: Die Versicherten sind auch Beitragszahler. Deshalb glauben wir, dass der GMG-Entwurf auch gegen Art. 14 des Grundgesetzes, das Recht auf Eigentum, verstößt, weil mit diesen Beiträgen eine Infrastruktur, so wie wir sie jetzt haben, aufgebaut wurde. Sie darf nicht ohne Not beseitigt werden.
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Lassen Sie uns einmal die vorgegebenen Motive des Gesetzgebers ernst nehmen. Die finanzielle Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens hat sicherlich auch einen hohen Rang, der rechtlich schützenswert ist. Stimmt denn Ihrer nach Ansicht wenigstens der Ausgangspunkt des Gesetzgebers, dass die geplanten Maßnahmen im Bereich der Arzneimitteldistribution zu einer spürbaren Reduzierung der Ausgaben im Gesundheitswesen führen?
Dettling:
Der Entwurf lässt einen da etwas ratlos zurück. Denn in der Begründung wird mit keinem Wort (und keiner Zahl) ausgeführt, welche Einsparpotenziale vorhanden sein sollen. Es kann aber nur eine Begründung für die Privilegierung von Versandapotheken geben: man meint, Kosten einzusparen. Wie viele es sind, weiß offensichtlich niemand.
Mit anderen Worten: die Gesetzesinitiatoren wissen selbst nicht, für welchen Preis sie die notwendige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung aufs Spiel setzen. Und das ist ein gefährlicher – aus unserer Sicht unvertretbarer – Weg, den kein Gesundheitsminister verantworten kann.
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Ein anderer Ihrer Kritikpunkte ist, dass die Privilegierung von Apotheken, die mit Krankenkassen besondere Versorgungsformen vertraglich vereinbaren, das Recht des Patienten auf freie Apothekenwahl beeinträchtigt. Warum besteht dieser Zusammenhang?
Lenz:
Der Zusammenhang besteht insbesondere vor dem Hintergrund des Steuerungseffektes, den der Entwurf hier erzielen will. Er privilegiert Patienten, die an diesen Versorgungsformen teilnehmen, indem er die Zuzahlungen für sie stark ermäßigt. Damit wird auf Menschen mit geringen Einkünften ein starker finanziellen Druck ausübt, Arzneimittel bei solchen Apotheken zu besorgen, mit denen die Krankenkasse entsprechende Verträge abgeschlossen hat.
Diese Apotheken werden aller Voraussicht nach wiederum im Wesentlichen Versandapotheken sein. Denn die Kassen haben natürlich ein Interesse daran, mit solchen Apotheken Verträge abzuschließen, die billig liefern können. Möglichst billig können diejenigen Apotheken liefern, die eine große Nachfrage haben und damit ihrerseits möglichst günstige Einkaufsmöglichkeiten erreichen.
Dettling:
Der zweite Anreiz für die Krankenkassen besteht natürlich darin, nur mit möglichst wenigen Apotheken solche Verträge abzuschließen, um einen geringen Verwaltungsaufwand zu haben. Realistischerweise dürften die Versandapotheken, die sich etablieren werden, gleichzeitig auch die "Kassenapotheken" sein.
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Ist dieses Ungleichbehandlung von Versandhandel, für den die Arzneimittelpreisverordnung nicht mehr gilt, und Präsenzapotheken, die weiterhin zwingend an den einheitlichen Arzneimittelabgabepreis gebunden sind, nicht auch ein grundrechtliches Problem?
Lenz:
Ja natürlich, da ist die Berufsfreiheit betroffen. Wir haben hier einen offen zutage tretenden wettbewerbsverzerrenden Effekt. Einerseits sagt der Gesetzgeber: Es ist gesundheitspolitisch erwünscht, dass es einen einheitlichen Arzneimittelpreis gibt, der angemessen ist und, wie es in § 78 Abs. 2 des Arzneimittelgesetzes heißt, den berechtigten Interessen u.a. der Arzneimittelverbraucher und Apotheken Rechnung trägt.
