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Geplantes Zentrum für Qualität in der Medizin: Vierte Hürde – ja, aber
Deutschland braucht Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen
Nach Einschätzung von Prof. Dr. Reiner Leidl, Ulm, ist ein akzeptables Preis-Leistungs-Verhältnis bei der gesetzlichen Krankenversicherung nicht ohne einen Wirtschaftlichkeitsnachweis der finanzierten Leistungen zu erreichen. Doch gebe es in Deutschland nur wenig Erfahrungen mit ökonomischen Evaluationsstudien.
In Großbritannien mit seiner langen Tradition in diesem Forschungsbereich habe die Tätigkeit des National Institut for Clinical Excellence (NICE) zu einem ganz neuen gesellschaftlichen Phänomen geführt. Dort werde in der allgemeinen Öffentlichkeit indikationsspezifisch über die Finanzierung von Leistungen im Gesundheitswesen diskutiert, wenn sich das NICE zu den jeweiligen Therapien äußere. Dies könne sogar anhand der Schlagzeilen der Publikumspresse verfolgt werden.
Um die Forschung in Deutschland methodisch auf einen solchen Stand zu bringen, müssten die dafür eingesetzten Ressourcen deutlich verstärkt werden. Außerdem müssten die Verantwortlichen im Gesundheitssystem lernen, mit Wirtschaftlichkeitsdaten umzugehen. Doch sei es schwer, aufgrund pharmakoökonomischer Analysen verbindliche Ja-Nein-Entscheidungen über die Erstattungsfähigkeit zu treffen. Daher schlug Leidl eine wesentlich fehlertolerantere Alternative vor: Für Arzneimittel, deren Wirtschaftlichkeit (noch) nicht nachgewiesen sei, sollte eine spürbare Selbstbeteiligung eingeführt werden. Dies nehme die Patienten in Anspruch, aber nicht so stark wie bei einem Ausschluss der Verordnungsfähigkeit. Außerdem schaffe es sinnvolle Anreize für die Industrie.
Transparenz ist unverzichtbar
Für Prof. Dr. Gerd Glaeske, Bremen, ist nicht mehr fraglich, ob eine vierte Hürde in Deutschland kommt, sondern nur, wie sie gestaltet wird. Sie sei zusätzlich zur arzneimittelrechtlichen Zulassung erforderlich, weil dabei ganz andere Fragen geprüft werden. Während in klinischen Studien künstliche Bedingungen herrschen, bei denen die Patienten geradezu "stören", geht es bei der vierten Hürde um den therapeutischen Nutzen von Arzneimitteln unter realistischen Anwendungsbedingungen. Anstelle einer absoluten Ja-Nein-Entscheidung bei der Zulassung ist hier der relative Nutzen im Vergleich zu anderen Arzneimitteln oder Therapieverfahren gefragt.
Glaeske wiederholte seine vielfach geäußerte Kritik an Analogpräparaten mit angeblich nur geringem Innovationswert. Deren Anteil an den Verordnungen steige, doch solle das Geld besser für "echte" Innovationen ausgegeben werden. Mithilfe der vierten Hürde sollte der therapeutische Zusatznutzen einzelner Arzneimittel ermittelt werden. Dies stelle kein Hindernis, sondern vielmehr eine Chance für neue Arzneimittel dar. So würden Anreize für einen Qualitätswettbewerb unter den Arzneimittelherstellern geschaffen.
Hinsichtlich der Gestaltung der vierten Hürde sprach sich Glaeske für ein unabhängiges, staatsfernes Institut und für ein transparentes, planbares Verfahren aus, das einen öffentlichen Diskurs über die Entscheidungen ermöglicht. Dies sei besser als die derzeitige intransparente Arbeit im Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen.
Es müsse einen verbindlichen Rahmen für die Arbeitsweise und eine vereinbarte Kultur der Durchführung geben. Studien müssten sich an aussagekräftigen Endpunkten orientieren und die Überlegenheit neuer Arzneimittel gegenüber etablierten Arzneimitteln nachweisen. Für die Dauer der Studien könnten Arzneimittel befristet erstattungsfähig sein.
Die Forderung nach Transparenz wurde im Auditorium einhellig begrüßt, doch wurde vielfach bezweifelt, dass der vorliegende GMG-Entwurf diesem Anspruch gerecht wird. Das britische NICE wurde als mögliches Vorbild relativiert, da es in vier Jahren nur 62 Therapiemethoden untersucht habe. Dies sei viel weniger, als für die in Deutschland angestrebte Gesamtlösung einer vierten Hürde nötig wäre.
Fehlender Rechtsschutz
Prof. Dr. Jürgen Kruse, Nürnberg, beklagte ebenfalls den Mangel an Transparenz und den fehlenden Rechtsschutz bei dem Verfahren, wie es derzeit im GMG-Entwurf formuliert ist. Viele Begriffe, beispielsweise der "Nutzen" eines Arzneimittels oder die "erhebliche" Bedeutung als Voraussetzung für die Untersuchung bereits zugelassener Arzneimittel, seien nicht hinreichend konkretisiert. Dies sei die Aufgabe des Gesetzgebers und könne nicht einem Institut überlassen werden, das selbst nicht demokratisch legitimiert ist.
