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Arzneimittel und Therapie
Deutscher Schmerzkongress: Cannabinoide in der Medizin
Hauptinhaltsstoff der Hanfpflanze Cannabis sativa ist Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC). THC (internationaler Freiname Dronabinol) ist in den USA als Arzneimittel zugelassen. Das Handelspräparat heißt Marinol® und ist in Form oraler Kapseln, Tropfen und Inhalationen verfügbar. Ein Sublingualspray wird zurzeit klinisch geprüft.
Dronabinol in Deutschland
Dronabinol ist in Deutschland seit 1998 ein verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel. Da es hier noch kein zugelassenes Fertigarzneimittel mit Dronabinol gibt, bestehen zwei Möglichkeiten:
- Verschreibung und Import des sehr teuren Präparates aus den USA
- Herstellung in der Apotheke als Rezepturarzneimittel
Der Deutsche Arzneimittel-Codex enthält eine Monographie "Dronabinol", das NRF Vorschriften für Dronabinol-Kapseln und Tropfen. Zwei Herstellerfirmen bieten Dronabinol als Rezeptursubstanz an: die THC Pharm GmbH, Frankfurt/Main, und die Delta 9 Pharma, Neumarkt.
HIV-bedingte Abzehrung
Die Kachexie ("Abzehrung", allgemeine Schwäche) von HIV-Patienten bezeichnet einen Gewichtsverlust von mehr als 10% des Körpergewichts. Sie entsteht krankheitsbedingt durch Appetitlosigkeit, wird aber auch durch antiretrovirale Therapien verstärkt, insbesondere durch die häufige Nebenwirkung Diarrhö.
Studien mit Dronabinol bei AIDS-bedingter Kachexie zeigten überwiegend günstige Ergebnisse. Beispielsweise erfasste eine nicht verblindete randomisierte Studie 67 Patienten. Sie bekamen drei Wochen lang dreimal täglich entweder Plazebo-Kapseln, Kapseln mit 2,5 mg Dronabinol oder eine Marihuana-Zigarette. Patienten mit oraler THC-Aufnahme nahmen 3,0 kg Körpergewicht zu, Marihuana-Raucher 3,2 kg und Plazebo-Anwender 1,1 kg.
Unbeeinflusst blieben immunologische Parameter (CD4- und CD8-Zellzahl), die Viruslast sowie der Blutspiegel der eingenommenen Proteinaseinhibitoren. Als positive Begleitwirkungen einer Dronabinol-Therapie wurden eine Stimmungsaufhellung und eine Verbesserung des Nachtschlafs beobachtet.
Die orale Bioverfügbarkeit von Dronabinol ist schlecht. Die Patienten bevorzugen daher häufig die Marihuana-Zigaretten. Das Rauchen von Cannabinoiden kann jedoch wegen des erhöhten Präkanzerose-Risikos im Bronchialtrakt nicht empfohlen werden.
Anwendung bei Zytostatika-induziertem Erbrechen
Zum Einsatz bei Zytostatika-induzierter Übelkeit und Erbrechen wurde eine Metaanalyse veröffentlicht [Tramér, M. R., et al. Br. Med. J. 323, 16 – 20 (2001)]. Von insgesamt 30 randomisierten Studien waren 16 mit oralem Nabilon, 13 mit oralem Dronabinol und eine mit intramuskulärem Levonantradol durchgeführt worden.
Die Cannabinoide wurden mit Plazebo oder mit einer aktiven Kontrolle (meist Metoclopramid, Prochlorperazin oder Haloperidol) verglichen. Diesen Vergleichssubstanzen gegenüber erwiesen sich die Cannabinoide als überlegen. Die meisten Patienten berichteten, dass sie beim nächsten Zytostatikazyklus ein Cannabinoid bevorzugen würden.
Nebenwirkungen und nebenwirkungsbedingte Therapieabbrüche wurden unter Cannabinoiden häufiger berichtet: Jeder dritte Patient litt an Müdigkeit, jeder 20. an Paranoia. 11% brachen die Behandlung wegen Nebenwirkungen ab.
Die meisten dieser Studien wurden in den 80er-Jahren durchgeführt. Der Vergleich mit 5-HT3-Antagonisten, dem Goldstandard der Therapie des Zytostatika-induzierten Erbrechens, fehlt bislang.
Etwa 90% der Patienten mit Zytostatika-induziertem Erbrechen in der Frühphase sprechen gut auf 5-HT3-Antagonisten an. Problematischer ist das verzögert einsetzende Erbrechen. In 60% der Fälle reicht die Standardtherapie nicht. Hier könnten Cannabinoide in Zukunft möglicherweise eine Rolle spielen, prognostizierte Dr. Kraft.