Von diesen Preisen soll der Apotheker nach den gesetzgeberischen Intentionen also leben können müssen. Diesen angemessenen Preis unterbietet nunmehr derselbe Gesetzgeber, indem er bestimmte Anbieter, die aufgrund ihrer fehlenden patientennahen Präsenz vor Ort niedrigere Kosten haben, preisrechtlich bevorzugt. Der Gesetzgeber handelt schizophren: er erlaubt Dumpingpreise gegenüber den von ihm selbst festgelegten angemessenen Arzneimittelpreisen.
Dettling:
Und er karikiert seine ursprüngliche Begründung, die den einheitlichen Arzneimittelabgabepreis rechtfertigt. Ein öffentlicher Präsenzapotheker, der in Zukunft gegen die Preisbindung bei Arzneimitteln verstößt, wird kein Problem haben, vom Bundesverfassungsgericht hierfür sein Plazet zu bekommen. Welcher Grund sollte es noch rechtfertigen, dass man als Präsenzapotheke einen Preis verlangen muss, den der Gesetzgeber selber in anderem Zusammenhang mehrfach zur Disposition stellt?
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Mit anderen Worten: Mit dem GMG würde ein erster, aber der entscheidende Schritt zur Aufhebung der Preisbindung bei Arzneimitteln im Allgemeinen getan?
Lenz:
Ja, es wird dann keinerlei Preisbindung für Arzneimittel mehr geben. Ein weiterer Grund: Wir haben ein ganzes Segment von Arzneimitteln, das aus der Preisbindung herausgenommen wird, nämlich die nicht-verschreibungspflichtigen, "nur" apothekenpflichtigen OTC-Arzneimittel. Sie sollen in Zukunft ebenfalls nicht mehr der Preisbindung unterliegen.
Hier vertritt der Gesetzgeber nunmehr die Auffassung, dass Patienten und Apotheken ein Preiswettbewerb zumutbar sei. Bei diesen Medikamenten handelt es sich jedoch um Arzneimittel, die auch heute schon überwiegend nicht erstattungsfähig sind. In Zukunft sollen sie insgesamt aus der Erstattungsfähigkeit herausfallen.
Wenn nach Auffassung des Gesetzgebers dem Patienten in den Arzneimittelbereichen, in denen er selbst unmittelbar zur Kasse gebeten wird, Preiswettbewerb nach dem Motto "Gehe von einer Apotheke zur anderen und schaue, wo es am billigsten ist" zugemutet werden kann, dann lässt sich kaum noch begründen, warum im Segment der verschreibungspflichtigen Arzneimittel der einheitliche Abgabepreis weiterhin gewährleistet sein soll.
Der Gesetzgeber hat also nicht bedacht, dass er mit der Herausnahme des OTC-Bereichs aus der Preisbindung die Struktur so durchlöchert, dass das Bundesverfassungsgericht diese Preisbindung nicht mehr halten wird.
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Eine weitere These Ihres Gutachtens ist, dass die Kürzung der Preisspannen ohne vorherigen Abbau aller versicherungsfremden Leistungen in der GKV verfassungswidrig ist – warum?
Dettling:
Wir sind der Meinung, dass die Versicherten einen Anspruch aus Art. 14 des Grundgesetzes darauf haben, dass die Mittel, die sie zwangsweise einbezahlen müssen, auch zweckgerecht verwendet werden. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem jüngsten Gutachten festgestellt, dass jährlich über 30 Mrd. Euro an Leistungen oder finanziellen Vorteilen durch die gesetzliche Krankenversicherung gewährt werden, die versicherungsfremd sind – die also mit den Aufgaben, die die Krankenversicherung eigentlich hat, überhaupt nichts zu tun haben.
30 Milliarden! Das ist viel mehr als die jährlichen Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel insgesamt, das ist viel mehr als die Kosten für die gesamte ambulante ärztliche Behandlung und das entspricht nahezu den Kosten für die Krankenhausbehandlung in den alten Bundesländern. Dagegen sind die Beträge, die man offensichtlich glaubt über die faktische Aufhebung der Arzneimittelpreisverordnung einsparen zu können, fast zu vernachlässigen.