Gegen die Empfehlungen des Zentrums für Qualität in der Medizin als unabhängiges Institut sei keine Klagemöglichkeit vorgesehen. Auch gegen die Festlegung eines Referenzarzneimittels, die sich wesentlich auf das Ergebnis auswirken dürfte, könne nicht geklagt werden. Doch obwohl diese Empfehlungen keiner rechtlichen Überprüfung unterlägen, hätten sie vorentscheidende Wirkungen. Denn der Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen solle die Empfehlungen in seine Richtlinien übernehmen, sofern er keine besonderen Gründe dagegen anführen könne. Damit bleibe nur ein Rechtsschutz gegenüber schweren Verfahrensfehlern oder einer zu langen Dauer des Verfahrens.
Unterschiede gegenüber dem Ausland
Die internationale Pharmaindustrie hat nach Einschätzung von Dr. Jens Grüger, Novartis, Basel, umfangreiche Erfahrungen mit Wirtschaftlichkeitsanalysen, da diese für eigene Zwecke und aufgrund der Vorschriften in zahlreichen Ländern benötigt werden. Doch bestünden gravierende Unterschiede zwischen dem GMG-Entwurf in Deutschland und der Realität der vierten Hürde in anderen Ländern, insbesondere hinsichtlich der folgenden Aspekte:
- Zumeist würden nur einzelne Arzneimittel zu ausgewählten Indikationen, aber nicht alle neuen Arzneimittel evaluiert. Die Vielfalt der in Deutschland angeblich zu bewertenden Arzneimittel könne so nicht untersucht werden.
- Die Bewertung erfordere Daten aus der Praxis und könne daher nicht vor dem Markteintritt erfolgen.
- Arzneimittel sollten aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive und nicht aus der Budgetperspektive der Krankenkassen bewertet werden.
- Die theoretisch relevanten Endpunkte könnten wegen der langen Studiendauer oft nicht untersucht werden.
- Außer Arzneimitteln sollten auch nicht-medikamentöse Therapieverfahren bewertet werden.
- Die Methoden der Datengewinnung, insbesondere der Stellenwert von Modellen, seien international umstritten.
- Unabhängige wissenschaftliche Institute dürften keine verbindlichen Entscheidungen treffen, diese müssten durch eine politische Instanz bestätigt werden.
- Wissenschaftliche Institute bräuchten eine vorgegebene Entscheidungsregel. Dafür müsse gesellschaftlich diskutiert werden, wie viel für ein qualitätsbereinigtes Lebensjahr (QALY) etwa ausgegeben werden bzw. ob eine solche Grenze überhaupt gezogen werden solle.
- Die vierte Hürde funktioniere in staatlichen Gesundheitssystemen. Im deutschen stärker marktorientierten System übernehme der Markt diese Funktion.
- Das britische NICE sei aufgrund einer Notlage des Gesundheitssystems mit offensichtlicher Unterversorgung politisch gerechtfertigt. Dies könne nicht auf Deutschland übertragen werden.
Die Befürworter der vierten Hürde in Deutschland würden viel zu stark mit der möglichen Verschwendung durch nicht effektive Arzneimittel argumentieren. Dabei bleibe unbeachtet, welcher Schaden umgekehrt durch den unterlassenen oder verspäteten Einsatz neuer Arzneimittel entstehe. Logischerweise könne über die nicht angewendeten Arzneimittel nichts ausgesagt werden. Diese Argumentation gehe zulasten der Patienten und hindere die Unternehmen, die Patentlaufzeit auszunutzen.
Besinnung auf die Pharmakoökonomie
Dr. Eva Susanne Dietrich, Köln, beklagte die Begriffsverwirrung hinsichtlich der vierten Hürde. Sogar das Bundesgesundheitsministerium benutze offenbar verschiedene Interpretationen. Eine Kosten-Nutzen-Analyse im wissenschaftlichen Sinn der Pharmakoökonomie werde aber im GMG-Entwurf nicht beschrieben. Dafür müssten Kosten und Therapieergebnisse in der praktischen Anwendung sektorübergreifend ermittelt werden. Insbesondere sei es unsinnig, Arzneimittel bereits vor der Evaluation in drei Gruppen einzuteilen, die ihren angeblichen Innovationswert beschreiben sollen.
Allerdings sei eine Bewertung bereits beim Markteintritt nötig. Dies erfordere Umdenken bei der Industrie und bei den Behörden. Die Industrie müsse den Langzeit-Outcome in Modellen berechnen und frühzeitig Kosten-Nutzen-Bewertungen ausführen. Die Behörden müssten ihre ablehnende Haltung gegenüber Modellen aufgeben. Später sei eine zweite Evaluation nötig. Arzneistoffe, die an der ersten Evaluation scheitern, könnten billiger angeboten oder für eine begrenzte Patientengruppe mit besonders großem Nutzen neu überprüft werden. Ein solches Verfahren könne sogar bei den Zulassungsbehörden angesiedelt werden, die Empfehlungen geben. Dies wirke auch als Signal an den stationären Bereich, was eine Voraussetzung für jede Reform im ambulanten Sektor darstelle.
Zur Finanzierung der Arzneimittelversorgung schlägt die KBV ein Festzuschussmodell vor, bei dem jede Krankenkasse den Leistungsumfang für eine bestimmte Arzneimittelgruppe in Abhängigkeit von deren Kosten-Nutzen-Verhältnis vorgibt. Daraufhin müssten die Patienten für weniger effektive Arzneimittel höhere Zuzahlungen leisten. Dies böte der Industrie einen großen Spielraum und sei rationaler, ethischer und transparenter als das bisherige Vorgehen.
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