Probleme bereitet nach Ansicht von Professor Radbruch die Fülle von Dronabinol-Wirkungen (Tab. 1). Eine Sedierung kann im einen Fall erwünscht, im anderen aber unerwünscht sein (zum Beispiel Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit). Radbruch warnte davor, Cannabinoide in der Medizin kritiklos einzusetzen.
Insbesondere bei Patienten mit kardialen Vorerkrankungen sei Vorsicht geboten. In zwei Fällen konnte durch THC-Exposition eine paroxysmale Tachykardie (anfallsweises Herzjagen) ausgelöst werden. Die Autopsie von sechs Personen, die nach Cannabis-Rauchen oder THC-Einnahme verstorben waren, ergab den Verdacht einer akuten Myokardischämie.
Ob Psychosen durch Cannabinoide ausgelöst werden können, ist noch in der Diskussion.
Die richtige Dosis?
Nach bisheriger Erfahrung schwanken die therapeutisch notwendigen Dronabinol-Dosierungen interindividuell sehr stark: zwischen 2 bis 3 mg und 20 mg pro Tag. Da Dronabinol ein relativ enges therapeutisches Fenster zu haben scheint, muss die Anfangsdosis niedrig gewählt werden und dann individuell auftitriert werden.
Körpereigenes Cannabinoidsystem
Der menschliche Körper besitzt ein eigenes Endocannabinoidsystem mit spezifischen Rezeptoren (Cannabinoid-Rezeptor Typ 1 und Typ 2) und endogenen Liganden (Anandamid, 2-Arachidonoylglycerol). Der Cannabinoid-Rezeptor Typ 1 (CB1-Rezeptor) ist in großer Menge in vielen Hirnregionen vorhanden, darunter der Amygdala, die in viele kognitive und emotionale Prozesse einbezogen ist. Tierexperimenten zufolge spielt das Endocannabinoidsystem eine wichtige Rolle bei
- Schmerzwahrnehmung und Spastik
- Auslöschung aversiver Gedächtnisinhalte, wie der durch Schmerzen konditionierten Angst
- neuroplastischen Vorgängen
Uralt-Studien zum Thema Schmerz
Als Schmerzmittel sind Cannabinoide bislang nicht zugelassen. Eine Metaanalyse erfasste 9 randomisierte kontrollierte klinische Studien zu Cannabinoiden in der Schmerztherapie [Campbell, F. A., et al. Br. Med. J. 323, 13 – 16 (2001)]. 222 erwachsene Patienten waren an diesen Studien beteiligt. 5 Studien erfassten Patienten mit Tumorschmerzen, 2 Studien chronische nichtmaligne Schmerzen und 2 Studien Patienten mit postoperativen Schmerzen.
Orales Dronabinol, das in insgesamt 4 Studien eingesetzt wurde (5 bis 20 mg), war nicht stärker analgetisch als 60 bis 120 mg Codein. Nebenwirkungen, meist psychotrope, traten unter hoch dosierten Cannabinoiden gehäuft auf. Spastik war in diesen Studien kein Zielparameter.
Diese Studien stammen sämtlich aus den 70er-Jahren. Ein Vergleich zu heute etablierten Verfahren fehlt.
Und in Zukunft?
Beim akuten Schmerz sind Cannabinoide nach Ansicht von Priv.-Doz. Dr. Strumpf, Bremen, nicht indiziert: "Da gibt es bessere Strategien." Eine Chance haben Cannabinoide seiner Ansicht nach bei therapierefraktärer Spastik. Ob Cannabinoide sich bei chronischem neuropathischem Schmerz und chronischem nozizeptivem Schmerz eignen, müssen zukünftige Studien zeigen.
Strumpf äußerte die Hoffnung, dass andere Cannabinoide oder andere Applikationsformen mit weniger psychotropen Nebenwirkungen entwickelt werden.
Frau Dr. Azad, München, forderte, Cannabinoide nicht nur als Monotherapie, sondern als zusätzliche Therapie zu prüfen. Im Tierversuch zeigten Cannabinoide einen ausgeprägten Synergismus mit Opioiden.
Quelle
Dr. Birgit Kraft, Wien, Prof. Dr. Lukas Radbruch, Aachen, Dr. Shahnaz Azad, München, Priv.-Doz. Dr. Michael Strumpf, Bremen, "Pro und Kontra. Cannabinoide in der Schmerztherapie", Münster, 10. Oktober 2003, im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses 2203.
- Schmerzhemmung
- Appetitanregung
- Antiemesis
- Spasmolyse
- Erweiterung von Körperbewusstsein, Stimmungsänderung
- Gefühl der Zeitdehnung
- Desorientierung (zeitlich, räumlich)
- Störung des Kurzzeitgedächtnisses, kognitive Störungen
- Konjunktivalinjektion (= Sichtbarwerden feiner Gefäße in der Bindehaut), Mundtrockenheit, Schläfrigkeit
- Tachykardie, Blutdruckabfall
- Immunmodulation
Internationale Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin http://www.cannabis-med.org
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