Wir sind der Meinung, dass der Gesetzgeber zunächst seine eigenen Fehler korrigieren muss, da er die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung, wie sie heute bestehen, weitgehend selbst geschaffen hat. Gäbe es keine versicherungsfremden Leistungen, würde bei der gesetzlichen Krankenversicherung kein Finanzierungsproblem bestehen.
Der Gesetzgeber hat aus unserer Sicht einen Systemmissbrauch begangen. Ich meine, dass wir es hier mit einer zweckwidrigen Verwendung fremder, anvertrauter Mittel zu tun haben. Wäre der Täter nicht der Gesetzgeber, würde man von einer strafbaren Untreue sprechen.
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Ein Grund, warum Sie den GMG-Entwurf ablehnen, ist der Umstand, dass dort Apothekenketten erlaubt werden sollen. Was spricht unter rechtlichen Gesichtspunkten gegen die Aufhebung des Mehrbesitzverbotes bei Apotheken?
Dettling:
Unter rechtlichen Gesichtspunkten spricht aus meiner Sicht gegen Ketten, dass sie die Funktion von örtlicher Verwurzelung und persönlicher Haftung nicht mehr als Mittel nutzen, um das Ziel eines Höchstmaßes an Sorgfalt und persönlicher Verantwortung bei der Leitung einer Apotheke zu erreichen.
Ich glaube, dass die lokale Verankerung der Apotheke und die persönliche Haftung des Apothekenleiters zu einem solchen Höchstmaß an Sorgfalt führen, weil das existentielle Risiko, das mit einer Pflichtverletzung einhergeht, sehr groß ist. Die persönliche Bindung an die Apotheke, die Abhängigkeit von einem konkreten Standort, die mit einem Mietvertrag oder mit dem Eigentum an einem Haus verknüpft ist, binden den Apotheker langfristig an einen Ort und damit auch an die Interessen seiner Kunden.
Dieses Moment ist ein sehr wesentliches, auch psychologisches Element, um den Apotheker dazu zu bringen, ein Höchstmaß an Sorgfalt bei der Leitung der Apotheke obwalten zu lassen: Sein langfristiges Unternehmensziel ist auf die Gesundheit der Patienten und nicht auf möglichst hohe Umsätze und möglichst hohe Gewinne gerichtet.
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Sie unterstellen den Angestellten – so wird es manchmal gesehen – damit, dass sie weniger sorgfältig seien als der Apothekenleiter selbst?
Dettling:
Das ist so nicht richtig. Ich bin der Überzeugung, dass ein angestellter Apotheker bei der Abgabe eines Arzneimittels sicherlich genau so sorgfältig vorgeht wie der Inhaber einer Apotheke. Es geht aber hier nicht um einen einzelnen Abgabevorgang, nicht nur um die Verantwortung für eigenes Handeln. Es geht um die Vorgabe der Unternehmensziele, die Verantwortung gerade auch für das, was die übrigen Mitarbeiter tun, um die Organisation des gesamten Betriebes, um die Überwachung des gesamten Personals, um die Bestimmung der Abläufe, um Öffnungszeiten, um zusätzliche Services und Vorkehrungen, um all das, was eben einen engagierten Unternehmer ausmacht, der auch noch nach Feierabend darüber nachdenkt, was er in seinem Betrieb verbessern kann. Er ist mit diesem Betrieb existenziell verbunden.
Er ist mit seinen Patienten verbunden, weil er jeden Tag dieselben Patienten innerhalb und außerhalb der Apotheke, innerhalb und außerhalb des Dienstes sehen und treffen kann und auch noch die nächsten zehn Jahre sehen und treffen wird. Ich bin einfach Realist und der Überzeugung, dass in einer solchen Situation eine Apotheke anders geleitet wird, als wenn sie von einem angestellten Apotheker geführt wird, der kraft Gesetz selbst bei eigener Pflichtverletzung in der Regel vom Arbeitgeber freigestellt werden muss.
Das Entscheidende für mich ist jedoch: Wenn die Kette kommt, muss jeder Apothekenfilialleiter die Marschrouten und Umsatzziele, die von oben kommen, befolgen. Wenn von oben die Anweisung erfolgt, möglichst viel Arzneimittelumsatz zu machen, um möglichst viel Gewinne zu erzielen, wird sich ein Angestellter an diese Maxime wohl oder übel halten müssen. Von einem Einzel-Apothekeninhaber, der selbst im Patientenkreis verwurzelt ist und für den damit ganz natürlich das Gesundheitsinteresse seiner Kunden vorrangig ist, wird ein solcher Umsatzdruck auf seine Angestellten von vornherein nicht ausgeübt.
Lenz:
Das Fremd- und Mehrbesitzverbot dient damit gerade auch dem Schutz von angestellten Approbierten vor Weisungen von einer Konzernzentrale, die das Ziel vorgibt, möglichst viele Arzneimittel unters Volk zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht hat eindringlich auf Folgendes hingewiesen: Die Bevölkerung muss darauf vertrauen, dass sich der Apothekerberuf nicht vom bloßen Gewinnstreben beherrschen lässt. Wenn die Kette kommt, kommt die Kommerzialisierung, kommt die Beherrschung der Apotheke durch das Gewinnstreben, kommen die Anweisungen, möglichst viel Umsatz mit Arzneimitteln zu machen. Das fördert den Fehl- und Mehrgebrauch von Arzneimitteln und schadet der Gesundheit der Bevölkerung. Das Fremd- und Mehrbesitzverbot tritt dem entgegen und schützt damit die Arzneimittelsicherheit.
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Wie ist Ihre Einschätzung: Wird der GMG-Entwurf Wirklichkeit?
Dettling:
Wir haben versucht, mit unserem Buch die Konsequenzen darzustellen, die der GMG-Entwurf hätte. Wir hoffen, dass es uns gelungen ist deutlich zu machen, dass die prägenden Säulen des Arzneimittelvertriebs nicht antiquiert und verstaubt sind, sondern es sich dabei um moderne, intelligente Regulierungsinstrumente handelt, die eine hervorragende flächendeckende, orts- und zeitnahe Arzneimittelversorgung der Bevölkerung gewährleisten. Wir können uns deshalb nicht vorstellen, dass ein verantwortlicher und verantwortungsbewusster Gesetzgeber ein solches System leichtfertig aufgibt.
Lenz:
Wir haben das Buch allen Bundestagsabgeordneten zukommen lassen und auch den wichtigen Vertretern im Bundesrat. Wir wollen damit erreichen, dass sich dieses Mal Abgeordnete nicht nachträglich hinters Licht geführt fühlen wie bei der Verabschiedung des Beitragssatzsicherungsgesetzes, als sie die Hand gehoben haben für etwas, das nichts taugt.
Wir haben die Hoffnung und sind auch zuversichtlich, dass spätestens im Bundsrat die schlimmsten und zustimmungsbedürftigen Regelungen des GMG-Entwurfs verhindert werden. Auf jeden Fall kann niemand mehr sagen, er habe nichts gewusst.
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Herr Dettling, Herr Lenz, wir bedanken uns für das Gespräch!
Der Entwurf zum Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz (GMG) zerstört eine orts- und zeitnahe, flächendeckende und qualitativ hochstehende Arzneimittelversorgung der Bevölkerung – ein GMG in dieser Ausgestaltung verletzt Grundrechte von Patienten und Apothekern und ist deshalb verfassungswidrig. Zu diesem Ergebnis kommt ein Rechtsgutachten der beiden Verfassungsrechtler Heinz-Uwe Dettling und Christofer Lenz. In einem Gespräch mit den beiden Juristen fragten wir nach, wie sie die Auswirkungen eines solchen Gesetzes, so es denn in der vorliegenden Form verabschiedet würde, beurteilen und welche Chancen sie sehen, es zu verhindern.
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